15.06.2001

Thailands Tragödie

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Thailands Tragödie

WAS soll ich denn sonst machen, auf den Strich gehen?“ Ebenso stolz wie resigniert schleudert mir die junge Frau den provozierenden Satz ins Gesicht. Sie wohnt am Rande der großen Slums von Klong Toey in Bangkok. Erst seit kurzem hat sie sich auf den Handel mit Amphetaminen eingelassen und verkauft nun die weißen Pillen, um sich und ihre Familie durchzubringen. Ansonsten müsste sie ihren Körper verkaufen oder ihre Tochter, was ihr zweifelsohne schon manch finsterer Geschäftemacher vorgeschlagen hat. Aber vielleicht ist ihr die Tochter auch schon zuvorgekommen, um der Mutter zu helfen. Seinen Körper zu Markte tragen oder ya ba, wie hier die Amphetamine heißen, unter die Leute zu bringen ist für die Schwächsten der Gesellschaft inzwischen die einzige Alternative. Denn die Krise von 1997 will einfach nicht enden.

Der massive Konsum von Amphetaminen ist neu in Thailand.1 Er steht symptomatisch für das zerrissene soziale Netz der Gesellschaft. Ebenso wie die abnehmende Durchlässigkeit der Gesellschaft, die Auflösung der Familienverbände, der rückläufige Schulbesuch der Kinder, die Verschuldung der privaten Haushalte sowie Schmarotzertum und Kriminalität gehört er zu den Phänomenen, die stets mit wirtschaftlicher Verarmung einhergehen. Professor Lae, Arbeitsökonom an der Universität Chulalongkorn, skizziert die zugespitzte soziale Lage: „Unsere Universitätsabsolventen finden keine Arbeit, die Arbeiter haben ihre Arbeitsplatzsicherheit verloren, und wer seinen Arbeitsplatz verteidigen konnte, muss viele Überstunden machen. Für die Ärmsten ist es sehr schwer, sich über Wasser zu halten.“ Die Einkommen der Mittelschicht und der Arbeiter sind um 30 Prozent gesunken und die Lebensbedingungen der Ärmsten, die sich in der immensen Schattenwirtschaft durchschlagen, haben sich erheblich verschlechtert.

In dieser Situation sind es die Frauen, die für den familiären und sozialen Zusammenhalt sorgen. Sie hatten als Erste unter der explosiv steigenden Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung2 zu leiden, die aus dem Zusammenbruch des Finanzsystems und der wirtschaftlichen Rezession resultierten. Sie wurden schnell aus dem offiziellen Arbeitsmarkt verdrängt. Viele von ihnen sind auf die Straße gegangen, um wie unzählige andere fliegende Händler Obst, Gemüse oder gegrilltes Fleisch feilzubieten. So machen sie ihren Leidensgenossinnen Konkurrenz, die sich bereits „einen festen Platz“ erobert haben, und kämpfen um eine Kundschaft, deren Kaufkraft stetig sinkt. Sie alle arbeiten „unter elenden Bedingungen und für einen Hungerlohn“, sagt Rakawin Leechanavanichpan von der Nichtregierungsorganisation Homenet Thailand.3

Für den US-amerikanischen Priester Father Joe, der seit über dreißig Jahren in Klong Toey lebt, ist die verzweifelte Lage dieser armen Frauen Ursache dafür, dass „Substanz und Moral der buddhistischen Gesellschaft zerstört“ werden. In allen Elendsvierteln der Hauptstadt, wo 20 Prozent der Bevölkerung Thailands leben, ist zu beobachten, dass die Gemeinschaften und die traditionellen Strukturen der Solidarität zerbrechen. Schon immer hat es in dieser stark inegalitären Gesellschaft Massenarmut gegeben, auch in den Jahrzehnten mit hohem Wirtschaftswachstum und rascher Industrialisierung. In den Achtziger- und Neunzigerjahren hofften die Thais jedoch, die Unterentwicklung zu überwinden, indem sie denselben Weg wie zuvor Japan, Südkorea und Taiwan einschlugen. Mit dieser optimistischen Erwartung standen sie nicht allein.

1995 hatte die Weltbank prognostiziert, dass das Königreich mit seinen 60 Millionen Einwohnern bis zum Jahre 2020 zur zehntstärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen könne. So absurd diese Prophezeiung heute erscheinen mag, damals war sie nicht unbegründet. Das Bruttoinlandsprodukt hatte sich in Thailand zwischen 1986 und 1997 vervierfacht. Diese Entwicklung ließ eine städtische Mittelklasse entstehen, die 1992 und 1993 zur treibenden Kraft der Modernisierung wurde. Zugleich wurde ein rudimentäres Sozialversicherungssystem für die Lohnempfänger geschaffen.

Im Unterschied zu Südkorea und Taiwan erreichte die Entwicklung in Thailand jedoch nicht die kritische Schwelle, die für einen dauerhaften Aufschwung erforderlich gewesen wäre. Das Königreich konnte sich nie völlig aus seiner landwirtschaftlichen Vergangenheit lösen. Andererseits verfügte es lediglich über einen primitiven Industriekapitalismus, der gänzlich auf die Vorgaben des Weltmarkts zugeschnitten war. Wie Pansak Vinyaratn, der schillernde Berater des neuen Premierministers Thaksin Shinawatra4 , hervorhebt, hat sich die Abhängigkeit des Landes in drei Phasen entwickelt: „In den Sechzigerjahren waren wir ein Stützpunkt für die B52 der amerikanischen Luftwaffe. Wir exportierten vor allem Rohstoffe und Rohprodukte. Im darauf folgenden Jahrzehnt wurde ganz Thailand in einen Montagebetrieb verwandelt. Und dann strömte spekulatives Kapital aus dem Ausland in unser Land.“

So wurde die Entwicklung in Thailand tatsächlich den Bedürfnissen zweier dominierender Volkswirtschaften untergeordnet, zunächst der amerikanischen Wirtschaftspolitik zur Zeit des Kalten Krieges in den Sechzigerjahren und dann dem Produktionssystem, das Japan in den Achtzigerjahren in der Region durchsetzte. Gewiss sorgten die Amerikaner für strategisch wichtige Infrastrukturen und förderten den Export bestimmter Agrarprodukte wie Reis, Kautschuk oder Rohrzucker. Und die Investitionsströme aus Japan schufen in der Tat ein neues Produktionsnetz, drängten allerdings zugleich der thailändischen Wirtschaft eine enge industrielle Spezialisierung auf und stellten die Weichen für eine sehr einseitige Entwicklung. Bereits seit 1996 haben der Textil- und der Elektroniksektor an Schwung verloren, nachdem Länder wie China auf den Plan traten, wo die Arbeitskosten „konkurrenzfähiger“ waren. Und schließlich hat in den Neunzigerjahren die fatale Öffnung des Landes für internationale Kapitalströme dazu geführt, dass die Renditeerwartungen internationaler Anleger die Wirtschaft beherrschten. Als dann 1997/98 die Spekulationsblase platzte, war dies der letzte Akt einer angekündigten Tragödie.

Von dieser Tragödie zeugen die zahlreichen, bizarren Betonskelette, die in der tropischen Feuchtigkeit Bangkoks langsam verrotten. Sie wurden in all den Jahren des starken Aufschwungs, der ostentativen Bereicherung und der Immobilienspekulation völlig unkontrolliert und auf Kredit errichtet. Man sieht sie überall, im Zentrum wie an der Peripherie dieser zu schnell gewachsenen Metropole. Sie sind die Hinterlassenschaften einer Öffnung, die von den internationalen Finanzinstituten gefordert und von den Wirtschaftseliten vor Ort übereifrig erfüllt wurde.

Die Strategie der Industrialisierung durch Exporte ist am Ende. Und der japanische „Flug der Wildgänse“, der die asiatischen Länder etappenweise auf ein immer fortgeschritteneres Niveau der Industrialisierung führen sollte, ist vorüber.

Um den Druck von außen zu lockern, schlagen manche thailändischen Ökonomen nun eine stärkere regionale Integration vor. Andere wie Vinyaratn plädieren dafür, dass Thailand sich wieder mehr auf Branchen konzentriert, die den Schwankungen des Weltmarktes nicht so ausgesetzt sind, wobei die Landwirtschaft sowie kleine und mittlere Unternehmen zu fördern wären. Dieser Vorschlag ist nicht allzu weit entfernt von den Ideen, die König Bhumipol Adulyade (Rama IX.) nach der Krise geäußert hat. Der Monarch plädierte damals dafür, dass sich das Land in Richtung Autarkie entwickeln und seine lokalen Ressourcen besser erschließen solle. Freilich haben beide Strategien, die ohnehin nur auf lange Sicht zu verwirklichen wären, auch ihre Grenzen. Für die erste bräuchte es eine regionale Führungsperson, die derzeit nicht ist Sicht ist. Die zweite scheitert an der Tatsache, dass die Landwirtschaft gegenwärtig kaum 12 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt (gegenüber nahezu 26 Prozent im Jahre 1980) – verglichen mit den 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die allein durch die Exporte in die Vereinigten Staaten erzielt werden, ist das wahrlich nicht viel.

Die neue Regierung, die in ihrem Wahlprogramm den Bauern und den Unternehmern Hilfe versprochen hatte, versucht unterdessen, bei dem eingeschlagenen Weg in den Kapitalismus zu bleiben. Ihr Programm zur Rückzahlung fauler Kredite von öffentlichen und privaten Banken (28 Milliarden Euro bei staatlichen Banken und 6,3 Milliarden bei privaten Banken) ist umstritten, denn die Kosten für die Umstrukturierung im Bankensektor würden so auf den Steuerzahler abgewälzt. Offiziell verfolgt das Programm das Ziel, Kredite, Investitionen und den privaten Verbrauch anzukurbeln – allerdings will man zugleich auch vermeiden, dass Thai-Firmen in ausländische Hände fallen.

Keiner kann sagen, was vom industriellen Gefüge des Landes übrig bleibt, wenn die Privatisierungen des öffentlichen Sektors einmal abgeschlossen sind. 1998 hat der IWF als Gegenleistung für seine Finanzhilfe gefordert, dass nicht nur die rentablen großen Staatsunternehmen wie Thai Airways International, sondern auch andere, ähnlich ertragreiche öffentliche Dienstleistungen wie Wasser- und Stromversorger und auch die Universität Chulalongkorn privatisiert werden. Die heftige Reaktion der Bevölkerung und der Widerstand innerhalb des Managements in den öffentlichen Unternehmen selbst haben diese Pläne zunächst verzögert, die Privatisierungen dürften dennoch weitergehen.

Die aktuelle Situation mag die Thais an ihre Vergangenheit erinnern. Zwar ist das Land im 19. Jahrhundert der direkten Kolonisierung entgangen, wirtschaftlich jedoch stand es unter der Herrschaft der Kolonialmächte. Sein Bankensystem wurde von der Hong Kong Shanghai Bank verwaltet, und im Handel dominierten die großen englischen Trading Companies mit ihren einseitigen Verträgen. Als 1932 mit der Revolution die konstitutionelle Monarchie eingeführt wurde, stand dahinter keine einheitliche Ideologie. Die Volkspartei wollte „das Land völlig unabhängig von ausländischen Mächten“5 machen und führte deshalb die antikolonialen Bestrebungen der neuen Handelsbourgeoisie, der Militärs und der politischen Eliten zusammen. Pridi Bonyamyong, der Autor des Parteiprogramms, hatte damals auch ein ehrgeiziges Sozialprogramm für die Bauern (Verstaatlichung der Ländereien und Lohnempfängerstatus für die Bauern) proklamiert – allerdings ohne jeden Erfolg.

Das heutige Thailand ist alles andere als „völlig unabhängig“. Mühsam kämpft es dafür, wenigstens kleine Handlungsspielräume zu erlangen. Die staatliche Führung versucht, die Kontrolle zurückzugewinnen. Und auf sozialem Gebiet ist noch unendlich viel zu tun.

dt. Erika Mursa

* Journalist

Fußnoten: 1 Laut Auskunft von Antidrogenorganisationen werden jährlich 600 bis 700 Millionen Einheiten dieser synthetischen Droge hergestellt. Zum einen in Birma von der mit der dortigen Junta verbündeten Wa-Armee, zum anderen illegal in Thailand. Unlängst hat die Regierung erklärt, dass es sich um ein Problem von nationaler Dringlichkeit handle. 2 Wer mindestens eine Stunde in der Woche arbeitet, zählt nicht als arbeitslos. Um so vielsagender ist die offizielle Arbeitslosenquote von 7,5 Prozent. 3 Laut Angaben der Weltbank sind nahezu zwei Drittel der Beschäftigten in der Schattenwirtschaft tätig. 4 Der Multimilliardär Thaksin Shinawatra steht an der Spitze der Partei Thai Rak Thai („Thais lieben Thais“). Chaun Leekpai, Führer der Demokratischen Partei, war seit 1997 an der Macht. Die Umsetzung seiner Politik der Sparmaßnahmen hat ihm im April dieses Jahres den Wahlsieg gekostet. 5 Zitiert nach Pasuk Phongpaichit und Chris Baker in „Thailand, Economy and Politics“, Oxford UP 1995, S. 116.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von PHILIP S. GOLUB