11.05.2001

In der Schuldenfalle

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In der Schuldenfalle

Von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT *

Das längste „Saufgelage“ in der Geschichte der amerikanischen Konjunkturzyklen geht seinem Ende zu und wird wohl einen gigantischen Kater nach sich ziehen. Die „Wunderwirtschaft“, wie die New York Times sie einst betitelte, ist in Schwierigkeiten, und das nicht ohne Grund. In den letzten neun Jahren wurde die US-amerikanische Wirtschaft vor allem durch das Anlagekapital aus dem Ausland gespeist und angetrieben. Der klarste Beleg dafür ist die Wachstumsrate der Börsenkapitalisierung (also des Koeffizienten, der das Verhältnis von börsengebundenem Kapital zu Bruttoinlandsprodukt ausdrückt), die von 81 Prozent in 1994 innerhalb von fünf Jahren auf 184 Prozent anstieg. Mit anderen Worten: 1999 überstieg der Wert des Börsenkapitals das Bruttoinlandsprodukt um 84 Prozent. So rasant akkumulierte sich das US-Kapital nicht einmal in den Jahren zwischen 1925 und 1929. Doch die Finanzblase droht nunmehr zu explodieren.

Was uns bevorsteht, ist keineswegs die „sanfte Landung“ oder die „Marktkorrektur“, von der die Ideologen der Finanzsphäre ausgehen. Vielmehr erleben wir die ersten Anzeichen der schwersten Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs, deren Konsequenzen sich als weit schwerwiegender herausstellen könnten als die Folgen des Finanzkrachs in Thailand im Juli 1997 oder der Einstellung des Schuldendienstes durch Russland im August 1998. Das internationale Finanzsystem stößt an seine Grenzen.

Anders als die Schönredner des globalen Kapitalismus glauben machen wollen, sollte dieses System, das einem Kasino der systematischen Falschspielerei gleicht, noch nie der „optimalen Ressourcenallokation“ dienen. Ihr einziger Zweck war und ist die Bereicherung einer kleinen Minderheit von Aktionären der transnationalen Konzerne.

Allein die Schulden der Dritten Welt stiegen von 1 300 Milliarden Dollar 1992 auf 2 100 Milliarden Dollar Ende 2000, während die jährlichen Zinszahlungen im gleichen Zeitraum von 167 Milliarden auf 343 Milliarden Dollar anwuchsen. Die Schuldnerstaaten haben im Lauf der Jahre bereits ein Mehrfaches der geliehenen Summen zurückgezahlt. Und wer kein Erdöl zu exportieren hat, bekommt die Verlangsamung des amerikanischen Wirtschaftswachstums voll zu spüren.

Die US-Industrie schlittert allmählich in eine Überproduktionskrise. Der Nasdaq Composite Index, ein Schlüsselbarometer der so genannten Neuen Ökonomie ist seit dem 10. März 2000 um 50 Prozent gefallen. Dieser Wall-Street-Index hat damit das schlechteste Jahr seiner Geschichte erlebt. Der britische Techmark 100 hat im selben Zeitraum um 57 Prozent, der deutsche Nemax um 67 Prozent nachgegeben. Diese drastischen Kurseinbrüche sind Ausdruck des verlangsamten Wirtschaftswachstums und der pessimistischen Markteinschätzung der Investoren.

Sieht man von den Haushaltsüberschüssen ab, so sind sämtliche Konjunkturindikatoren der US-Wirtschaft in den roten Bereich gerutscht: Die Börsenwerte sacken ab, die Importe sinken, das Vertrauen der Verbraucher nimmt ab und damit zugleich ihre Konsumausgaben. Der Wohnungsbau verzeichnet einen Fünfjahrestiefstand, und das Kreditvolumen, das nachgerade explosionsartig expandiert war, beginnt ebenfalls deutlich zu schrumpfen. Die Anleger schrecken vor risikobehafteten Industriewerten zurück, die traditionellen Aktienmärkte bröckeln, und die Bilanzen der Geschäftsbanken verschlechtern sich im selben Maß wie ihre Aktiva an Wert einbüßen.

Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der US-Boom und die Stärke des Dollar auf Verschuldung beruhen und daher ex definitione auf Sand gebaut sind. Irgendwann muss jeder seine Schulden zurückzahlen, mit Zins und Zinseszins – es sei denn, er bekennt sich als zahlungsunfähig. Die Zunahme der seit 1960 aufgenommenen und bisher nicht zurückgezahlten Kredite spricht eine deutliche Sprache. Nach Angaben der US-Zentralbank stieg das Volumen dieser Kredite zwischen 1964 und 1999 von gut 1 027 Milliarden auf 25 678 Milliarden Dollar, das entspricht einer jährlichen Steigerungsrate, die mitdurchschnittlich 9,6 Prozent weit über der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts liegt. Mit der jetzt einsetzenden Verlangsamung des Wirtschaftswachstums wird sich die Schere noch weiter öffnen. Um diese Außenstände zu begleichen, wäre mehr als das Dreifache des derzeitigen jährlichen BIP der USA nötig.

Um die Finanzsituation der Unternehmen ist es kaum besser bestellt. Ihre Verschuldung überschritt 1999 die Grenze von 7 Billionen Dollar, das 144-fache der Schuldensumme von 1964. Damit wurde vor allem die gewaltige Kapitalkonzentration, namentlich im Bankensektor, finanziert. Der Bankensektor erlebte im Zeitraum 1980 bis 1998 einen Strukturwandel, der in der Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten seinesgleichen sucht. Im Zuge der 8 000 Bankenfusionen und -akquisitionen wechselten Aktiva in Höhe von 2 000 Milliarden Dollar den Besitzer.

Ein weiterer Grund für das stockende Wirtschaftswachstum ist die Verschuldung der Privathaushalte. Diese haben Kredite in Höhe von 34 Prozent ihres Einkommens aufgenommen, während die Sparquote1 zwischen 1990 und 1999 von 8 Prozent auf minus 0,8 Prozent gefallen ist. Mit anderen Worten: Die Privathaushalte leihen mehr Geld, als sie sparen. Sie verschulden sich – zumeist indem sie ihre Wohnung oder ihr Haus mit Hypotheken belasten –, um ihre laufenden Ausgaben zu decken, die das verfügbare Einkommen derzeit um rund 247 Milliarden Dollar übersteigen.

Eine Schlüsselgröße ist auch die exponentielle Zunahme des Zahlungsbilanzdefizits seit 1992.2 Ende 2000 belief sich der Fehlbetrag auf spektakuläre 420 Milliarden Dollar, das sind über 4 Prozent des BIP. Die Importe übersteigen die Exporte um 35 Prozent, und dieser Trend geht weiter. Dabei müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass die Vereinigten Staaten bis 1981 eine Gläubigernation waren. Der Boom der letzten Jahren war dagegen eine kreditfinanzierte Veranstaltung, und die damit einhergehende Steigerung der Binnennachfrage wurde durch ständig wachsende Einfuhren befriedigt.

Es besteht wenig Hoffnung, dass sich das Handelsbilanzdefizit in den kommenden Monate reduzieren lässt. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich in allen Ländern, die weltweiten Industriekapazitäten sind nur noch zu rund 66 Prozent ausgelastet – was einem Zehnjahrestiefstand entspricht –, und die Überbewertung des Dollar schadet der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der US-Exporte. Die Eisen- und Stahlindustrie mag als Beispiel dienen. Die Stahlerzeuger hatten Grund zum Jubel, bis die Konjunktur in der Mitte der Neunzigerjahre einbrach. Die Folge waren wachsende Lagerbestände, rückläufige Einnahmen und – aufgrund des verschärften Wettbewerbs – sinkende Preise. Unter den elf führenden Stahlproduzenten der Welt rangieren die Vereinigten Staaten in puncto Produktivität an letzter Stelle.

Eine weitere Folge der Krise ist, dass sich der Handelskrieg verschärft. Derzeit klagt die US-Regierung wieder einmal, die amerikanische Stahlindustrie habe unter Dumping-Importen zu leiden, die angeblich die eigentliche Ursache von Betriebsschließungen und Entlassungen sind. Die Europäische Union wiederum wirft den Vereinigten Staaten nicht ohne Grund vor, die Einfuhrbeschränkungen bei manchen Stahlsorten verstoße gegen die Freihandelsbestimmungen. Südkorea hat aus diesem Grund bereits die Welthandelsorganisation eingeschaltet. Das Beispiel der Stahlindustrie verdeutlicht, dass der US-amerikanische Kapitalismus trotz milliardenschwerer Exportsubventionen nicht in der Lage ist, der Weltmarktkonkurrenz standzuhalten.

Der US-Kapitalismus hängt am Tropf der Verschuldung, zum Überleben braucht er Finanzspritzen in Höhe von jährlich 400 bis 500 Milliarden Dollar. Dass das Finanzministerium am dogmatischen Ziel eines „starken Dollar“ festhält und dass diese Strategie von der gesamten politischen Klasse unterstützt wird, dient einzig dem Zweck, Auslandskapital anzuziehen, von dem die US-amerikanische Wirtschaft immer stärker abhängig geworden ist. Sogar die Federal Reserve Bank räumt ein, dass die höhere Rendite auf den US-Märkten eine der Hauptantriebskräfte der Akkumulation ist, da sie die ausländischen Kapitalisten zu Investitionen in die US-Wirtschaft anhält. Nur so lässt sich die gewaltige Welle der Unternehmensfusionen und -übernahmen erklären, die in den letzten Jahren stattgefunden haben.

Die US-Volkswirtschaft bindet derzeit 80 Prozent der weltweiten Ersparnisse. Nach Angaben des US-Handelsministeriums wuchsen die Ausgaben ausländischer Investoren im ersten Quartal 1999 zweieinhalb Mal so schnell wie im Vergleichszeitraum 1995. Nun könnte man meinen, der Kurs des Greenbacks werde so lange nicht fallen, wie die Akteure der ausländischen Finanzfonds ihre immensen und immer weiter anwachsenden Dollarbestände halten.

Der beschleunigte Kursverfall an den Aktienmärkten wird diese windige Annahme wohl widerlegen. Boomende Finanzmärkte haben das Auslandskapital angezogen; ein Konjunktureinbruch genügt, und diese Gelder werden per Mausklick wieder abgezogen.

Die US-Wirtschaft hat mit ihrer Strategie, die weltweiten Spargelder an sich zu binden, eine Grenze erreicht. Die Expansion der vergangenen neun Jahre droht sich in Nichts aufzulösen. Die Schwankungen der Handelsbilanz werden die endemische Instabilität des Dollar auf absehbare Zeit verschlimmern. Der Schuldenberg der Vereinigten Staaten wird weiter wachsen und durch orthodoxe Geldpolitik kaum zu beseitigen sein.

Das Phänomen einer massiven Verschuldung ist zwar nicht auf die USA beschränkt, hat aber in diesem Fall besonders gravierende Implikationen. Die US-Volkswirtschaft ist mit ihrem 30-Prozent-Anteil am weltweiten Sozialprodukt von strategischer Bedeutung. Die USA kontrollieren die wichtigsten Positionen, die für die Kapitalbewegung, die Finanzmärkte und den Welthandel entscheidend sind.

Eine Rezession in den Vereinigten Staaten hätte für die Weltwirtschaft also höchstwahrscheinlich verheerende Konsequenzen. Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob die USA ihre Auslandsschulden begleichen werden oder nicht. Anders als Keynes am Vorabend des Versailler Vertrags glaubte, hängt die Rückzahlung von Schulden nicht von der Qualität der politischen Führung ab.

Die amerikanische Regierung und das amerikanische Großkapital haben weder den Willen noch die Mittel, die Schulden zurückzuzahlen. Dasselbe gilt für die Länder der Dritten Welt. Es ist durchaus denkbar, dass sie und die USA einen großen Teil ihrer Schulden schon in naher Zukunft nicht mehr anerkennen werden. Irgendwelche Faktoren, die diese düstere Situation spürbar und dauerhaft positiv beeinflussen könnten, sind nirgends in Sicht. Steigende Rüstungsausgaben wären jedenfalls kein hinreichendes Konzept. Schon heute stecken die Vereinigten Staaten alljährlich 300 Milliarden Dollar in ihr Waffenarsenal, und auch wenn Präsident Bush den Einsatz weiter erhöhen wird – Stichwort: Raketenabwehrsystem –, würde dies an den ökonomischen Grunddaten nichts Wesentliches ändern.

Zinssenkungen zur Belebung der Nachfrage bieten sich vielleicht als Notbehelf an, würden aber keines der grundlegenden Probleme aus der Welt schaffen. Für die Bankiers und Chefs der großen Konzerne bleibt als Notbehelf nur die Fortsetzung von illegalen Transaktionen via Steuerparadiese, von Geldspekulation, Geldwäsche und dergleichen mehr.

Anderthalb Jahre nach dem Debakel von Seattle haben die führenden Institutionen der Weltwirtschaft – die US-Zentralbank, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IMF) und die Welthandelsorganisation (WTO) – jede Glaubwürdigkeit verloren. Die alten Slogans der Neoliberalen – Freihandel, Liberalisierung, Deregulierung – reißen niemanden mehr vom Sitz. Und was noch bedeutsamer ist: Die Macht dieser Institutionen und ihre Plattitüden werden zunehmend in Frage gestellt, wie auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre im Januar dieses Jahres deutlich wurde. Nach den Kriterien der Wall Street mag der nun zu Ende gehende Boom als spektakulär gelten, der überwiegende Teil der US-Bürger aber hat von dem Geldsegen nichts abbekommen. Die Kluft zwischen den wenigen Superreichen und dem Rest wird immer tiefer. Im Jahr 1998 verfügten die reichsten 10 Prozent der US-Amerikaner über 76 Prozent der nationalen Vermögenswerte, und mehr als die Hälfte dieser Werte konzentrierte sich in den Händen von einem Prozent der Bevölkerung.

Was die angebliche „Vollbeschäftigung“ anbelangt, so fallen aus der statistischen Bilanz natürlich die 2,3 Millionen Gefängnisinsassen heraus. Würden sie berücksichtigt, ergäbe sich eine ähnlich hohe Arbeitslosenquote wie in den anderen OECD-Ländern. In jedem Fall kann man sich schwer vorstellen, wie Präsident George Bush die beschriebene Krisenspirale anhalten will. Eine Krisenspirale, die von der UN-Konferenz über Handel und Entwicklung (Unctad) auf ihrem letzten Kongress mit den Worten gekennzeichnet wurde: „Die Weltwirtschaft steht am Rande des Abgrunds.“

dt. Bodo Schulze

* Wirtschaftswissenschaftler

Fußnoten: 1 Anteil der Ersparnis der privaten Haushalte an ihrem verfügbaren Einkommen. 2 Die Zahlungsbilanz setzt sich aus der Handels-, Dienstleistungs-, Übertragungs- und Kapitalverkehrsbilanz zusammen.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT