11.05.2001

Washingtons Spannungspolitik in Ostasien

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Washingtons Spannungspolitik in Ostasien

Von BRUCE CUMINGS *

George W. Bush, der eher aus Versehen zum US-Präsidenten gewählt wurde, hat nicht nur kein zweifelsfreies demokratisches Mandat, sondern auch keine erkennbare außenpolitische Erfahrung. Kein Wunder, dass er es in weniger als zwei Monaten geschafft hat, die künftige strategische Entwicklung in Ostasien völlig unvorhersehbar zu machen. Mit wenig Fingerspitzengefühl für hochsensible Probleme hat er die Verhandlungen mit Nordkorea eingefroren und gegenüber China, das mal als „Rivale“, mal als „strategischer Gegner“ bezeichnet wird, einen merklich härteren Ton angeschlagen. Und auch Tokio fand sich in einer peinlichen Situation, als Bush jr. öffentlich kundtat, die neue Administration wolle Japan stärker in die regionale Sicherheitspolitik einbinden. Japan baut zwar verteidigungspolitisch seit langem auf die Vereinigten Staaten, aber der Inselstaat muss auch die Interessen seines großen Nachbarn berücksichtigen und scheint daher keineswegs geneigt, sein militärisches Engagement zu verstärken.

Man könnte diesen zumindest erstaunlich zu nennenden Umgang mit sicherheitspolitischen Fragen vielleicht mit mangelnder Erfahrung erklären, und in der Tat hat seit den Zwanzigerjahren kein Präsident der Vereinigten Staaten so viel außenpolitische Naivität an den Tag gelegt. Man könnte sich auch mit dem Gedanken beruhigen, dass bei allen Präsidenten von Richard Nixon bis George Bush sen. am Ende doch die realpolitische Vernunft die Oberhand behielt. Das mag durchaus sein. Doch im Augenblick ist die neue US-Außenpolitik im Begriff, den Status quo zu modifizieren. Die jüngsten Ansätze zu einer Entspannung in Korea drohen zu scheitern, und das Wiederaufleben der chinesisch-amerikanischen Rivalität könnte in einen regionalen Rüstungswettlauf münden. Die beschleunigte Realisierung des nationalen Raketenabwehrsystems „National Missile Defense“ (NMD) mitsamt seines ostasiatischen Ablegers TMD („Theater Missile Defense“) wird China keine andere Wahl lassen, als sich Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen (MIRV) anzuschaffen und sein Verteidigungsbudget weiter aufzustocken (im laufenden Haushaltsjahr steigt es um 18 Prozent).

Angesichts der zunehmenden Spannungen in der Region können sich ernsthafte Zwischenfälle wie der Zusammenstoß vom 2. April zwischen einem chinesischen Abfangjäger und einem amerikanischen Aufklärungsflugzeug vom Typ EP-3 – samt des anschließenden Streits um die Freigabe der Maschine und ihrer Besatzung – jederzeit wiederholen. Zwar stehen die beiden Fragen in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Aber sie gehören doch zum selben strategischen Problemkreis, denn die US-Regierung hat ihre NMD- und TMD-Planungen unter Verweis auf die Bedrohung der regionalen Stabilität durch die ballistischen Raketen Nordkoreas gerechtfertigt.

Man muss der Clinton-Administration und der politischen Führung Nord- und Südkoreas zugute halten, dass sie für die Entspannung auf der koreanischen Halbinsel mehr getan haben als alle ihre Vorgänger seit 1945. Entscheidend war hierbei die Wende in der amerikanischen Außenpolitik seit 1994. Nach Beilegung der Krise, die sich am nordkoreanischen Atomprogramm entzündet hatte und fast in einen offenen militärischen Konflikt umgeschlagen wäre, nahm Bill Clinton Gespräche mit der nordkoreanischen Führung auf, wodurch sich die Lage in Korea deutlich stabilisierte und entspannte. Diese Öffnung erlaubte es dem südkoreanischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Kim Dae Jung, seine „Sonnenscheinpolitik“ zu vertiefen, in deren Kontext im Juni 2000 in Pjöngjang das erste Gipfeltreffen zwischen Nord- und Südkorea stattfand. Die letzte Grenze des Kalten Kriegs schien sich allmählich aufzulösen.

Die politische Kehrtwende der Bush-Administration kompromittiert diese Perspektive und schwächt Kim Dae Jung im denkbar ungünstigsten Augenblick. Bereits unter Beschuss von rechts stehend, weil er die politische Öffnung zu weit getrieben habe, bleiben dem Präsidenten nur noch zwei Amtsjahre, um seine Ziele zu verwirklichen. Kim Dae Jung war der erste ausländische Staatschef, der von Präsident Bush in Washington empfangen wurde. Am Vorabend seines Staatsbesuchs Anfang März glaubte er, die Vereinigten Staaten würden, wiewohl vorsichtiger als bisher, den unter der Clinton-Administration begonnenen Dialog mit Nordkorea fortsetzen. In der Tat hatte US-Außenminister Colin Powell öffentlich erklärt, die Gespräche über die Fragen der Atompolitik und der ballistischen Raketen würden fortgeführt. Doch wenig später wurde Powell wegen seiner Haltung vom rechten Flügel der Republikaner heftig kritisiert. Und während des Besuchs von Kim Dae Jung widersprach Präsident Bush höchstpersönlich seinem Minister und ließ Zweifel an der Fortführung des Dialogs aufkommen.

Für den südkoreanischen Präsidenten, der seinen nordkoreanischen Amtskollegen Kim Jong Il im Frühjahr 2001 in Seoul empfangen wollte, bedeutet dieser Schwenk ein diplomatisches Desaster. Seine Berater tun öffentlich nur ihre Ratlosigkeit kund, doch in privaten Gespräche verfluchen sie Präsident Bush wegen seiner „inakzeptablen Taktik“1. Die Zukunft der Sonnenscheinpolitik steht nun in den Sternen, und Jahre geduldiger Verhandlungen könnten sich als vergebliche Mühe erweisen.2 Jedenfalls sagte Pjöngjang Anfang April ein Ministertreffen ab, das im selben Monat in Seoul stattfinden sollte.

Kurz nach Kim Dae Jungs Besuch in Washington behauptete US-Präsident Bush, Nordkorea verletze seine Verpflichtungen gegenüber den Vereinigten Staaten. Doch das einzige wirklich wichtige Abkommen, jenes über die Abschaltung des nordkoreanischen Atomreaktors, wird von Pjöngjang noch immer eingehalten. Bush-Berater mussten dies einige Tage später auch einräumen und erklärten den Irrtum ihres Chefs mit dem Hinweis auf dessen häufige semantische Ausrutscher. Grundsätzlich geändert hat sich dadurch aber nichts, denn die Bush-Administration will die Koreapolitik nun erst einmal einer „grundlegenden Prüfung“ unterziehen, bevor sie ihr weiteres Vorgehen festlegt.

Eine solche grundlegende Prüfung – die Erste ihrer Art – wurde jedoch vor zwei Jahren von einer Arbeitsgruppe unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers William Perry vorgenommen, der überdies derselben Partei angehört wie George W. Bush.3 Die sechsmonatige Arbeit schloss mit der Empfehlung, die Verhandlungen mit Pjöngjang zu intensivieren. Der Neuansatz mündete in ein vorläufiges Abkommen über die nordkoreanischen Raketen, das den Vereinigten Staaten wie der gesamten asiatisch-pazifischen Region große Vorteile brachte.4 Damals schien Nordkorea bereit, die Produktion, Stationierung und Ausfuhr aller Raketen mit einer Reichweite von über 500 Kilometern einzustellen. In beiden strategischen Fragen – in der Atompolitik und bei den ballistischen Raketen – schien man einer Vereinbarung näher zu kommen.

Überdies gewannen die amerikanischen Unterhändler die Überzeugung, dass Nordkorea dem Trägertechnologie-Kontrollregime (MTCR) beigetreten wäre, wenn Bill Clinton Nordkorea kurz vor Ende seiner Amtszeit einen Besuch abgestattet hätte. Dazu war Clinton auch entschlossen und hatte bereits seine Koffer gepackt. Doch angesichts der Möglichkeit, dass sich das amerikanische Wahldebakel doch noch zu einer „ernsthaften Verfassungskrise“ auswachsen könnte, wäre es – so Clinton-Berater Sandy Berger – keine gute Idee gewesen, im November 2000 nach Pjöngjang zu reisen. Und nachdem der Oberste Gerichtshof zugunsten Bushs entschieden hatte, war es für den Staatsbesuch zu spät.

Unter den Bedingungen des Trägertechnologie-Kontrollregimes wäre Nordkorea bereit gewesen, die Reichweite seiner Raketen auf 288 Kilometer zu beschränken. Damit wäre für Japan jede Bedrohung beseitigt gewesen. Als Gegenleistung sagten die USA Lebensmittelhilfen in Höhe von 1 Milliarde Dollar zu. Eine klare Rechnung: Die Beseitigung der Bedrohung durch die nordkoreanischen Raketen hätte 1 Milliarde Dollar plus einen Präsidentenbesuch gekostet.

War der Preis zu hoch? Das erklärtermaßen gegen Nordkorea gerichtete NMD-Programm hat bekanntlich bereits 60 Milliarden Dollar verschlungen, und unter der Präsidentschaft von George W. Bush dürfte es alle finanziellen Grenzen sprengen.5 Bleibt die Frage, wie sich die Einhaltung des Abkommens überprüfen ließe. Aber auch hier wissen US-Spezialisten im privaten Gespräch zu berichten, dass die USA schon heute in der Lage sind, fast alle nötigen Checks ohne Inspektion vor Ort vorzunehmen. Das hat mir William Perry höchstpersönlich bestätigt. Was die Neutralisierung der aktuellen Raketenbestände anbelangt, wäre über einen wirtschaftlichen Ausgleich nachzudenken.

Aus welchen Gründen also wurden die Gespräche eingefroren? Von den Widersprüchen innerhalb der neuen Regierungsmannschaft einmal abgesehen, geht es hier um den Machtfaktor China. Das im Planungsstadium befindliche Raketenabwehrsystem TMD richtet sich offenkundig weniger gegen Nordkorea als gegen dessen Nachbarn. Das Atomwaffenarsenal Chinas ist begrenzt und besteht unter anderem aus 20 veralteten Interkontinentalraketen mit Einfachsprengköpfen. Gewiss, Peking arbeitet an moderneren Waffensystemen, Kurzstreckenraketen eingeschlossen. Doch die Aussicht auf ein amerikanisches TMD-System in Asien wird diese Entwicklung nur befördern. China wird die US-Initiative zweifellos mit der Stationierung von Interkontinentalraketen mit MIRV-Technik beantworten, so wie es die USA und die UdSSR in den Siebzigerjahren vorgemacht haben. Damit stünde ein neuer Rüstungswettlauf ins Haus. Während Bill Clinton noch von einer „strategischen Partnerschaft“ gesprochen hatte, sieht die Bush-Administration in China nur noch einen Rivalen, wenn nicht gar einen Gegner. Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice stilisiert das Land zu einer „aufstrebenden Macht“. Andere – Bush eingeschlossen – sprechen von einem „strategischen Gegner“. Das NMD-Programm wird diese Erklärungen in eine Selffullfilling Prophecy verwandeln.6

Die Spannungen zwischen den beiden Ländern könnten sich zu einer veritablen Krise auswachsen, sollte die US-Regierung Ende April beschließen, hochmoderne Aegis-Zerstörer an Taiwan zu liefern, die dessen Verteidigungskapazitäten qualitativ verbessern würden. Der zum rechten Flügel seiner Partei gehörende Vorsitzende des außenpolitischen Senatsausschusses, Jesse Helms7 , der sich in den USA den Spitznamen „Senator von Taiwan“ verdient hat, arbeitet zur Zeit an einer Studie, die den Verkauf einer ganzen Reihe von Hightech-Waffensystemen an Taiwan empfiehlt, um die „chinesische Bedrohung abzuwehren“. Der Inhalt dieser Studie war bereits in der Washington Times nachzulesen.8

Aus Peking verlautet bereits, dass die Lieferung von Aegis-Systemen an Taiwan die bilateralen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in eine „schwere Krise“ stürzen würde.9 Die chinesische Führung befürchtet, als nächste Etappe könnten die USA die Insel unter den Schutzschirm ihres regionalen Raketenabwehrsystems nehmen. Und sie hat nicht vergessen, dass der letzte US-Präsident, der Taiwan 1992 mit modernen Waffen belieferte, kein anderer war als George Bush sen.

In dieser Situation stellt sich die Frage, welche Ziele die US-Außenpolitik in der Region verfolgt. Trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion vor zehn Jahren pumpen die USA weiterhin ungeheure Gelder in Verteidigungsprojekte. Im Jahr 2000 belief sich der US-Verteidigungshaushalt auf über 280 Milliarden Dollar – mehr als die entsprechenden Budgets aller potenziellen Gegner zusammengenommen. Allein in Japan und Südkorea sind 100 000 US-Soldaten stationiert, was die Vereinigten Staaten pro Jahr schätzungsweise 42 Milliarden Dollar kostet. Und natürlich sind diese US-Truppen nicht nur wegen Nordkorea in der Region stationiert.

Das Expeditionskorps ist vielmehr Ausdruck der amerikanischen Ostasienstrategie seit Ende der Vierzigerjahre. Seit dieser Zeit verfolgen die USA zwei Ziele: zum einen die Eindämmung des Kommunismus, zum anderen eine Begrenzung des Manövrierspielraums ihres neuen Verbündeten Japan. Das erste Ziel wurde 1991 erreicht. Die Modalitäten des zweiten haben sich im Laufe der Zeit zwar gewandelt, doch nach wie vor ist Japan ein Staat mit beschränkter Souveränität, der auf dem Gebiet der Verteidigung und der nachrichtendienstlichen Informationen wie auch hinsichtlich der Garantie von wirtschaftlich überlebensnotwendigen Schifffahrtswegen auf die Vereinigten Staaten angewiesen ist. Doch ungeachtet ihrer strategischen Allianz kommt es zwischen den beiden Ländern immer wieder zu Spannungen. Etwa auf Okinawa, wo ein bedeutender Teil der Bevölkerung einen Rückzug der US-amerikanischen Streitkräfte wünscht. Oder anlässlich des Unfalls am 9. Februar dieses Jahres, als das U-Boot Greeneville ein japanisches Schiff versenkte und neun japanische Touristen, darunter vier Kinder, ums Leben kamen.

Heute hat sich in der ganzen Region eine gefährliche Dynamik herausgebildet. Dabei macht unter den Hauptakteuren allein der südkoreanische Staatschef Kim Dae Jung einen guten Eindruck. Der Erfolg der Verhandlungen mit Nordkorea in den vergangenen drei Jahren war allein sein Verdienst. Im selben Zeitraum hat er außerdem hervorragende Beziehungen zu China und Japan aufgebaut. Vor dem Hintergrund des zweideutigen Wahlergebnisses in den USA droht nun das mühsam Erreichte zu zerbrechen. Eine Strategie, die sich bewährt hat und zu ersten Erfolgen führte, wird nun leichtfertig aufgegeben.

dt. Bodo Schulze

* Professor für Geschichte an der Universität Chicago, Autor u. a. von „Parallax Visions. Making Sense for American-East Asian Relations“, Duke University Press 1999.

Fußnoten: 1 So ein koreanischer Abgeordneter im Gespräch mit dem Verfasser. 2 Dazu Selig Harrison, „Nord- und Südkorea: Die schwierige Entspannung“, Le Monde diplomatique, Januar 2001. 3 Nach Auskunft von Mitgliedern der Arbeitsgruppe befand sich die Studie seit Herbst 1998 in Arbeit. Die Schlussfolgerungen implizierten den bedeutendsten Wandel der amerikanischen Korea-Politik seit Ende des Koreakriegs. 4 Siehe dazu den Beitrag von Michael Gordon in der New York Times vom 6. März 2001. 5 Siehe New York Times, 14. März 2001. 6 Dazu Philip. S. Golub, „Rivalität zwischen Washington und Peking“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999. 7 Helms unterstützte die taiwanesische Kuomintang seit Beginn seiner sehr langen Laufbahn als Politiker und wurde seinerseits von der Kuomintang unterstützt. 8 Washington Times, 13. März 2001. 9 Washington Post, 3. März 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von BRUCE CUMINGS