11.05.2001

Auf Kundenfang im Internet

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Auf Kundenfang im Internet

Von MARC LAIMÉ und PHILIPPE RIVIÉRE *

TELEFON, Kabelfernsehen, Internet: Die neuen Kommunikationskonzerne überschwemmen die Privathaushalte. Gerald Levin, Generaldirektor von AOL-Time Warner, bringt es auf den Punkt: „Die Menschen brauchen unsere Produkte, um ihren Alltag in den Griff zu kriegen, und allen, die von ihrer entsetzlichen Langeweile befreit werden wollen, erzählen wir einfach Geschichten.“1 Um diese Geschichten zu empfangen, „wird es bald ein einziges Portal für Bilder, Multimedia, Internet und Ton in jedem Haus geben“, versicherte 1997 Jean-Marie Messier2 und beschrieb damit die Strategie, die die französischen Wasserwerke unter dem Namen Vivendi-Universal zum zweitgrößten Konzern auf dem internationalen Kommunikationssektor machte. Es reicht also nicht mehr, Musiker, Pressetitel, Verlage, Festnetz- und Mobiltelefongesellschaften, Satellitenkanäle, Spiel- oder Informationsplattformen zu sammeln. „Wenn man die Gewinne absichern will, muss man alle Ebenen beherrschen: Inhalte, Vermittlung und Kontakt zum Abonnenten“, analysiert Jean-Marie Messier.

Um optimalen Kontakt zum Kunden möglichst schon vom Kindesalter an aufzubauen3 , braucht man vor allem eine gute Datenbank und das entsprechende Know-how. Der Geschäftsprozess wird automatisiert und der Verkauf von Dienstleistungen durch das „Customer Relationship Management“ (CRM) ersetzt, das vorgibt, „dem Kunden nicht die Zeit zu stehlen“, also „ihn um seine Zustimmung bittet“ (Opt-in), bevor man ihn mit Werbung bombardiert – kurzum, eine fruchtbare und dauerhafte „Beziehung“ zu ihm herstellt.

Das CRM stützt sich auf riesige private Datenbanken, die von Marktforschern erstellt wurden. Die französischen Firmen Claritas, Consodata oder Cofinoga verschicken schon seit langem detaillierte Fragebogen über das Konsumverhalten an Mailboxen, Fragebogen, die mitunter mehr als 200 Fragen umfassen. „Consodata verfügt angeblich über persönliche Daten von 25 Millionen europäischen Konsumenten. Und vor kurzem hat die Firma eine Internetfiliale namens Yoptin gegründet, die bereits Verbraucherprofile von 1,1 Millionen europäischen Internetnutzern erstellt hat. Bis Ende 2001 sollen es 5 Millionen sein. Dabei bedient man sich des so genannten Opt- in4 : Man versucht die Internetkunden durch ein Gratisspiel oder eine Dienstleistung zur „freiwilligen“ Teilnahme zu bewegen.

In den USA hat die Firma Abacus bei etwa 1 100 Versandhäusern knapp 90 Millionen von Privathaushalten eingegangene Bestellungen gesammelt. Diese Datei hat sich DoubleClick, die führende Internet-Werbeagentur, 1999 unter den Nagel gerissen und ihre eigenen internetrelevanten Daten mit den von Abacus gelieferten Namen, Adressen und Angaben über das Konsumverhalten verknüpft. Der Protest, den diese Entscheidung bei den Verbänden der Internauten und Vereinigungen zum Schutz der persönlichen Freiheit ausgelöst hat, zwang die Gesellschaft immerhin, klein beizugeben und einen „Chief Privacy Officer“ zu ernennen, der dem Aufsichtsrat untersteht und für den „Schutz der Privatsphäre“ zuständig ist.

Dank der Errungenschaften der Informatik und der Vernetzung der Systeme macht die Analyse der persönlichen Daten (Datamining) sehr rasche Fortschritte. Die „Automatisierung der Verkaufsabteilung“ ermöglicht den Unternehmen den Zugriff in Echtzeit auf Informationen über die Konten der Partnerunternehmen, über deren Preise, Lagerbestände, Terminplanungen sowie Datensammlungen über potenzielle Kunden. Die gesamte Struktur des Unternehmens organisiert sich neuerdings um die Beziehung zum Kunden, wobei die Zahl der Kundenkontakte möglichst minimiert und gleichzeitig effizienter gestaltet werden soll. Kein einziges Telefonat, kein Brief, kein Gespräch, keine einzige E-Mail, keine Anfrage via Minitel oder Internet, die über die riesigen Callcenter laufen, darf dem CRM entgehen. Es geht darum, laufend aus einer Fülle von Daten ein Profil zu erstellen, also das Kaufkraftpotenzial jedes einzelnen Kunden zu erschließen: herauszufinden, wo, wann und warum er einkauft, diesem Profil entsprechend konkrete Ziele festzulegen, rentable Kunden auszuwählen, andere auszusortieren.

In Frankreich investieren die größten Konzerne (Axa, Société générale, BNP, AGF, die Versandhäuser etc.) massiv in diese Programme. „Alles, was am Verhalten eines Kunden auffällig ist, muss vom Computer erfasst werden und die Buchhaltung veranlassen, den Kunden sofort anzurufen“, erläutert eine Beraterin einem Journalisten der Zeitschrift Echos. „Ein perfektes System gestattet zudem, die Geschichte jedes Kunden zu ermitteln und während des Telefonats Vorschläge zu machen, die seinem Profil entsprechen: je nachdem, ob er verheiratet oder ledig ist, ob statistisch gesehen eine Übersiedelung oder ein Arbeitsplatzwechsel zu erwarten ist.“5

Der weltweit führende Anbieter für CRM, der amerikanische Konzern Siebel, verdoppelt jedes Jahr seinen Umsatz. Der 1993 gegründete Konzern zählt 6 000 Mitarbeiter, sein Marktwert wird derzeit auf 35 Milliarden US-Dollar geschätzt. „Die Industrialisierung der Verkaufsabläufe betrifft a priori alle Sektoren“, freut sich Laurent Carrière, ein europäischer Vertreter von Siebel, „Pharmabranche, Autoindustrie, Energiesektor oder Elektroindustrie“. Und er rechnet damit, dass demnächst der öffentliche Sektor den größten Markt darstellen wird, wobei er „in sozialdemokratisch regierten Ländern am größten ausfallen“ wird.6

Plastizität, Real-time-Analyse des Informationsrücklaufs, automatische Datensammlung: Das Internet wurde für die Marketingfirmen zum Experimentierzentrum für ihre Beziehung zum Kunden. Jede zufällig ans Netz gelieferte Adresse ist eine Goldgrube, wie Hervé Simonin, Generaldirektor beim Gratisinternetprovider Freesbee, schildert: „Wenn ein Abonnent eine Adresse mit seinem Browser anklickt, gleicht eine Software diese Adresse mit dem Material einer Suchmaschine vom Typus Yahoo! ab. Somit erfahren wir, welcher Kategorie diese Adresse zuzuordnen ist: allgemeine Informationen, CD-Verkauf etc. Und wir können ein genaues Kundenportät erstellen.“7

Eine andere Methode, das Kaufverhalten des Internetnutzers zu untersuchen, besteht darin, den Weg seiner Mausklicks zu verfolgen (Click-Stream Tracking). Dann werden die „Entscheidungen“ eines Nutzers mit ähnlichem Profil abgerufen, und so können die Unternehmen dem Verbraucher eine seinem Profil entsprechende Dienstleistung oder ein Produkt empfehlen. Die Kombination von Angaben aus Fragebogen und der Analyse des Konsumverhaltens ermöglicht ein sehr differenziertes Profil des Konsumenten. Der Handel mit persönlichen Daten musste sicher nicht erst auf das Internet warten. Aber dank E-Mail kann ein Unternehmer seine Werbung zu einem Bruchteil der herkömmlichen Postgebühren versenden und eine Riesenzahl von Individuen „persönlich“ ansprechen.

Die Verfechter des Permission Marketing verteidigen eine Gesellschaft, in der jede Werbung, die wir sehen, eine „erwünschte“, personalisierte Werbung ist, zugeschnitten auf das Profil, das wir freiwillig von uns erstellt haben. Die Formel birgt ein beträchtliches Potenzial: „Man erreicht durch solche Methoden Rücklaufraten von 25 Prozent, bei einer gewöhnlichen E-Mail liegen diese bei unter 0,01 Prozent. Zudem dürften CRM und Permission Marketing dem Unternehmer die kühnsten Träume erlauben. Er kann womöglich seine Preise „auf den Kunden“ zuschneiden. Ein Internetnutzer hat Amazon.com bereits bei einer derartigen „dynamischen Preisgestaltung“ auf frischer Tat ertappt. Nachdem er auf seinem Computer die Daten gelöscht hatte, die ihn als treuen Kunden der Site ausgewiesen haben, wurde ihm eine DVD für 22,74 US-Dollar angeboten, für die er zuvor noch 24,49 Dollar hätte zahlen sollen.

Eine Fülle von Techniken könnten rentabel werden, sobald sie auf einem interaktiven Handy eingesetzt werden. Bereits jetzt gibt es 700 Millionen SIM-Chips auf der ganzen Welt, mittels derer man den Handy-User verfolgen und ihm je nach seinem Standort (in der Nähe eines Einkaufszentrums, Vergnügungsparks etc.) gezielte Miniwerbebotschaften zukommen lassen kann – die so genannte Geolokalisierung. Ein weiterer Einsatzbereich firmiert als „Konsolidierung des Netzes“: Die Telekommunikationsgesellschaften interessieren sich für Bankgeschäfte und die Sicherung der Transaktionen und werden gigantische transnationale Allianzen eingehen.

Entscheidend wird dabei der gesetzliche Rahmen sein, in dem Handel, Austausch und Verwendung persönlicher Daten erfolgen. Dabei tobt derzeit eine wilde Schlacht zwischen den Anhängern der Selbstregulierung des Marktes (wie sie die USA vertreten), und der Europäischen Union, die gesetzliche Normen zum Schutz der Privatsphäre erlassen möchte, die in diesem Jahr in Kraft treten sollen. Im November 2000 wurde ein Kompromiss unter dem Namen „Safe Harbor“ geschlossen: In Ländern, die noch keine Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre getroffen hatten, sollen Unternehmen, die sich zu einem Verhaltenskodex verpflichten, der mit der europäischen Gesetzesnorm kompatibel ist, Profile europäischer Internetanwender weitergeben und empfangen dürfen.

Simon Davies, der Direktor der Londoner Organisation Privacy International, erkannte gleich nach Bekanntgabe dieses Kompromisses, dass die Vereinbarung eine Totgeburt war. „Sie hat überhaupt keine Chancen, denn niemand wird sich daran halten.“ Tatsächlich haben sich im März 2001 nur 33 amerikanische Unternehmen bereit erklärt, diese Vereinbarung auch in die Praxis umzusetzen. Zahlreiche Firmen ließen wissen, dass sie die Einhaltung dieser voluntaristischen Normen zu teuer käme und dass sie obendrein gezwungen wären, die gleichen Maßnahmen von ihrer amerikanischen Klientel einzufordern. Die Federal Trade Commission (FTC) hat angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der amerikanischen Sites die „Verhaltenskodizes“, denen sie sich angeblich unterwerfen, gar nicht befolgen, an den Kongress appelliert, per Gesetz vorzugehen. Doch mehrere führende Internetfirmen wie DoubleClick, AOL-Time Warner, Real Networks, E-Bay, Yahoo! oder Microsoft haben gegen diesen Versuch lautstark protestiert. In der Bush-Administration fanden sie ein offenes Ohr. Diese hatte in einem offenen Brief an die Europäische Kommission den Gesetzentwurf kritisiert, da er „grundlos schwere Beschränkungen auferlegt, die mit der tatsächlichen Praxis der Unternehmen nicht vereinbar sind“. Bill Tauzin, der Initiator dieser Position und Vorsitzende des Ausschusses für Handel und Energie im Repräsentantenhaus, ist davon überzeugt, dass diese Direktive „eines der größten Hindernisse für den freien Handel“ darstellt. Für die FTC wiederum beweist das Schreiben nur, dass der Administration „jegliches Verständnis für das Projekt“ zu fehlen scheint.8

Die intensiven gesetzlichen und diplomatischen Bemühungen können kaum verschleiern, dass juristische Regelungen den neuen Gegebenheiten in entscheidenden Punkten nur sehr schwer anzupassen sind. Das Platzen der Illusion Internet hat bereits einen neuen, sehr profitablen Markt geschaffen. In einem rechtsfreien Niemandsland wandern die Dateien mit persönlichen Daten, die häufig das einzige Kapital von in Konkurs gegangenen Start-ups darstellen, zwischen Weiterverkäufern und Direct-Marketing-Agenturen hin und her. Für ein „ausdifferenziertes“ Kundenprofil zahlt Amazon.com etwa 15 Mark. Eine einfache elektronische Adresse auf einer wenig renommierten Site bringt etwa eine Mark. Diese eher lächerlichen Beträge sind – multipliziert mit einigen Millionen oder Dutzenden Millionen von Abonnenten – der Grundstein für die Imperien, an denen die neuen Fürsten der Kommunikation gerade bauen.

dt. Andrea Marenzeller

* Marc Laimé ist Journalist.

Fußnoten: 1 The New York Times, 13. Januar 2001. 2 Le Monde, 21. Juni 2000. 3 Vivendi Universal Publishing lancierte im Februar 2001 das Portal „education.com“ sowie einen „elektronischen Schulranzen“. 4 William Coop, „Internautes, on vous vend!“, Newbiz, Paris, April 2001. 5 Constance Legrand, „L’infidélité galopante, casse-tête des fournisseurs de services“, Les Echos, 4. Januar 2000. 6 Catherine Maussion, „Achetez, vous êtes cernés?, Libération, 6. Oktober 2000. 7 Web Magazine, Paris, Oktober 1999. 8 Financial Times, London, 29. März 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von MARC LAIMÉ und PHILIPPE RIVIÉRE