15.06.2001

Subalterne Faustkämpfer

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Subalterne Faustkämpfer

BOXER haben es schwer. Ihr Training verlangt ihnen das Äußerste ab. Sie wollen Helden sein und müssen doch ihren Körper verkaufen, müssen Hure, Sklave und Zuchthengst sein. Der unerbittliche Kampf – Mann gegen Mann, Schlag auf Schlag – fasziniert sie, und sie werden zu den Herren ihres Körpers. Aber gerade die Arbeit am Körper, mit der sie sich aus ihrer sozialen Marginalisierung zu befreien suchen, zwingt sie in das erniedrigende Martyrium der Ausbeutung und der Abhängigkeit von Managern und Organisatoren. Nur selten begehrt einer von ihnen auf. Der Sieg im Ring gilt ihnen als einzige Chance, sich aus ihrer Misere zu befreien. Von LOÏC WACQUANT *

Wenn die Kritiker erklären wollen, warum der Boxsport immer neuen Nachwuchs anzuziehen vermag, reden sie gern von der Naivität und Gutgläubigkeit der Sportler, die diesem „blutigen Show-Business“ einen Gutteil Dasein und Lebenszeit opfern. Dabei haben die Boxer ein geschärftes Bewusstsein davon, dass sie mit ihrer Entscheidung für den Boxsport eine Welt der uneingeschränkten Ausbeutung betreten, in der Lug und Trug den Ton angeben. Sie wissen sehr genau, dass körperliche Schäden, schlechte Behandlung und Erniedrigung zur Normalität des Metiers gehören. In einem Boxstudio im schwarzen Ghetto von South Side Chicago, wo ich drei Jahre lang die hohe Kunst des Faustkampfs erlernte, erläuterte mir ein Clubgenosse die Beziehungen zwischen den verschiedenen Protagonisten des Milieus: „Jeder versucht den anderen aus dem Weg zu räumen, jeder will jedem etwas antun, und keiner traut dem anderen.“

Die Boxer äußern ihr Ausbeutungsbewusstsein in drei verschiedenen, doch verwandten Sprachbildern: Sie vergleichen ihr Gewerbe oft mit Prostitution, Sklaverei oder Tierzucht. Im Prostitutionsbild ähnelt die Beziehung zwischen Boxer und Manager dem Verhältnis zwischen Prostituierter und Zuhälter. Im Bild der Sklaverei ist der Ring die Plantage, die Manager sind die Sklavenbesitzer und die Veranstalter die Vorarbeiter. Das Bild der Tierzucht schließlich lässt anklingen, dass die Boxer wie Hunde, Schweine, Pferde oder anderes Nutzvieh behandelt werden. Jeder dieser drei Vergleiche entlarvt auf seine Weise die widernatürliche Vermarktung des Körpers.

Dem Prostitutionsvergleich zufolge besteht die Gemeinsamkeit von Zuhälter und Manager darin, dass beide so tun, als würden sie die finanziellen Interessen ihrer „Partner“ wahrnehmen und sich um deren körperliche Unversehrtheit sorgen, während sie in Wirklichkeit den Körper gebrauchen und missbrauchen, um ihre Profitgier zu befriedigen. So wie die Prostituierte das sexuelle Potenzial ihres Frauenkörpers auf dem Strich feilbietet, verkauft der Boxer das Potenzial seines Männerkörpers, im Ring physische Gewalt auszuteilen und einzustecken, wobei die Manager und Veranstalter hinter den Kulissen den Löwenanteil der Einnahmen aus dem Handel mit Männerfleisch kassieren.

Der zweite Ausbeutungsvergleich verweist auf die historische Erfahrung der Sklaverei. Dass der Vergleich bei den afroamerikanischen Boxern emotional aufgeladen ist, versteht sich von selbst. Ashante, mein Boxfreund und Sparringspartner, erinnert sich, wie er bei einem besonders brutalen Kampf die ökonomische Ungerechtigkeit des Boxens erkannte: „Ich habe gesehen, wie Hightower mit diesem Kerl kämpfte. Seit dem Tag hasse ich Boxen . . . Die beiden hätten sich fast totgeschlagen, aber die Leute im Saal tobten. Da habe ich mir gesagt: Guck dir diese Scheiße an; die schlagen sich für hundert Dollar halb tot – sind wir denn schon wieder in der Sklavenzeit angekommen? Der Kampf endete für beide im Krankenhaus, und wofür? Für 200 Dollar, hundert für jeden.“

Bei dem Tierzuchtvergleich schließlich sehen sich die Boxer in der Situation von Nutzvieh, das von den ökonomisch Mächtigen des Gewerbes ernährt, dressiert, trainiert, zur Schau gestellt und in Gladiatorenkämpfen verheizt wird. Eines Abends erzählte mir Luke, der über das Gemauschel seines Trainers mit dem lokalen Boxveranstalter erzürnt war: „Ich fühle mich . . . man hält mich wie ein Rennpferd. Mein Trainer holt mich morgens ab und lässt mich einige Runden drehen, man hegt und pflegt mich, gibt mir mein Heu und führt mich zurück in den Stall. Dann schaut Ralph [der Veranstalter] vorbei und sagt“ – Luke imitiert seinen übertrieben jovialen Ton –: „Na, wie geht’s.“ Und weiter mit süßlicher Stimme im Akzent der Weißen: „Wie geht’s unserem schönen schwarzen Hengst heute?“

Phonzo ist einer der wenigen Boxer Chicagos, die in den letzten zwanzig Jahren einen Weltmeistertitel errangen. Doch sobald wir auf die finanziellen Erfolge seiner Laufbahn zu sprechen kommen, verrät sein ganzer Ausdruck, seine Haltung, sein Ton, sein Blick abgrundtiefe Bitterkeit. Jahrelang brachte er persönliche Opfer und unterwarf sich der asketischen Lebensweise der Profiboxer, er lief und trainierte Tag für Tag, hielt sich an eine mörderische Diät, schränkte seine sozialen und sexuellen Kontakte ein – und holte schließlich den Weltmeister-Gürtel. Doch was der krönende Höhepunkt einer Berufslaufbahn und Anlass zu persönlicher Zufriedenheit hätte sein sollen, erwies sich als ein Augenblick freudloser Leere: „Hier in den Vereinigten Staaten regiert das Geld. Geld kann dir eine Menge Feinde und einen Haufen falscher Freunde einbringen. Ich dachte, ich hätte ein paar Freunde. Aber kaum dass ich ein bisschen was verdiente, verwandelten sie sich in Aasgeier. Und wenn sich ein Freund in einen Aasgeier verwandelt, frisst er dich kahl bis auf die Knochen. Die saugen dich aus wie eine Milchsau. Die verschlingen dich bei lebendigem Leibe. Als ich endlich dahinterkam, hatte ich nicht mehr dieselben Leute um mich wie am Anfang, und das hat mich sehr unglücklich gemacht.“

Filetstücke, Koteletts oder Suppenfleisch

NICHT selten verwenden die Boxer alle drei Vergleiche auf einmal. Als Dave „TNT“ Tiberi – ein weißer, einigermaßen bekannter Mittelgewichtler – im Sommer 1992 vor dem Untersuchungsausschuss des US-Senats über Korruption im Profiboxsport aussagte, trieb er die anthropophage Metapher auf die Spitze: „Die Mehrheit der Boxer sind in den Augen der Veranstalter je nach Einstufung Filetstücke, Koteletts oder Suppenfleisch. Menschen sind sie nur selten.“

Als er dann von seiner eigenen Erfahrung zu erzählen begann, wählte er ein anderes Bild: „Als würde man sich auf dem Sklavenmarkt zum Kauf anbieten. [...] Es fällt manchmal schwer, Boxen noch als Sport zu betrachten. Viele der Organisatoren haben längst ihren eigenen, ganz legalen Sklavenhandel.“ James Pritchard, IBF-Weltmeister im Halbschwergewicht, gab dieser Auffassung noch eine vampiristische Note: „Sie [die Manager] sind wie Mücken, sie stechen dich und saugen dich aus. Wenn sie dich einmal haben, pumpen sie dich leer bis auf den letzten Blutstropfen.“1

Auch wenn die Boxer oft heftig und in von Schmerz zeugender Weise ihr Gefühl der Ausbeutung artikulieren, begehren sie nur selten auf. Im Alltag finden sie sich in ihr Schicksal, eine Ware aus Fleisch und Blut zu sein; um trotzdem im eigenen Selbstverständnis ihre persönliche und berufliche Integrität zu wahren, führen sie drei verschiedene Argumente ins Feld.

Die erste Rationalisierung lautet, die Ausbeutung sei ohnehin alltägliche Normalität, selbstverständliche Lebensgrundlage des gewöhnlichen Daseins gewöhnlicher Leute, aus der eben jeder nur versuchen könne, das Beste zu machen. Unter diesem Blickwinkel unterscheidet sich der Boxsport nicht von übrigen sozialen Aufstiegsspielen, an welchen die jungen Proletarier aus den benachteiligten Stadtvierteln ihre Hoffnungen knüpfen, zumal der Zusammenbruch des öffentlichen Bildungssystems und das Überangebot an unqualifizierten Arbeitskräften sie zu einer sozialen Randexistenz verurteilt und sie von Anfang an um einen Großteil der Lebensmöglichkeiten betrügt. Mein Trainingspartner Butch drückt das so aus: „Da ist ein Kurs mit lauter Leuten aus armen Verhältnissen, die keine Ausbildung haben und nichts, und dann kommt da einer, der sagt dir: Ok Leute, wenn Ihr beiden gegeneinander antretet, kriegt ihr 150 Mäuse – wie sollst du da Nein sagen? Wenn die Typen Mäuse in der Tasche hätten und einen Job, würden sie nicht in den Ring steigen.“ Viele Boxer sind nicht nur nicht schlecht auf die Manager und Veranstalter zu sprechen, sondern sie sind ihnen nachgerade dankbar, weil diese ihnen die Chance gewähren, bei dieser Lotterie dabei zu sein (denn um nichts anderes handelt es sich beim Profiboxen).

Wie dem auch sei – das Boxmilieu genießt längst einen so schlechten Ruf, dass niemand, der sich hineinbegibt, ernstlich behaupten kann, er sei betrogen worden. Jeder der Beteiligten weiß: Das Profilager ist ein Haifischbecken, in dem verschlungen wird, wer nicht verschlingt. Explizit oder implizit weiß jeder, der beschließt, mit Boxen Geld verdienen zu wollen, dass er sich in eine subalterne, auf Überausbeutung basierende Position begibt.

Die zweite Erklärung, weshalb sich die Boxer ohne zu murren in ihr Schicksal fügen, liegt im Unternehmensgeist begründet, der das Gewerbe zu prägen scheint. Sobald die Faustkampfkünstler den Trainingsraum das erste Mal betreten, werden sie mit Bildern und Erzählungen vollgestopft, in denen davon die Rede ist, dass „hier“ sich das Individuum seinen Herausforderungen stellt; der Boxer wird zum modernen Gladiator stilisiert, der wild entschlossen ist, sein Schicksal in die eigenen – behandschuhten – Fäuste zu nehmen.

Dieses immer wieder vorgetragene Unternehmensdenken wurzelt in der spezifischen Erfahrung dieses Berufszweigs, der auf der Arbeit am und mit dem eigenen Körper beruht. Beim Training verwendet der Boxer seinen Körper zum einen als Rohstoff, zum anderen aber auch als Werkzeug, mit dem er ebendiesen Rohstoff nach den spezifischen Anforderungen des Gewerbes transformiert; er widmet sich einer hoch spezialisierten körperlichen Arbeit, deren Zweck in der Hervorbringung eines speziellen körperlichen Kapitals besteht, das dazu bestimmt ist, auf dem Boxmarkt verkauft und verwertet zu werden.

Mit einem morgendlichen Laufpensum von fünf bis zehn Kilometern, mit Schattenboxen, Sandsackarbeit, Seilspringen, Dehnübungen, endlosen Wiederholungen von Einzeltechniken und Sparring entwickelt der Boxer die in ihm „schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit“2 . Er transformiert seinen Organismus, eignet sich dessen Fähigkeiten an und züchtet aus den vorhandenen Anlagen buchstäblich ein neues körperliches Wesen. Und: Er verfügt über eine Bühne, auf der er seinen moralischen Wert unter Beweis stellen und ein die Normalität transzendierendes, heroisches Selbst aufbauen kann, um erfolgreich jener Bedeutungslosigkeit zu entrinnen, zu der sich Leute wie er – aus (sub-)proletarischeVerhältnissen stammend – gewöhnlich verurteilt sehen.

Zudem sind die speziellen Fähigkeiten, die der Boxer sich im Laufe seiner Berufstätigkeit erwirbt, unmittelbar in seinem Organismus angesiedelt und stellen somit sein persönliches und unveräußerliches Eigentum dar. Der Boxer ist ein Körperkünstler, ein Künstler des männlichen und gewalttätigen Körpers, der wie die Proletarier der industriellen Revolution stolz darauf ist, „einen Beruf zu haben“ und nicht nur „mit einem Beruf zu leben“3 .

Boxer sind Selfmademen im wahrsten Sinn des Wortes, denn sie bringen sich durch tägliche körperliche Arbeit selbst hervor – und sie sind es gerne. Nicht wenige von ihnen ergriffen den Beruf sowohl weil der Kampf sie faszinierte, als auch aus dem Wunsch heraus, der „Sklavenarbeit“ in der neuen Dienstleistungsökonomie zu entrinnen. Sie wollen niemandem „die Schuhe wichsen“, sich weder persönlich erniedrigen noch kulturell unterwerfen, oder gar ihre Mannesehre verlieren, nur um am Ende eines Monats einen Hungerlohn nach Hause zu tragen, der weder finanzielle Sicherheit noch Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Boxen ist für sie ein Weg, dem Schicksal perspektivloser „Herumjobberei“ ein Schnippchen zu schlagen.

Schließlich klammert sich der Boxer an die Vorstellung, er habe das Zeug zur Ausnahme von der Regel, er werde es wider Erwarten schaffen, das allgemein gültige Gesetz der Erpressung zu durchbrechen – ein Glaube, in dem er von allen interessierten Parteien, von seinem Trainer ebenso wie von seinen Freunden, Verwandten und Fans bestärkt wird.

Letztendlich trägt der Boxer selbst die Verantwortung für seine Ausbeutung: Wer sich am Ende der eigenen Großtaten rühmen will, muss auch bereit sein, das Martyrium eines beruflichen Scheiterns und der physischen Zerstörung auf sich zu nehmen. Recht betrachtet, erweist sich der Profiboxsport als ganz normales „kapitalistisches Business“. Wie jeder gute Unternehmer tut ein Veranstalter von Boxkämpfen nur seine Arbeit, wenn er sich auf dem Rücken der Kämpfer, deren Dienste er nicht müde wird zu loben, eine goldene Nase verdient. Der feste Glaube an die „Normalität“ der Ausbeutung, an die schöpferischen Potenzen des unternehmerischen Umgangs mit dem eigenen Körper und daran, dass es einem Menschen, wenn er nur besonders genug ist, gelingen kann, die Gesetze der Boxwelt zu durchbrechen – dieser Glaube ist es, der den Boxer im Innersten prägt, der ihn aber auch in einer Art kollektiver Selbsttäuschung veranlasst, sich zum Komplizen seiner eigenen Vermarktung zu machen.

Die ungewöhnliche Intensität der Ausbeutung in diesem Metier hängt zum einen mit der sozialen und ethnischen Distanz zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem zusammen, zum anderen damit, dass der Boxer als Kapital nur seinen trainierten Körper besitzt – und ein tapferes Herz, ohne das er seinen Körper in diesem harten und risikoreichen Geschäft nicht verwerten könnte. Die Manager und Veranstalter indessen verfügen über praktisch alle ökonomischen Ressourcen und Kompetenzen, die das Boxgeschäft erfordert. Die sozial und ethnisch subalterne Position der Boxer (und ihrer Zuschauer) erklärt auch, weshalb der Boxsport so gut wie keiner staatlichen Regulierung unterliegt – ein Sachverhalt, der seine Randstellung und sein schmutziges Image innerhalb des Profisports veranschaulicht. Mein Trainigspartner Smithie sieht die Sache so: „Wenn es in diesem Beruf Studierte, Diplomaten oder Leute aus anderen Zusammenhängen gäbe, könntest du sicher sein, dass die mehr Reglementierungen verlangen würden. Aber bei der Sorte von Leuten, die du in dem Beruf hast, sind solche Verhältnisse und Geschäftsmethoden eben angesagt. So bedingt eins das andere.“

dt: Bodo Schulze

* Professor an der Berkeley-Universität Kalifornien und Forscher am Centre de Sociologie Européenne,Autor von „Corps et âme“ (Agone, 2000) und „Elend hinter Gittern“ (Konstanz 2000).

Fußnoten: 1 U.S. Senate, Hearings on Corruption in Professional Boxing before the Permanent Committee on Governmental Affairs, 102nd Congress, 11. u. 12. August 1992, Washington (Government Printing Office) 1992, S. 10, 11 u. 30. 2 Karl Marx, „Das Kapital“, Bd. 1, MEW 23, S. 192. 3 Eric Hobsbawm (1938), „Artisans and Labour Aristocrats“, in „Workers: Worlds of Labour“, New York (Pantheon) 1984, S. 262.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von Von LOÏC WACQUANT