11.05.2001

Impfung – ein umstrittenes Patentrezept

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Impfung – ein umstrittenes Patentrezept

Von JEAN-PHILIPPE CHIPPAUX *

Dass Meningitis in Afrika gehäuft im Frühjahr auftritt, hat mit dem dortigen Klima zu tun. Zu dieser Jahreszeit nämlich belastet der Harmattan, ein sehr trockener, staubhaltiger Wind, die Atemwege der Menschen und befördert die Tröpfcheninfektion. 30 000 Erkrankungen, darunter 3 500 mit tödlichem Ausgang, waren in diesem Jahr schon bis April registriert, und in neun Ländern gilt die Krankheit offiziell als Epidemie: Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Kamerun, Niger, Nigeria, Senegal, Tschad und Zentralafrika. Bis heute jedoch konnten sich die staatlichen Behörden und Gesundheitseinrichtungen nicht auf ein Konzept zur effektiven Bekämpfung der Krankheit einigen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat beschlossen, Reihenimpfungen vorzunehmen – jedoch erst, wenn die Erkrankung offiziell als Epidemie eingestuft ist. Dabei unterstellen sie, dass sämtliche Krankheitsfälle mit Hilfe eines wirksamen und raschen Informationssystems der Gesundheitsbehörden in einem frühen Stadium erfasst werden. Die Obergrenze, von der an die Erkrankung offiziell als Epidemie gilt, soll gemäß dieser Strategie zum einen niedrig angesetzt werden, sodass frühzeitig interveniert werden könnte, und zum anderen eindeutig festgeschrieben sein, um falschen Alarm zu vermeiden, der die armen Staaten ruinieren könnte. Die Strategie der WHO läuft darauf hinaus, abzuwarten, bis es brennt, um dann die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Die WHO lässt dabei im Übrigen völlig außer Acht, dass Impfen prinzipiell keine Therapie, sondern eine Präventivmaßnahme ist und dass es zwei bis drei Wochen dauert, bis die Antikörper eine wirksame Schutzfunktion entwickelt haben.

Bereits 1997 haben Fachleute diese zögerliche und aussichtslose Politik heftig kritisiert.1 Sie verwiesen insbesondere darauf, dass zwischen zwei und acht Wochen vergehen, bis Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit so umgesetzt sind, dass sie auch greifen – und in der Zwischenzeit erkranken viele Menschen neu. So etwa letztes Jahr im nigerianischen Niamey: Zwischen dem offiziell erklärten Ausbruch der Meningitisepidemie und dem Eintreffen des Impfserums wurden wöchentlich zweihundert neue Krankheitsfälle registriert.

Dieser Zeitverzug ist nicht dem mangelhaften Informationssystem der Gesundheitsdienste anzulasten, denn dieses funktioniert in den meisten betroffenen Staaten ganz gut. Aber es ist Aufgabe der Politik, zu erklären, wann der Tatbestand der Epidemie gegeben ist. Dies jedoch zögern die Regierungen oftmals möglichst lange hinaus, weil sie die katastrophalen Auswirkungen für Handel, Diplomatie und Tourismus fürchten. So wird die Epidemie in Ländern mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil während der Zeit der Pilgerreisen nach Mekka (also im Frühjahr) in aller Regel verschwiegen.

Meist jedoch sind es einfache logistische Probleme, die im Vorfeld leicht zu lösen wären, in der Praxis aber die Umsetzung der gesundheitspolitischen Maßnahmen verzögern: Die Finanzierung muss gesichert sein, bei Bestellung und Transport von Impfstoff kommt es häufig zu Problemen, die Organisation der Impfkampagnen klappt nicht . . . Nicht selten führt der große Zeitdruck zu Koordinationsfehlern: Oft ist der Impfstoff geliefert worden, aber es fehlt an Spritzen, und immer wieder müssen aus Zeitnot oder weil skrupellose Zwischenhändler im Spiel sind Höchstpreise bezahlt werden.

Um Abhilfe zu schaffen, hatte die WHO im Januar 1997 die Internationale Koordinationsgruppe (International Coordination Group/ICG) gegründet. Diese sollte den Bedarf an Impfstoff und Impfmaterialien ermitteln und im Bedarfsfalle die Lieferung organisieren. Der ICG gehörten Vertreter unterschiedlichster Organisationen an: Die WHO war vertreten, die Unicef, das Rote Kreuz, der Rote Halbmond, Ärzte ohne Grenzen, die US-amerikanischen Centres for Diseases Control (CDC), diverse mit der WHO zusammenarbeitende Gesundheitszentren und auch Vertreter der Pharmaindustrie. Die ICG sollte einen Serumvorrat anlegen und verwalten, der in pharmazeutischen Labors gelagert würde und im Bedarfsfall sofort einsatzbereit wäre. Auf diese Weise sollten beim ICG alle Bestellungen zentral eingehen und dadurch ein Engpass wie der im Jahr 1997 verhindert werden. Damals war nach den großen Epidemien des Vorjahres kein Impfstoff auf dem Weltmarkt mehr zu bekommen gewesen.2

Jedoch erwies sich das Impfstofflager bald als Hirngespinst. Es fehlte an Geldgebern, weshalb die ICG den afrikanischen Gesundheitsbehörden wie ein überflüssiges Zwischenglied vorkam. Bei den vor Ort mit der Epidemiebekämpfung befassten Organisationen und Gesundheitseinrichtungen fiel bald auf, dass man besser daran tat, dieses komplizierte System zu umgehen und sich direkte Finanzhilfen zu suchen. Die Hersteller der Impfstoffe wiederum griffen, um den unkoordinierten und oftmals dringenden Bestellungen nachzukommen, weiterhin auf ihre eigenen Bestände zurück, und zwar häufig, ohne die ICG zu unterrichten.

Die Lage wird weiter erschwert durch die mangelnde Abstimmung unter den Beteiligten. So trägt die Europäische Union – mehr oder weniger direkt – die Hälfte der Kosten für den Kampf gegen die Ausbreitung von Hirnhautentzündung in Afrika, doch war sie an den gesundheitspolitisch konzeptionellen Entscheidungen nie beteiligt. Eine wichtige Rolle dagegen spielen beispielsweise die Spezialisten vom CDC in Atlanta, obwohl sie weder zu den Gebern gehören noch als Hilfsorganisation, ja nicht einmal als Beobachter tätig sind.

Freilich gäbe es eine andere, wesentlich wirksamere Strategie, bei der das Impfen seine eigentliche Funktion wiedererlangen würde: die systematische Schutzimpfung. Sie böte nicht nur den Vorteil der Prävention, sondern ermöglichte es überdies, dass die zu impfenden Menschen an den Kosten beteiligt werden könnten. Eine solche Selbstbeteiligung geht in die Richtung der „Initiative von Bamako“, die auf der WHO-Konferenz in Mali vor zwanzig Jahren verabschiedet wurde. In dieser Konzeption gilt die finanzielle Mitverantwortlichkeit als Garant für die Wirksamkeit von Vorsorgemaßnahmen gegen endemische Krankheiten in unterentwickelten Ländern.

Kritiker behaupten, dies sei eine „schöne Idee, die zu nichts führt“. Dennoch lässt sich feststellen, dass auch arme Familien bereit sind, die Meningitisimpfung ihrer Kinder zu bezahlen, und dass dort, wo diese Strategie verfolgt wurde, die Epidemien zunächst in größeren Zeitabständen auftraten und schließlich deutlich zurückgingen. In Nordbenin beispielsweise wurde nach der letzten Epidemie im Jahre 19893 mit der Schutzimpfung begonnen und seither keine neue Krankheitswelle registriert, die das Ausmaß der Epidemien in den Nachbarländern Burkina Faso, Niger, Nigeria und Togo erreicht hätte. In Niamey, der Hauptstadt von Niger, hatte in den Jahren 1980 bis 1988 eine große Schutzimpfungskampagne dazu geführt, dass bis 1995 keine nennenswerten massenhaften Erkrankungen auftraten (die Epidemie von 1986 blieb auf die Provinz begrenzt).4 Dass dann 1995 wieder eine verheerende Epidemie ausbrach – mit 43 200 registrierten Fällen – hat seine Ursache in der Strukturanpassungspolitik, in deren Rahmen Budgetkürzungen vorgenommen und die Impfkampagne ausgesetzt wurde.

Die Expertenmeinungen über die Kosten der jeweiligen Strategie gehen weit auseinander; zuverlässige Untersuchungen, die der einen oder anderen Seite eindeutig Recht geben würden, gibt es nicht. Dennoch wird die Gesamtzahl der Impfungen vermutlich etwa die Gleiche sein, wobei freilich eine systematische Schutzimpfung den Vorzug einer gleichmäßigeren Kostenverteilung bietet. Bedenkt man die vielen hundert Opfer, die durch eine systematische Prävention vermieden werden könnten, so erscheinen die Auseinandersetzungen über den richtigen Schwellenwert oder die Organisation von Impfkampagnen ohnehin absurd.5 Seit März dieses Jahres treten wieder gehäuft Fälle von Hirnhautentzündung auf, die – wie auch im März des vergangenen Jahres – als Vorboten einer erneuten Krankheitswelle zu sehen sind.6 Damit bewahrheiten sich die Befürchtungen all jener, die von der Notfallimpfung nicht viel halten.

Ein neuer Impfstoff, der derzeit am Forschungszentrum für Meningitis und Schistosomiasis von Niamey erprobt wird, könnte eine völlig neue Situation schaffen. Dieses hoch wirksame Präparat würde es erlauben, auch Säuglinge zu behandeln, die mit dem derzeit auf dem Markt befindlichen Serum nur ungenügend geschützt werden können. Und es könnte künftig einfach in das Programm der routinemäßigen Kinderschutzimpfungen mit aufgenommen werden. Zwei Optionen zeichnen sich ab: Würde der Impfstoff nur für den wenig lukrativen afrikanischen Markt entwickelt, so wäre er auch nur gegen die dort vorherrschenden Meningitistypen (die vom Bakterienstamm der Meningokokken ausgelöst werden) wirksam. Wenn er allerdings auch für die Industriestaaten hergestellt würde, wo mehr Rendite lockt, so müsste er auch gegen solche Erregertypen schützen, die außerhalb von Afrika auftreten. Dies würde die Kosten nach oben treiben, was für die Vereinigten Staaten oder Europa kein Problem darstellt, für den afrikanischen Kontinent jedoch das Risiko birgt, dass das neue Medikament unbezahlbar wird.7

Das derzeit verwendete Impfserum ist erschwinglich (um die sechzig Pfennig). Das neue Serum wird frühestens in drei Jahren auf den Markt kommen und dürfte zehnmal so viel kosten. Die Idee, beide Impfstoffe parallel einzusetzen und unterschiedliche Maßnahmestrategien mit unterschiedlichen Kosten zu verfolgen, stößt nicht auf ungeteilte Zustimmung. Und vielleicht hat auch einfach die Konkurrenz der beiden Produkte den Streit um die Frage, wie die Meningitis einzudämmen sei, wieder angefacht.

Aber obwohl die Auseinandersetzung immer weitere Kreise zieht, bleiben die Vorbehalte gegen eine Richtungsänderung in der Gesundheitspolitik vehement. Einige Pharmakonzerne begrüßen eine systematische Schutzimpfung unter der Bedingung, dass deren Durchführung gut organisiert und sämtliche Finanzierungsmodalitäten klar definiert sind. Sie schlagen sogar vor, mit dem gegenwärtigen Serum zu testen, ob eine Schutzimpfung gegen Hirnhautentzündung mit Meningokokken möglich ist – nach dem Vorbild der in den Industrieländern empfohlenen Impfung von Säuglingen gegen Haemophilus influenzae B.8 Eine flächendeckende Impfkampagne könnte an unterschiedlichen Orten durchgeführt werden, in Schulen und Gesundheitszentren, aber auch auf Märkten, sodass die Zielgruppen – also in erster Linie Kinder unter fünfzehn Jahren – gut erreicht würden.

Dabei bleibt die Finanzierung einer solchen Maßnahme freilich ein heikles Thema. Die Unicef fordert, dass Kinderschutzimpfungen für die Familien prinzipiell kostenlos bleiben; das heißt, eine Kostenbeteiligung nach dem Modell der „Initiative von Bamako“ wäre in diesem Falle nicht möglich. Darüber hinaus lassen sich internationale Hilfszahlungen stets leichter rechtfertigen, wenn es um die Eindämmung einer Epidemie und nicht bloß um deren Prävention geht. Das dürfte bei manchen Hilfsorganisationen ganz ähnlich sein, die hauptsächlich dann in Erscheinung treten, wenn es um konkrete, einmalige Impfaktionen geht. An Routinemaßnahmen, die überwiegend in den Aufgabenbereich der nationalen Gesundheitsbehörden fallen, könnten sie sich nicht beteiligen.

Wenn es mit den Schutzimpfungen nicht richtig vorangeht, so liegt das an der unsicheren Finanzierung, an der Schwierigkeit, ein dauerhaftes und beständiges Impfsystem aufzubauen, und an der mangelnden Aufmerksamkeit der Medien. Das System der Notfallimpfungen hat jedoch den gefährlichen Nebeneffekt, dass die Länder, in denen Meningitis sich immer wieder ausbreitet, von ihren gewohnten Partnern abhängig bleiben. Freilich sieht es ganz danach aus, als kämen dabei alle auf ihre Kosten – vielleicht mit Ausnahme der Bevölkerungen.

dt. Passet/Petschner

* Forscher am Institut de recherche pour le développement (IRD), Dakar.

Fußnoten: 1 John B. Robbins et al., „Love’s labours lost: failure to implement mass vaccination against group A meningococcal meningitis in Sub-Saharan Africa“, The Lancet, London, 1997, Nr. 350. 2 WHO, „Riposte à la méningite épidémique en Afrique“, Relevé Epidémiologique Hebdomadaire, Genf, 1997, Nr. 72. 3 J. Hassan et al., „Meningococcal immunisation and protection from epidemics“, The Lancet, 1998, Nr. 352. 4 Jean-Philippe Chippaux et al., „Preventive Immunisation Could Reduce the Risk of Meningococcal Epidemics in the African Meningitis Belt“, Annals of Tropical Medicine and Parasitology, Liverpool, 1999, Nr. 93. 5 WHO, Relevé épidémiologique Hebdomadaire, op. cit., September 2000, Nr. 75. 6 Im März 2000 registrierte man eine große Zahl von Erkrankungen in Tschad, Benin, Niger, Nigeria, Burkina Faso und Äthiopien. 7 Siehe Philippe Demenet, „Die Schlacht um Pillen und Patente“, Le Monde diplomatique, März 2001. 8 Ein anderes Bakterium, das für eine nicht epidemische Form der Meningitis bei Säuglingen verantwortlich ist.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von JEAN-PHILIPPE CHIPPAUX