11.05.2001

Die Fabrikation der Wünsche

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Die Fabrikation der Wünsche

Von IGNACIO RAMONET 

„Die Tätigkeit der Werbung ist der Perfektion nunmehr so nahe, dass es schwierig sein wird, Verbesserungen anzubringen.“ (Samuel Johnson, 1759)

ENTGEGEN einer landläufigen Annahme spinnt die Werbung nicht erst seit gestern ihre Fäden.1 Bereits im 12. Jahrhundert zogen vereidigte Ausrufer durch die Städte und verkündeten lauthals neue Verordnungen und sonstige Bekanntmachungen. Im 18. Jahrhundert entstanden mit der Erfindung der Lithografie die ersten Werbeplakate, die schon bald an Wänden und Bretterzäunen prangten. Richtig in Schwung kam die Maschinerie aber erst im 19. Jahrhundert, als sich die Werbung zu einem eigenständigen Markt entwickelte und die Spalten der Zeitungen und Zeitschriften mit Beschlag belegte.

„Bereits 1836 kam Émile de Girardin auf die Idee, seine auflagenstarke Tageszeitung La Presse mit Hilfe von Werbung zu finanzieren. Charles-Louis Havas, der 1832 die erste internationale Presseagentur gründete, erweiterte sein Geschäftsfeld bald darauf um das Angebot von Werbeflächen. 1865 machten Kleinanzeigen bereits ein Drittel des Zeitungsinhalts aus.“2 Um die Jahrhundertwende sahen sich die aus der industriellen Revolution hervorgegangenen Großunternehmen genötigt, ihre Absatzmärkte aktiv zu gestalten, um die unorganisierte Nachfrage zu stabilisieren.

Werbung galt fortan als langfristige Investition. Coca-Cola zum Beispiel wies bereits 1892 eines der größten Werbebudgets aus. Als der „Advertising Club of America“ das Getränk zwanzig Jahre später zum bestbeworbenen Produkt Amerikas erklärte, verteilten sich die Reklameaufwendungen der Firma wie folgt: Für 300 000 Dollar Anzeigen in Printmedien, 1 Million Kalender, 2 Millionen Aschenbecher, 5 Millionen Plakate und 10 Millionen Streichholzschachteln in den Markenfarben. Bereits damals visierte die Unternehmensleitung eine maximale Ausdehnung des Absatzmarkts an. „Durch Wiederholung lässt sich jeder Widerstand brechen. Steter Tropfen höhlt den Stein. Fortgesetztes Kauen genügt, um die Nahrung zu verdauen. Wer nur gezielt und ausdauernd genug zuschlägt, wird die Botschaft in den Kopf einhämmern“, skizzierte einer der Coca-Cola-Chefs die Werbestrategie seines Unternehmens.3

Die hohe Kunst der Überredung

MIT den neuen Medien des 20. Jahrhunderts – Kino, Radio, Fernsehen, Internet – breitete sich die Werbung explosionsartig aus, und sie wurde immer subtiler. Die Manipulation der Gemüter rückte förmlich zur Wissenschaft auf und drang bis in die Privathaushalte vor. Immer ausgefeiltere Überredungstechniken suchten die Mauer der allgegenwärtigen Geräuschkulisse zu durchbrechen, ungeachtet der wachsenden Werbeflut Aufmerksamkeit zu erlangen, das Misstrauen aufzuweichen und eine gezielte Botschaft in die Köpfe zu senken. Es wäre freilich ein Irrtum, die Konsumgesellschaft als bloßes Resultat einer Konspiration ausgebuffter Reklameprofis zu verstehen, die den Menschen die Fähigkeit zu selbstständigem Denken abkaufen und uns in einem Meer von glitzerndem Schund ertränken. So passiv sind die Bürger nicht. Erst kürzlich haben sie anlässlich diverser Lebensmittelkrisen den Beweis erbracht, wie aktiv und kritisch sie als Konsumenten sind.

Schätzungen zufolge wird in den Industrieländern jeder Mensch täglich mit 1 500 Reklamebotschaften bombardiert. Die französischen Fernsehsender strahlten 1999 insgesamt 500 000 Werbespots aus. Unter diesen Bedingungen hat eine einzelne Werbung kaum Chancen, überhaupt wahrgenommen zu werden. Eine Untersuchung bestätigt, dass 85 Prozent der Werbebotschaften ihre Zielgruppe zwar erreichen, aber trotzdem ins Leere gehen. Von den verbleibenden 15 Prozent sind 5 Prozent kontraproduktiv und erreichen das genaue Gegenteil des beabsichtigten Zwecks (Bumerangeffekt), sodass im Prinzip nur 10 Prozent die gewünschte Wirkung erzielen. Die Vergesslichkeit der Menschen reduziert diesen Anteil nach 24 Stunden abermals um die Hälfte. Im Endeffekt ergibt sich damit eine Verlustquote von 95 Prozent.

Wie verfährt die Werbung also, um uns wirklich zu erreichen? Einige Werbeprofis haben sich eine Methode einfallen lassen, die die Botschaft auf ein einziges, aber hoch wirksames Bild beschränkt. Dieses Verfahren, das mit „subliminalen“ Bildern arbeitet, macht die Werbung buchstäblich unsichtbar. In die rasche Bildfolge eines Films eingeblendet, der im Kino mit 24, im Fernsehen mit 25 Bildern pro Sekunde am Auge vorbeihuscht, hinterläßt das werbende Bild keine Spuren auf der Netzhaut. Das Auge sieht zwar die Information und das Gehirn speichert sie auch, aber unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Daher die Bezeichnung „subliminales“ Bild, abgeleitet vom Lateinischen „sub limen“: unter der Grenze.

Seit mehr als hundert Jahren versuchen Spezialisten herauszufinden, inwiefern ein flüchtiges Bild in der Lage ist, das Urteilsvermögen zu beeinflussen. 1957 experimentierte James Vicary in einem Kino in New Jersey mit „unsichtbarer Werbung“. Er spickte den Film „Picnic“ mit sechs Bildern von wenigen Zehntelsekunden Dauer, die die Zuschauer zum Konsum von Popcorn und Coca-Cola animieren sollten. Angeblich sei der Verkauf dadurch um 57,7 bzw. 18,1 Prozent gestiegen, doch später räumte Vicary ein, dass er die Untersuchung gefälscht hatte.

Wie real ist nun die Gefahr solch klammheimlicher Einflussnahme? Professor Philip Merikle von der kanadischen Waterloo-Universität meint: „Es gibt keinen Beweis dafür, dass subliminale Wahrnehmungen das Handeln beeinflussen.“4 Andere halten die Wirkung hingegen für erwiesen5 , und viele Bürger machen sich deswegen Sorgen, obwohl der Einsatz subliminaler Bilder als Rechtsverstoß gilt. Nach dem Wahlsieg von François Mitterrand im Jahr 1988 warf die Tageszeitung Le Quotidien de Paris dem wiedergewählten Staatspräsidenten Wählerbeeinflussung durch subliminale Bilder vor, die im Vorspann der Nachrichtensendung von „Antenne 2“ auftauchten. Ein Prozess wegen „Wählermanipulation“ wurde angestrengt, den die Kläger verloren. Allerdings beschloss die Vorgängerorganisation des heutigen „Höheren Rats für audiovisuelle Medien“ (CSA), derartige Methoden generell zu verbieten.

In den Vereinigten Staaten trat im Mai 2000 eine Bürgervereinigung mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, der Film „Battlefield Earth“ nach einem Roman von Scientology-Gründer Ron L. Hubbard, mit John Travolta in der Hauptrolle, enthalte subliminale Bilder, die den Zuschauer motivieren sollen, der Organisation beizutreten. Im September vorigen Jahres musste der republikanische Präsidentschaftskandidat George W. Bush einräumen, dass einer seiner Wahlkampfspots ein subliminales Bild enthielt. Der Spot attackierte das Programm seines Gegners Al Gore. Über dem Konterfei des demokratischen Kandidaten erschien zunächst der Satz: „The Gore Prescription Plan: Bureaucrats Decide“ („Der Goresche Plan für Arzneimittel-Rezepte bedeutet: Die Bürokraten entscheiden“). Anschließend lösten sich die letzten vier Buchstaben von „Bureaucrats“ aus dem Wort und füllten in Großbuchstaben das gesamte Bild: Eine dreißigstel Sekunde lang erschien auf schwarzem Hintergrund der Schriftzug „Rats“.6 Der Skandal war groß, doch Spotproduzent Alex Castellanos und Bushs Medienberater Mark McKinnon bestritten, die inkriminierten Ratten in die Bilderfolge eingebaut zu haben. Die Medien ließen nicht locker, und so blieb Bush keine andere Wahl, als den Spot zurückzuziehen.

Da sich die Werbung als „Kunst der Überredung“ versteht, ist jede ihrer Botschaften bis ins Letzte durchdacht. Vor allem der Blick der Verbraucher interessiert die Werbemanager. Manchmal testen sie die Wirkung des werbenden Bildmaterials daher mit der so genannten Augenkamera. Dabei hält ein hauchdünner auf das Auge der Testpersonen gerichteter Lichtstrahl die Pupillen- und Augenbewegung fest. Die anschließende statistische Analyse ermittelt, was ihre Aufmerksamkeit fesselt und was sie übersehen. Ein erheblicher Forschungsaufwand wird hier betrieben, an dem Spezialisten der unterschiedlichsten Fachrichtungen beteiligt sind: Soziologen, Psychologen, Semiologen, Linguisten, Grafiker und Dekorateure. Angesichts dieses versammelten Sachverstands kommentierte Marshall McLuhan: „Mit den Reklamespezialisten können es die Sozialforscher nicht aufnehmen. Die Werbewirtschaft wendet jährlich viele Milliarden Dollar auf, um die Reaktionen ihrer Adressaten zu erkunden und zu untersuchen. Ihre Arbeiten sind eine breite Datensammlung über die Erfahrung und die Gefühle der Menschen in unserer Gesellschaft.“7

Bevorzugte Zielgruppe sind die Kinder. Nach Schätzungen des französischen Verbands der Fernsehwerbung gab die Industrie 1999 über eine Milliarde Francs für Werbespots aus, die sich an Kinder unter 14 Jahren wenden. Das „Institut de l’Enfant“ schätzt, dass rund 45 Prozent der Konsumausgaben von Familien mehr oder weniger unmittelbar durch die Wünsche der Kinder beeinflusst sind – eine Summe von jährlich 500 bis 600 Milliarden Francs. Institutspräsident Joël-Yves Le Bigot: „Die Meinung der Vier- bis Zehnjährigen gibt vor allem bei Lebensmitteln, Süßigkeiten, Kleidung und Spielzeug den Ausschlag, sie beeinflusst zu 18 Prozent aber auch den Autokauf und zu 40 Prozent die Wahl des Urlaubsorts.“8

Die Werbung verspricht stets dasselbe: Wohlbefinden, ein angenehmes Leben, Leistungsfähigkeit, Glück, Erfolg. Sie winkt mit dem Versprechen auf Befriedigung, verkauft Träume, lockt mit symbolischen Abkürzungen auf dem Weg zum sozialen Aufstieg. Sie fabriziert Wünsche und präsentiert eine Welt des ewigen Urlaubs, ein Land des Lächelns und der Unbeschwertheit, in dem die Menschen frei und schön, sauber und gesund, begehrenswert und modern sind.

Die Werbung verkauft einfach alles an alle. Als sei die Massengesellschaft keine Klassengesellschaft. „Im Kontrast zur beängstigenden Wirklichkeit, die das Fernsehen ins Haus bringt, evoziert die Werbung eine Idealwelt, gereinigt von aller Tragik, ohne unterentwickelte Länder und Atombombe, ohne Bevölkerungsexplosion und Krieg, eine unschuldige Welt, freundlich, licht, optimistisch und paradiesisch.“9

Mit Marx und Mao werben

UNENTWEGT wiederholt und überspitzt die Werbung die großen Mythen unserer Zeit: Modernität, Jugend, Glück, Freizeit, Überfluss. Die Frau zum Beispiel bleibt dabei gefangen in einer Sprache, die sie in der Regel als Lustobjekt oder häusliches Wesen beschreibt. Sie wird bedrängt, man macht ihr Schuldgefühle, zieht sie für den Schmutz im Haus zur Rechenschaft, für die Falten in ihrem Gesicht und die Gesundheit ihrer Kinder, für die kulinarische Zufriedenheit ihres Mannes und den sparsamen Umgang mit dem Haushaltsgeld. Ob im Büro oder in der Küche, am Strand oder unter der Dusche, in jeder Lebenslage unterliegt sie dem prüfenden Blick des Mannes. „Emanzipiert“ sie sich durch außerhäusliche Arbeit, ist er da und wacht über die Bräune ihrer Haut, den Geruch ihrer Achseln, die Farbe ihrer Strumpfhose.

Wie der Soziologe Pierre Kende zu Recht bemerkt, wendet sich die Werbung „an das Intimste und Geheimste im Menschen, sie beutet seine verrücktesten Wünsche, Eitelkeiten und Hoffnungen aus, sie spricht ihn in der Sprache des Erfolgs an, verheißt ihm Erlösung von seinen Problemchen und Wehwehchen, erteilt ihm die Absolution für alles, was ihm unbequeme Schuldgefühle bereiten mag.“10 Die Werbung lenkt ab und amüsiert, aber sie informiert nicht. „Die Kunst der Werbung besteht vor allem darin, überzeugende Aussagen zu erfinden, die weder wahr noch falsch sind“, schreibt Daniel J. Boorstin.11 Und Neil Postman ergänzt: „Man kann eine Werbung mögen oder nicht mögen; widerlegen kann man sie nicht.“12

Der Vietnamkriegsgegner William Zimmermann ist der Auffassung, dass man ruhig die Techniken der Werbung einsetzen könne, um sich Gehör zu verschaffen: „Der fortschrittlichen Klasse in Amerika bleibt keine andere Wahl: Entweder sie wird durch das System zerstört, oder sie zerstört das System mit seinen eigenen Waffen.“13 Das ist natürlich leichter gesagt als getan, denn das Prinzip der Werbung besteht gerade darin, alles und jedes zu recyceln, die Rebellen eingeschlossen. So tauchten in der Werbung für die „Internet-Revolution“ in letzter Zeit Symbole wie Hammer und Sichel (Selftrade) oder die Konterfeis revolutionärer Führer wie Marx (UFF-Bank), Lenin (Liberty Surf), Mao (UFF-Bank), Zapata (Liberty Surf) und Che Guevara (Liberty Surf) auf. Frédéric Beigbeder schreibt dazu: „Frühere Diktaturen fürchteten die Meinungsfreiheit, sie zensierten den Protest, kerkerten Schriftsteller ein, verbrannten umstrittene Bücher. [. . .] Die Werbung kommt auf leisen Sohlen und beweist eine unendlich flexible Überredungskunst, um die Menschheit auf den Stand der Sklaverei zu reduzieren. Wir leben erstmals in einem Herrschaftssystem, gegen das selbst die Freiheit sich als ohnmächtig erweist. Im Gegenteil, Freiheit ist sein eigentliches Lebenselixier, seine genialste Erfindung. Jede Kritik stärkt seine Position und verfestigt den illusionären Glauben an seine süßliche Toleranz. Kein System unterwarf sich die Menschen bisher mit solcher Eleganz. Das Ziel ist erreicht: Selbst Ungehorsam ist nur noch eine Form des Gehorsams.“14

Die Werbung ist ein großer Vereinfacher. Sie gaukelt den Menschen ein schematisch verdichtetes Bild vom Leben vor und diktiert ihnen ihre stereotypen Wünsche – auf dass sie ihre Knechtschaft auch noch gutheißen.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Vgl. die Austellung „250 ans de publicité“ im Musée de la Publicité, 107, rue de Rivoli, 75001 Paris (läuft bis zum 14. Oktober 2001). 2 Libération, 24. März 2001. 3 Dazu Richard S. Tedlow, „New and improved: The story of mass marketing in America“, New York (Basic Books) 1990. 4 Ebenda. 5 Dazu „Propagandes silencieuses“, Paris (Galilée) 2000. 6 International Herald Tribune, Paris, 13. September 2000. 7 Marshall McLuhan, „Understanding Media“, New York (New American Library) 1964. 8 Télérama, Paris, 12. April 2000. 9 Louis Quenel in Communication 17, Paris (Seuil) 1971. 10 Communication 17, Paris (Seuil) 1971. 11 Zit. n. Jean Baudrillard, „La société de consommation“, Paris (Gallimard) 1978. 12 N. Postman, „Wir amüsieren uns zu Tode“, Frankfurt (Fischer) 1999. 13 Le Monde, 4. Mai 1980.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von IGNACIO RAMONET