15.06.2001

Der kleine Widerstand gegen die große Gasprom

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Der kleine Widerstand gegen die große Gasprom

GEGEN das ausbeuterische System und die menschenunwürdigen Lebensumstände in Russland regt sich – wenn auch nicht immer sichtbar – mannigfacher und immer neuer Widerstand. Das große Heer der Arbeiter, die in ständiger Unsicherheit am unteren Rand der Gesellschaft ein mehr als dürftiges Leben führen, macht von unten betrachtet einen ganz anderen Eindruck als von den olympisch-hochtrabenden Höhen des Kremls. Aber die Distanzen sind da: In den Augen der einfachen Bürger erscheinen sie unüberwindbar und sorgen dafür, dass jede öffentliche Demonstration von Widerstand ausbleibt. Und darin liegt auch der Kern des Problems: in dieser Farce von einer Demokratie, die einzig und allein den neuen Kapitalisten und Politikern als Legitimierung dient und jede Form des Protests unterbindet, verunglimpft oder vereinnahmt.

Und doch gelingt es mitunter, den Protest in die Öffentlichkeit zu tragen, bisweilen sogar, die Mächtigen in einem Unternehmen, einer Stadt, einer Region – nur ausnahmsweise auch die Moskauer Machthaber – zum Einlenken zu zwingen. In dieser Hinsicht erweisen sich die Astrachaner als verblüffend aktiv und kämpferisch. Die neue, linke Gewerkschaft Saschtschita (Verteidigung) hat in der Region eine ihrer Hochburgen. Seit Mitte der Neunzigerjahre schaltet sie sich bei den sozialen Auseinandersetzungen ein. Sie ist in mehr als fünfzig Unternehmen vertreten und leistet einen wichtigen Beitrag bei Vereinsgründungen, zum Beispiel von Rentnern, Einzelhändlern, Flüchtlingen oder auch Bewohnern ärmerer Viertel.

Im vergangenen Jahr löste die Ermordung von Oleg Maksakow, dem jungen Gebietsvorsitzenden der Gewerkschaft, allgemeines Entsetzen aus. Er wollte sich bei den nächsten Regionalwahlen als Kandidat aufstellen lassen und hatte eine Untersuchung vorangetrieben, die die illegalen Geldgeschäfte einer Reihe von Unternehmensdirektoren aufdecken sollte. Die Empörung über seine Ermordung und eine wachsende gesellschaftliche Mobilisierung führten dazu, dass ein anderer Gewerkschaftsführer, Oleg Schein, in die Staatsduma gewählt wurde. Um sich gegen Direktoren oder Lokalpolitiker wirklich zur Wehr zu setzen, müssen die Männer und Frauen ihren ganzen Mut zusammennehmen und dem enormen Druck standhalten, dem jede gewerkschaftliche Aktivität, überhaupt jede derartige Initiative ausgesetzt ist.

So wurden im Juni 1998 bei einem Baukombinat 102 Beschäftigte entlassen – wie zufällig waren sie allesamt Saschtschita-Mitglieder. Diese Provokation ließ viele Menschen im gesamten Astrachaner Gebiet politisch aktiv werden. Schließlich wurde sogar ein „Zeltdorf“ vor dem Gebäude der Gebietsverwaltung errichtet. Dieser augenfällige Protest vor seinen Fenstern zwang den Gouverneur schließlich, auf die Streikenden zuzugehen.

Kontrollkommissionen wurden eingesetzt, denen auch Vertreter aus dem Zeltdorf angehörten. Sie förderten eine erstaunliche Menge an illegalen Praktiken seitens der Direktoren zu Tage: quasi kostenlose Errichtung von Privathäusern, Transfer von Unternehmensmitteln an Offshore-Firmen, schenkungsartiger Verkauf von Betriebsmaterial und -anlagen an Unternehmen, die Mitgliedern der Firmenleitung gehörten, Unterschlagung, ungerechtfertigte private Ausgaben, unverhältnismäßig hohe Gehälter der Führungsspitze usw. Der Konflikt ging für diejenigen, die ihn losgetreten hatten, gut aus: Die Entlassenen wurden wieder eingestellt, und sie bekamen ihre Löhne ausbezahlt. Die Gewerkschaft ging aus den Kämpfen gestärkt hervor. Sie erreichte sogar, dass der zuständige Staatsanwalt seinen Hut nehmen musste, weil er die Augen vor den Machenschaften der Direktoren verschlossen und mehrfach die Spezialeinheiten der Polizei angewiesen hatte, gegen die Demonstranten vorzugehen.

Mit einem Minimum an Mitteln hat Saschtschita ein ungeheures Gewicht in der Region. In der überregionalen Presse wird die Gewerkschaft nie erwähnt, aber hier kennt sie jeder. Sie leistet tägliche Schulungs- und Mobilisierungsarbeit. So gehen ihre Aktivisten zu neu gegründeten Gewerkschaften und erklären, was Saschtschita ist, was die Mitglieder erwarten dürfen und was sie riskieren, wenn sie einem Verband angehören, den die Firmenbosse ablehnen.

Gewerkschafter wie sie gibt es zuhauf. Das Resultat lässt sich sehen: Inzwischen ist ein verzweigtes Netz von Gewerkschaftsmitgliedern und Sympathisanten entstanden, die politisch unterschiedliche und oft nicht sehr gefestigte Auffassungen vertreten. Die Lebenssituation dieser Menschen, ihre Motive und Ideen sind zwar sehr verschieden, aber sie teilen den Willen, sich der Willkür zu widersetzen, ihre Rechte und ihre Würde zu verteidigen. Da ist zum Beispiel Igor, dicklich, redselig, freundlich, ein georgischer Händler, der Saschtschita unterstützt, weil er „unter der roten Fahne geboren“ ist. Oder Irina, sie ist eine junge, allein stehende Mutter, einnehmend und dynamisch, und besitzt auf dem städtischen Markt einen kleinen Kiosk; eines Tages hat sie beschlossen, sich „die Scherereien mit den Behörden und die Steuern, die den Kleinhändlern die Luft abdrücken, nicht mehr gefallen zu lassen“. Oder die romantisch-exzentrische Tanja, die an einer Vorortschule eine alte Gewerkschaft zu neuem Leben erweckt hat, um die Zahlung der Lohnrückstände zu fordern. Oder Alexandr, Sergei und all die anderen kräftigen Burschen, die „zehn Rebellen von Wega“, die seit zwei Jahren gegen die Gasprom und die Justiz des ganzen Landes kämpfen: Sie hatten zehn Jahre lang unwissentlich mit radioaktivem Material zu tun und verlangen nun Schadenersatz.1

Schließlich sind da noch die Männer und Frauen, die in der Umgebung von Astrachan in Arbeitersiedlungen „unter extremen hygienischen Bedingungen“ leben. Sie gehen auf die Straße und fordern von der Leitung des Gaskombinats andere Wohnungen. Tagtäglich sind sie den Emissionen des Gaswerks ausgesetzt, aber die Direktoren haben ihre Versprechungen längst vergessen und wollen nichts mehr davon wissen, dass sie die Menschen in den Achtzigerjahren holten, um das Kombinat zu bauen, und sie angeblich nur „vorübergehend“ in den ärmlichen Behausungen einquartierten.

Bürgerinitiativen wurden gegründet, meist unter der Leitung von Frauen, die den Kampf koordinieren. Ihre Wut auf die korrupte Justiz und den Zynismus von Gasprom ist so groß, dass sie zu allem bereit sind. Sie haben dem Gouverneur sogar mit einem Aufstand gedroht, als er sich weigerte, mit den Demonstranten zu sprechen. „Sie haben sogar die Unverschämtheit besessen, alle Arbeiter aus der Anfangszeit zu entlassen, nur damit sie ihnen keine Ersatzwohnungen zur Verfügung stellen müssen. Jetzt sollen wir wohl in verfallenden Baracken und ohne Geld brav ausharren, bis wir ersticken. Nein, wir kämpfen bis zum Schluss. Die Bevölkerung ist mobilisiert und zeigt sich solidarisch mit uns, manche kommen sogar aus Astrachan herüber, um uns zu unterstützen“, erzählen Tamara und Elvira, beide Vorsitzende von Bürgerinitiativen.2 Nach mehreren Tagen mit Demonstrationen und Straßenblockaden haben sie die lokalen Behörden und die Direktoren von Gasprom Astrachan dazu gebracht, einen Umsetzungsplan vorzulegen, der unter Kontrolle der Bürgerinitiativen Wirklichkeit werden soll.

K. C.

Fußnoten: 1 Le Monde, 14. September 2000. 2 Siehe das Interview auf der Website http://www.left.ru.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von K. C.