11.05.2001

Soll denn das Schwert ohn‘ Ende fressen?

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Soll denn das Schwert ohn‘ Ende fressen?

Von AMNON KAPELIUK *

Die Wahlplakate sind fast verschwunden, abgerissen oder vom Regen heruntergewaschen. Überall in Israel war der „neue Scharon“ mit dem Slogan präsentiert worden: „Nur Scharon wird den Frieden bringen“. Hier und da sieht man es noch, das Konterfei jenes selbstsicher lächelnden Mannes, und den Passanten könnte die Frage kommen: „Wann kommt er, der viel versprochene Frieden?“

In diesem Frühjahr, das der Vorbote eines stürmischen Sommers ist, fragt man sich in der israelischen Öffentlichkeit besorgt, wie es – vor allem nach dem Angriff auf eine syrische Radarstation im Libanon am 15. April – in den Beziehungen zu den Nachbarländern und den Palästinensern weitergehen soll. Viele Israelis gewinnen bereits den Eindruck, dass ihr neu gewählter Regierungschef doch nur der „alte Scharon“ ist und dass er nichts anderes unternimmt, als was er schon immer getan hat: Krieg führen, Schlachten schlagen, Tod und Zerstörung bringen.

Die Karriere des neuen alten Mannes begann mit dem Massaker von Kibié, einem Dorf im Westjordanland. Hier jagte im Oktober 1953 eine von Scharon befehligte Einheit einige Häuser samt ihren Bewohnern in die Luft. Siebzig Tote blieben zurück. Anfang der Siebzigerjahre machte Scharon dann erneut durch die standrechtliche Erschießung hunderter „gesuchter Personen“ in Gasa von sich reden, 1982 spielte er eine zentrale Rolle bei der Invasion im Libanon und den Massakern von Sabra und Schatila.

Scharon legt inzwischen selbst Wert auf den Eindruck, dass er sich nicht gewandelt hat. Kürzlich wurde er in einem Interview1 nach den künftigen Beziehungen mit der arabischen Welt gefragt, und zwar in den Worten eines Verses aus dem Alten Testament (2. Buch Samuel): „Soll denn das Schwert ohn’ Ende fressen?“ Scharons Antwort: „Ein normales Volk stellt solche Fragen nicht.“ Der Journalist hakte nach: „Sie wollen also nicht Israels de Gaulle werden?“ Scharon: „Wozu? Es geht doch nicht darum, irgendein Papier zu bekommen. Das kann ich Ihnen jede Woche besorgen. Aber was bringt das? Gar nichts.“ Und dann erklärte Scharon, der israelische Unabhängigkeitskrieg von 1948 sei noch immer nicht zu Ende . . .

Drei Ziele hat Scharon dem israelischen Volk vorgegeben: innerhalb von zwölf Jahren eine weitere Million Juden ins Land holen; Entwicklungsprojekte im Negev (Süden) und in Galiläa (Norden) vorantreiben; eine Renaissance der zionistischen Werte einleiten. Der Frieden kommt auf dieser Prioritätenliste nicht vor. Scharon sagt es selbst: „Ich glaube nicht, dass man ein so hoch gestecktes Ziel verfolgen muss. Es reicht schon, wenn es einen Nichtangriffspakt gibt, für eine unbestimmt lange Zeit.“ Ein Sparta der Gegenwart – das ist offensichtlich die Vorstellung, die Präsident Scharon von seinem Staat im Kopf hat. Mangelnde Offenheit kann man ihm jedenfalls nicht vorwerfen.

Am liebsten würde Scharon Israel in die Ära vor den Oslo-Verträgen (von 1993) zurückführen, als der Frieden noch nicht auf der Tagesordnung stand und alle Anstrengungen sich auf die Besiedlung der besetzten Gebiete richteten. Er hat bereits erklärt, er werde keine einzige Siedlung aufgeben, auch nicht die entlegenste, denn jede einzelne sei „für die nationale Verteidigung von enormer Bedeutung“. Den Aufbau eines lebensfähigen Staates an der Seite des Staates Israel lehnt Scharon ab. Als die palästinensische Führung die Oslo-Verträge unterzeichnete, war das ein schmerzhafter Kompromiss: Sie begnügte sich mit etwa 22 Prozent des historischen Palästinas der Mandatszeit (mit dem 1967 von Israel besetzten Westjordanland und dem Gasastreifen). Aber Scharon will ihnen auch von diesem Gebiet nur ungefähr 40 Prozent überlassen, und dies auch noch als Flickenteppich isolierter Gebietseinheiten, die etwa durch Tunnel verbunden werden könnten. Israel will die Kontrolle über Jerusalem und das Jordantal behalten (wo ein künftiger Palästinenserstaat eine große Zahl von Flüchtlingen wieder ansiedeln könnte) und natürlich weiterhin die Grenzen zu den Nachbarstaaten überwachen.

Um diese Ziele zu erreichen, verfolgt der neue israelische Ministerpräsident einen Zweistufenplan. Den ersten Schritt, noch ganz im Einklang mit den Absichten seines Amtsvorgängers Ehud Barak, kennzeichnet ein Journalist wie folgt: „Militärschläge gegen Arafat, um ihn zu schwächen und sein Ansehen bei den Palästinensern zu schmälern.“2 Dabei geht es nicht um spektakuläre Aktionen, die Israel nur internationale Kritik einbringen würden, sondern um ein Vorgehen, wie es jetzt täglich zu beobachten ist: Stellungen und Stützpunkte des palästinensischen Militärs werden durch Panzerbeschuss oder mit Planierraupen zerstört, Scharfschützen töten zentrale Funktionsträger des Regimes – Militärs, Funktionäre der Autonomiebehörde oder Aktivisten der Fatah –, dutzende Häuser in einem Flüchtlingslager in Gasa werden eingerissen, Felder verwüstet, Bäume entwurzelt; und natürlich werden die palästinensischen Städte und Dörfer abgeriegelt, was den Alltag der Palästinenser fast unerträglich macht. Die zerstörerische Phantasie kennt offenbar keine Grenzen. An das Militär hat Scharon die Parole ausgegeben: „Nicht reden, sondern handeln. Und zwar jeden Tag.“

Gleichzeitig läuft eine Hasskampagne gegen Jassir Arafat, die seinen Ruf schädigen und seine Stellung schwächen soll. Diese Attacken begannen, nachdem Arafat im Juli 2000 nicht bereit gewesen war, das Diktat von Camp David zu akzeptieren.3 Scharon hat Arafat als „Terroristenführer“ bezeichnet, und einige Minister, die extremistischen Parteien angehören, fordern ganz offen „die Liquidierung von Arafat“.

Frieden – ein absurder Gedanke

ANDERE Minister schlagen vor, ihm die Rückkehr in die Autonomiegebiete zu verwehren. Wochenlang durfte Arafat seinen Hubschrauber nicht benutzen und war auf eine Maschine des jordanischen Königs Abdallah angewiesen. Im November 2000 hat Scharon noch einmal klar gemacht, was er von Arafat hält: Er nannte ihn einen „Mörder, Lügner und unversöhnlichen Feind“. Für ihn sei es „eine absurde Vorstellung, mit den Palästinensern Frieden zu schließen“. So las man es zwei Wochen vor den Wahlen. Scharon hat diese Äußerung nie dementiert.4

Die zweite Phase in Scharons Aktionsplan soll beginnen, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde kurz vor der Auflösung steht – dann will er Arafat ein Langzeitabkommen nach seinen Vorstellungen aufzwingen. Gegen Bedenken von verschiedenen Seiten verwahrt er sich mit dem Hinweis: „Solange ich Ministerpräsident von Israel bin, wird es für die Palästinenser keine andere Wahl geben.“ Die Vorstellung, dass man die Welt mit Gewalt verändern könne, hat Scharon nie aufgegeben. Während der Libanon-Invasion von 1982 plante er, die PLO völlig zu vernichten und in den besetzten Gebieten eine mit Israel kollaborierende Führung (die so genannten Dorfligen) einzusetzen. Diese Strategie scheiterte damals komplett: Arafat kehrte in seine Heimat zurück und wurde Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde. Doch derselbe Scharon setzt heute erneut auf gewaltsame Lösungen.

Um seinen aktuellen Plan durchzuführen, muss Scharon eine Reihe von Faktoren einkalkulieren: die israelische Innenpolitik, Europa, die arabische Welt und nicht zuletzt die Haltung des Partners USA. Der Unterstützung durch die Mehrheit der Israelis kann er sich gewiss sein: Nach einer Umfrage glauben 63 Prozent der Befragten nicht an das Zustandekommen eines Friedensabkommens mit den Palästinensern.5 Sogar die linke Opposition hat sich hinter Scharon gestellt, und Jossi Sarid, der Führer der Meretz-Partei, spricht immer wieder von dem „Fehler Arafats“, die großzügigen Angebote von Camp David ausgeschlagen zu haben. Diese Analyse, die von Ehud Barak stammt, wird von fast allen führenden Politikern und von der Mehrheit der Intellektuellen geteilt.

Anderer Meinung ist allerdings Schimon Schiffer von der Tageszeitung Yedioth Aharonoth, einer der prominentesten politischen Kommentatoren des Landes, der Ehud Barak auf allen Reisen begleitete und die Hintergründe seiner Politik kannte. Er erklärte kürzlich, der damalige Premier habe der Sache des Friedens irreparablen Schaden zugefügt und „ein Trümmerfeld“ hinterlassen. Es sei gerade Barak gewesen, der unter den Israelis die Ansicht bestärkt habe, die Palästinenser seien „Extremisten, die nur die Konfrontation suchen“.

Am 28. September war Scharon unter dem Schutz von Barak zu seinem provokativen Besuch im Heiligen Bezirk der Moscheen auf dem Tempelberg angetreten. Gegen die palästinensischen Jugendlichen, die daraufhin protestierten und Steine warfen, wurden hunderte von Polizisten eingesetzt, die mit scharfer Munition schossen. Das Ergebnis waren 40 Tote und 500 Verletzte innerhalb von zwei Tagen. Mit diesen Zusammenstößen begann die neue Intifada.

Ob Peres geht, ist mir egal

ARIEL SCHARON hat nicht versäumt, sich für seine Regierung auch ein paar „Feigenblätter“ zuzulegen – die prominenteste Figur ist dabei Schimon Peres. Scharon trifft sich nicht gern mit ausländischen Staatsoberhäuptern, stattdessen entsendet er Peres auf das internationale Parkett. Das funktioniert nicht schlecht: Wer will schon einen Friedensnobelpreisträger kritisieren?

Doch in Israel mehren sich die Stimmen, die Peres vorwerfen, er lasse sich für Scharons Politik einspannen, indem er die Bedenken und Einwände des Auslands zerstreue. Geht es ihm darum, seine politische Karriere fortzusetzen, oder will er verhängnisvolle Entscheidungen Scharons verhindern? Natürlich könnte er jederzeit zurücktreten, um damit zu versuchen, eine schädliche Maßnahme zu verhindern. Aber dazu hat Scharon bereits erklärt: „Ob Peres geht, ist mir egal.“

Für Ministerpräsident Scharon mag alles zum Besten stehen, aber die Stimmung in der israelischen Bevölkerung ist auf dem Tiefpunkt angelangt. An die Brennpunkte der Auseinandersetzung mit den jungen Palästinensern, die demonstrieren, Steine werfen und manchmal auch schießen, sind neue Truppenkontingente entsandt worden. Für den Einsatz im Westjordanland und im Gasastreifen sind inzwischen auch Reservisten einberufen worden, während im Südlibanon die israelischen Streitkräfte noch aus Wehrpflichtigen und Berufssoldaten bestehen.

Nach dem Libanonkrieg im Jahr 1982 war es noch eine Bewegung der Mütter gewesen, die dafür kämpfte, ihre Söhne aus den endlosen Konflikten an der Nordgrenze zurückzuholen. Heute sind es die Reservisten selbst, die solche Proteste organisieren. Hunderttausende von Berufstätigen erleiden schwere finanzielle Einbußen, wenn sie zu den Fahnen gerufen werden, und viele Studenten fühlen sich benachteiligt, weil zehntausende von Talmudstudenten nicht nur vom Militärdienst befreit sind, sondern für ihr Thorastudium auch noch staatliche Gelder erhalten. Doch nur eine kleine Minderheit argumentiert politisch – wie folgender Reservist: „Wir sehen nicht ein, warum wir unseren Dienst in jenen Gebieten leisten und unser Leben riskieren sollen. Wenn man dort ankommt, vor allem im Gasastreifen, begreift man nicht, welche absurde Logik zum Bau von diesen Siedlungen mitten in palästinensischem Gebiet geführt hat. Alle Welt weiß, dass dieses Territorium niemals Teil des Staates Israel sein wird.“ 6

Was die Außenpolitik betrifft, so ist klar, dass Scharon von den Europäern, die er als „Feiglinge“ bezeichnet, nichts zu befürchten hat. Hier verlässt er sich ganz auf das Schuldgefühl, das aus dem Genozid an den Juden während des Zweiten Weltkriegs herrührt. Die frühere Ministerin und renommierte Pazifistin Shulamit Aloni stellt dazu resigniert fest: „Wir werden niemals vor ein internationales Tribunal gestellt werden, weil wir Juden sind und die Christen und Europäer sich uns gegenüber schuldig fühlen. Wir sind die ewigen Opfer, und als solche dürfen wir uns alles herausnehmen.“

Was die arabischen Länder angeht, muss sich Scharon nur über die Reaktionen in Jordanien und Ägypten Gedanken machen. Würde er einen entscheidenden Schlag gegen die Palästinensische Autonomiebehörde führen, müssten diese beiden Länder unweigerlich ihre Beziehungen zu Israel für einen mehr oder weniger langen Zeitraum abbrechen – und das würde Israel um 25 Jahre zurückwerfen.

Bleiben die USA, die kein israelischer Politiker ignorieren kann. Präsident Bush und seine Regierungsmannschaft sind geradezu obsessiv auf die Irakfrage fixiert und möchten darum jede Unruhe in den gemäßigten arabischen Staaten vermeiden, die zu einer weiteren Auflösung der prekären Koalition gegen Saddam Hussein beitragen könnte. Folglich kann Washington den Israelis bei ihrem Vorgehen gegen die Palästinenser nicht freie Hand lassen – dafür steht einfach zu viel auf dem Spiel. Dies gilt umso mehr, als Scharon für seine antiamerikanische Haltung bekannt ist. Als er noch Außenminister war, erklärte er zum Kosovokonflikt: „Israel darf die aggressive Intervention der Nato unter Führung der USA nicht legitimieren. [. . .] Das nächste Opfer einer Aktion im Stil der augenblicklichen Kosovo-Intervention könnte Israel sein.“ 7

Als Scharon am 20. März 2001 in Washington erstmals mit George W. Bush zusammentraf, versicherte er dem US-Präsidenten, dieser brauche von ihm „keine Überraschungen“ zu befürchten, also keine wichtigen Schritte ohne Rücksprache mit den USA. Das funktionierte allerdings nur bis zum 17. April, als die israelische Armee ihre Operation im Gasastreifen durchführte und ein General erklärte: „Wenn nötig, werden wir hier Tage, Wochen oder Monate bleiben.“ Dass die Grenzen der in den Oslo-Verträgen so bezeichneten Zone A derart offen verletzt wurden, löste im Weißen Haus helle Empörung aus. Zwei Anrufe bei Präsident Scharon genügten dann, um den Abzug der israelischen Truppen zu bewirken. Präsident Bush und Außenminister Colin Powell gaben Scharon deutlich zu verstehen, dass ein militärisches Vorgehen gegen die Palästinenser ohne genaue diplomatische Abstimmung nicht in Frage kommt. Welche Lehren wird der neue israelische Premier daraus ziehen?

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Jerusalem.

Fußnoten: 1 Ha‘aretz, Wochenendbeilage, 13. April 2001. 2 Yedioth Aharonoth, 13. April 2001. 3 Eine Karte, die Israels damalige Vorschläge zeigt, findet sich in Le Monde diplomatique, Dezember 2000. 4 The New Yorker, 22. Januar 2001. 5 Yedioth Aharonoth, 30. März 2001. 6 Jerusalem, wöchentliche Beilage von Yedioth Aharonoth, 20. April 2001. 7 Yedioth Aharonoth, 19. April 1999, siehe auch Amnon Kapeliuk, „Wie Israel auf das Kosovo blickt“, Le Monde diplomatique, Mai 1999.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von AMNON KAPELIUK