15.06.2001

Keine Entwicklung und viel Kokain

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Keine Entwicklung und viel Kokain

SEIT 1997 hat die internationale Gemeinschaft ihre Kredite für Haiti eingefroren. Im Mai dieses Jahres hat der Präsident der benachbarten Dominikanischen Republik, Hipolito Mejia, energisch dafür plädiert, diese Hilfe wieder aufzunehmen. Er befürchtet andernfalls, die Armut und Instabilität in Haiti könnten den Frieden und die Sicherheit in der ganzen Region gefährden. Denn das politische Vakuum und die Lähmung der staatlichen Institutionen in Haiti haben nur die Mafia stark gemacht. Der Drogenumsatz hat sich in vier Jahren verdreifacht, zunehmend gerät die „Perle der Antillen“ in den Verruf, ein idealer Drogenumschlagplatz zu sein. Von CHRISTOPHE WARGNY *

Blättert man in dem noch druckfrischen Reiseführer, der, wundervoll und reichhaltig illustriert, soeben im Pariser Verlag Gallimard1 erschienen ist, würde man am liebsten gleich ein Schiff besteigen und zur „Perle der Antillen“ fahren. So nannte man Haiti im 18. Jahrhundert, doch heute ist die Insel, touristisch gesehen, ein Niemandsland. Die einzigen Besucher sind ein paar Emigranten auf Heimaturlaub. Noch nie war die soziale und wirtschaftliche Situation Haitis so katastrophal und sein politisches Ansehen im Ausland so miserabel wie heute. Allgemeine Armut, Verelendung, Verfall, Auflösung, ein Albtraum, Havarie, Zusammenbruch, Kreuzweg, Chaos, Apokalypse: Die Presse spielt bei dem Versuch, die Situation in Worte zu fassen, alle Varianten durch, bemüht sogar Metaphern aus der Bibel. Nach fünfzehn Jahren des Übergangs zur Demokratie und einer höchst inkonsisteten Haltung der internationalen Gemeinschaft ist es fast schon wieder so weit, dass ein Teil der öffentlichen Meinung der Marionette Jean-Claude Duvalier nachtrauert.

Die Verantwortungslosigkeit der politischen Klasse Haitis ist beispiellos: Eineinhalb Jahre gab es keinerlei Regierung (Juni 1997 bis Dezember 1998), danach ebenso lang keine Nationalversammlung (Januar 1999 bis Mai 2000), dann folgten ein Jahr lang Wahlkampf und Protestaktionen2 .

Wer sich mit der intellektuellen Elite unterhält, die oft an den besten internationalen Hochschulen studiert hat, wird sich über die unbewusste Verachtung wundern, die diese für das ärmste Volk des ganzen amerikanischen Kontinents an den Tag legt. Die Unsicherheit wächst – und mit ihr die Einschränkungen der Freiheit. Die Opposition gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide – die zwar in der Minderheit und höchst uneinheitlich ist, zugleich aber in den Hauptstädten der Welt ein gewisses Ansehen genießt – fordert den Neuaufbau der Armee, die Präsident Aristide 1995 per Dekret abgeschafft hat.

Die Wahlen vom November 2000, die zu einer Erneuerung aller Institutionen des Landes führten, waren formal zwar in mancherlei Hinsicht anfechtbar, insgesamt aber kann der überwältigende Sieg von Aristides Partei Lavalas wohl als unstrittig gelten. Trotzdem haben diese Wahlen – so paradox es klingt – den Niedergang und die Isolation des Landes weiter vorangetrieben. Das Ausbleiben der seit vier Jahren weitgehend eingefrorenen internationalen Hilfsgelder ist allenthalben grausam spürbar. Sie haben den gleichen Umfang wie der Gesamtetat des Landes, das mit Mühe in der Lage ist, seine Beamtengehälter – mit großer Verspätung – zu zahlen und die nötigen 20 Prozent für den Schuldendienst pünktlich aufzubringen.

Damit ist eine der drei Säulen der haitianischen Wirtschaft weggebrochen, die fünfmal so viel importiert, wie sie exportiert, und aus nicht viel mehr als einem informellen Sektor besteht. Von internationaler Seite fließen weiterhin lebenswichtige, aber unkontrollierte Beiträge der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ins Land. Es handelt sich dabei um mehr als 250 vorwiegend US-amerikanische Organisationen, darunter viele religiöse Sekten, die eher missionieren als Entwicklungshilfe leisten. Einen noch größeren Beitrag zum wirtschaftlichen Überleben leisten die Emigranten. Die zwei Millionen Haitianer, die in New York, Miami, Montreal und auf anderen Antilleninseln leben, überweisen fast eine Milliarde Dollar, das Dreifache des Staatshaushalts, ermutigen zugleich aber mit ihrem „Erfolg“ sowohl die Boat People als auch die Wissenschaftler des Landes, ihr Heil in der Flucht zu suchen.

Die dritte Säule der Ökonomie sind die Drogen. Auf der Insel werden sie weder produziert noch konsumiert. Aber ein Sechstel des Kokains, das in die Vereinigten Staaten gelangt (zumeist über Florida) kommt aus Haiti. Nach Angaben der Drug Enforcement Administration (DEA) haben die Zahlen im Jahr 2000 einen neuen Rekord erreicht und liegen damit höher als in Zeiten der Militärjunta zwischen 1991 und 1994. Der letzte Bericht des State Department spricht von „67 Tonnen Kokain, die 1999 aus Südamerika über Haiti befördert wurden, gegenüber schätzungsweise 54 Tonnen im Jahr 1998, das heißt 15 Prozent des gesamten in die USA eingeschleusten Kokains“.3 Die abgefangenen Mengen dagegen sind äußerst bescheiden. Haiti ist einer der sichersten Transitwege der Welt.

Die Polizei hält die Hand auf . . .

HAITIS Lage zwischen Kolumbien und Florida ist ideal: 1 500 Kilometer Küste und ein Luftraum ohne Überwachung. Für das mittellose Land ohne Staat ist weiterhin typisch, dass eine preisgünstige Korruption weit verbreitet ist. Als „a failed state“, einen Staat ohne Zukunft, hat Warren Christopher, Außenminister der Clinton-Regierung, das Land charakterisiert. Ein solcher zusammengebrochener Staat ist das gelobte Land für die kolumbianischen Rauschgifthändler, die in einem der Paläste – El Rancho – von Pétionville wohnen. Dieses Villenviertel oberhalb von Port-au-Prince scheint irgendwo anders, jedenfalls nicht in Haiti zu liegen. Es ist zugleich der einzige Ort auf der ganzen Insel, wo das Hauspersonal Spanisch beherrscht.

Das Kokain kommt in Schnellbooten oder mit kleinen Flugzeugen von überall her – und nicht immer klammheimlich. Im Oktober 2000 landete im äußersten Nordwesten in der Nähe von Le Môle Saint Nicolas auf einer undeutlich markierten Landebahn ein kolumbianisches Flugzeug mit 400 Kilogramm Kokain. Der Empfänger: die lokale Polizei, die die Maschine schon erwartet hatte. Ob es eine Indiskretion oder Absicht war: die Bevölkerung war bereits informiert und verlangte ihren Anteil. Das ist an diesem wie an anderen Landepunkten bereits zur Gewohnheit geworden. Die Polizei aber wollte in diesem Fall nicht teilen, was sie nur weitertransportieren sollte. Die Bauern errichteten Straßensperren und eroberten das Transportauto der Polizei mitsamt dem Rauschgift. Die Ordnungshüter ergriffen panisch die Flucht. Nachdem auch der Pilot das Weite gesucht hatte, wurde das Flugzeug angezündet. Einige Tage darauf erschienen Polizei und Zivilbeamte der Antidrogenabteilung aus Port-au-Prince, um zu retten, was noch zu retten war – mit Zwangsmaßnahmen oder durch gutes Zureden.

Heute kann man in den Orten, wo die Kokainfracht vorbeigekommen ist, gelegentliche Anzeichen von Bereicherung feststellen. Die erfolgte in Form einer prozentualen Beteiligung oder aber als Lohn für die private Weiterbeförderung nach Port-au-Prince, unter einer Ladung Holzkohle versteckt. Solche Einnahmen sind verlässlicher, als wenn man auf dem dürren Boden etwas aussäen würde. Der Polizeichef Michel Denizé hätte ein paar Leute von seiner vierzig Mann starken Antidrogenspezialtruppe schicken können. Er hat es nicht getan. Seit die Armee aufgelöst ist, wird die örtliche Polizei von der UNO ausgebildet und macht großteils mit der Mafia gemeinsame Sache. Warum sollte man als Polizist in Miragoave, einem kleinen Hafen, in dem alles Mögliche geschmuggelt und verschoben wird, für 300 Dollar im Monat die Augen offen halten, wenn man sie für zehnmal so viel Geld zudrücken kann? Was heißt, dass man sich ein großes Haus mit Bediensteten und Generator und einen Landrover leisten kann.

Sieht man von der Hauptstadt ab, deren Einwohner schwer unter der Unsicherheit zu leiden haben, ist die Haltung der Bevölkerung unentschieden. In Miragoave verschafft der Drogenhandel einem Teil der Bewohner Arbeit (Transport, Tarnung, falsche Papiere etc.) und sichert die Versorgung des inoffiziellen Handels. In Cap Haïtien findet man Leute, die auf die raffiniertesten Drogenverstecke spezialisiert sind und sogar die Kontrolleure des amerikanischen Zolls überlisten.

Für die internationale Gemeinschaft stellt es eine schwere Schlappe dar, dass ausgerechnet diese Polizei von ihr ausgebildet wurde. Anfangs waren es sechstausend, inzwischen sind es noch knapp dreitausend Mann. Zwar gab es ein paar Amtsenthebungen wegen erwiesener Korruption unter Präsident René Préval, aber andererseits haben zahlreiche ehemalige Armeeangehörige, echte Profis in Sachen Veruntreuung und sonstiger schmutziger Geschäfte, in dieser Polizei wieder Unterschlupf gefunden. Die Folge war, dass viele integre Polizisten die Truppe verlassen haben. So ist die Gruppe von etwa hundert im kanadischen Régina ausgebildeten Offizieren – ein Drittel von ihnen Haitiano-Kanadier – an der Konfrontation mit der haitianischen Wirklichkeit, mit der Schwäche der Politik und der Stärke der Clans und mit einem verkommenen Rechtssystem zerbrochen. „Es gab aberwitzige Befehle, nicht einzugreifen, wenn wir gerufen wurden“, empört sich Gérard, einer der Letzten, die den Dienst quittiert haben. „Festgenommene wurden erpresst, Leute völlig willkürlich versetzt, private Wohnsitze gegen Bezahlung überwacht. Das war das Gegenteil dessen, was wir gelernt hatten. Da war ich nur ein Störfaktor.“

Auf der Straße sind keine Polizisten zu sehen, vereinzelt trifft man welche auf ihren Polizeirevieren an. Ein Drittel gehört zu den Eliteeinheiten, die vom Präsidentenpalast befehligt werden. Man kann in Haiti übrigens auch zu Geld kommen, indem man eine der zahllosen privaten Polizeiagenturen betreibt. Die Bewohner von Port-au-Prince bekommen zwar keine Polizisten in staatlicher Uniform zu sehen, dafür aber auf der Straße, in Banken und vor den vornehmeren Wohnhäusern auf Schritt und Tritt bewaffnete Milizionäre. Jeder noch so kleine Supermarkt wird hier von einem Mann mit geschulterter Uzi bewacht.

Tankstellen mit Shops, Banken, Import-Export-Geschäfte und vor allem Wohnhäuser schießen in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden, auf den Straßen fahren immer mehr Luxus-Jeeps. Doch in Haiti wird nur der kleinere Teil der Drogengelder investiert (ein Großteil geht in sichere Länder, allen voran die USA). Die Banken nehmen es mit dem Gesetz zur Beschränkung von Geldtransaktionen nicht sonderlich genau. Die Reichen von Pétionville geben ihr Geld höchst locker und protzig aus, aber es fließt kaum in die Taschen der Händlerinnen und Hausangestellten. Nur das lokale Baugewerbe erfährt einen unbestreitbaren Aufschwung.

Die massive Präsenz von UN-Soldaten nach 1994 hatte dazu beigetragen, dass die Drogengeschäfte auf dem Kokainumschlagplatz Haiti zurückgegangen sind. Aber die Ausbildung der Polizei war weder von entscheidenden Veränderungen in der Justiz noch von dem versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung begleitet. Ein Dealer bleibt hier nie lange im Gefängnis. Wer vermag schon etwas gegen den Druck der narcos oder gegen die mächtigen Familienclans und korrupten Fraktionen des Staatsapparats? Die Machenschaften des Senators Dany Toussaint (Lavalas-Partei), der von der amerikanischen Justiz des Drogenhandels und der Beteiligung an einem Mord in Haiti verdächtigt wird, kommen nach und nach ans Tageslicht. Mit Hilfe eines Teils der Polizei wird sich am Ende herausstellen, dass auch andere Politiker mit dem Drogenhandel unter einer Decke stecken.

Das Drogengeschäft hat sich mittlerweile zu einem wichtigen Sektor der haitianischen Wirtschaft entwickelt: Es schafft Arbeitsmöglichkeiten, bringt – wenn auch nicht sehr viel – Geld in Umlauf, verbindet sich mit anderen Formen des Schmuggels, lässt die lokale Bevölkerung ab und zu unerwartet an seinen Gewinnen teilhaben, bringt Aufträge für die Geldwaschanlagen, finanziert auf indirekte Weise einige Mitglieder der politischen Klasse, bewirkt ein Wachstum in der Baubranche, das seinerseits dem Großbürgertum zugute kommt. Ganz ohne Zweifel ist das Drogengeschäft weitaus lukrativer als der Export von weltweit hoch geschätzten Kunstobjekten oder im Hafengebiet zusammenmontierten Geräten. Dort müssen sich die wenigen Industriellen auf Rauschgift abgerichtete Spürhunde halten, damit in ihren Containern keine unliebsamen Beiladungen gefunden werden können.

Das für das Jahr 2004, das zweihundertste Jubiläum der Unabhängigkeit, angekündigte umfangreiche Entwicklungsprogramm scheitert vorläufig an den internationalen Sanktionen. Wie soll ein Land wie Haiti, das seit Jahren vergeblich auf die dringend benötigte Entwicklungshilfe und insbesondere auf die umfassende Neuorganisation aller staatlicher Strukturen wartet – wie soll ein solches Land auf die heimlichen Erträge aus dem Drogengeschäft verzichten? Um sich dem riesigen Nachbarn in Erinnerung zu bringen, der für Haiti nur Verachtung übrig hat, hat das Land nur wenig Hebel zur Verfügung: das Rauschgift, die Boat People und vielleicht die Solidarität der Schwarzen in den USA.

. . . und drückt beide Augen zu

EIN 1997 von Präsident Préval gebilligter Vertrag gibt den US-amerikanischen Spezialeinheiten unbegrenzte Befugnisse, in den Hoheitsgewässern und im Luftraum Haitis einzugreifen. Dabei zeigt sich, dass die US-Küstenwache weit mehr hinter den Boat People in ihren schwerfälligen Kähnen her ist als hinter den wendigen Schnellbooten aus Kolumbien. Die CIA unterhält Agenten in der zum Teil in den USA ausgebildeten Polizei. An der Grenze zur Dominikanischen Republik, wo eine eigens dafür ausgebildete lokale Spezialeinheit stationiert ist, wird weder der Migrantenstrom (100 bis 200 Haitianer pro Tag) noch der Transit des „Puders“ von den haitianischen in die dominikanischen Häfen aufgehalten.

Haiti hat für das Jahr 2000 das alljährlich von der amerikanischen Regierung erteilte Zeugnis für gute Führung zwar nicht ausgestellt bekommen, steht aber auch noch nicht auf der Liste der „Drogenstaaten“. Diesen Schritt könnte aber die neue republikanische Regierung vollziehen, die gegen die Intervention von 1994 und die Wiedereinsetzung von Aristide war, und die ohnehin wenig für Entwicklungspolitik übrig hat. Was ist schon Haiti? Ein idealer Sündenbock, der das inkonsequente Verhalten der USA kaschiert: auf der einen Seite dem Drogenhandel den Kampf anzusagen und auf der anderen Seite einen grenzenlosen Marktliberalismus zu verfechten.

Dies alles entlässt Präsident Aristide in seiner zweiten Amtsperiode freilich nicht von der Verantwortung, die ernsthaften Probleme innerhalb seiner Polizei anzupacken. Seine Aufgabe wäre es, die Polizei wieder mit sinnvollen Aufgaben zu betrauen: der Gewährleistung der Freiheit und dem Kampf gegen die Unterwelt. Ist es nur ein Zufall? Die Zöllner in Miami scheinen seit Januar 2001 bessere Informationen zu haben: Die sichergestellten Drogenmengen liegen deutlich über den Vorjahresergebnissen.4

Es steht jedoch zu befürchten, dass alles beim Alten bleibt: die Bauern in Port de Paix und die Hafenarbeiter in Miragoave werden weiterhin darauf hoffen, dass sie ihre Arbeit nicht verlieren oder dass ein paar Dollars vom Himmel fallen. Und die Herrschaften von El Rancho können weiter in ihrem Pool schwimmen.

dt. Uli Aumüller

* Außerordentlicher Professor am Conservatoire national des arts et métiers (CNAM), Paris.

Fußnoten: 1 „Haïti“, Paris (Gallimard, Guide Découverte) 2001. 2 Siehe „Letzte Chance für Aristide“, Le Monde diplomatique, Juli 2000. 3 Erklärung von Madeleine Albright, laut Reuters vom 3. Januar 2000. 4 Miami Herald, 16. Januar 2001, und Associated Press, 1. Februar 2001.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von Von CHRISTOPHE WARGNY