Die Taliban, Pakistan und der Westen
NIRGENDWO auf der Welt wird das islamische Recht so rigoros exekutiert wie in Afghanistan: Frauen dürfen weder arbeiten noch Auto fahren, unlängst wurden historische Buddhastandbilder gesprengt, Hindus müssen einen daumengroßen gelben Fleck auf der Kleidung tragen. Das Land ist diplomatisch und wirtschaftlich isoliert. Doch das Embargo des UN-Sicherheitsrats trifft vor allem die Bevölkerung, die ohnehin schon unter den Folgen der Dürre leidet, während die ultrafundamentalistischen Taliban sich weiter radikalisieren. Damit haben die westlichen Regierungen die Suche nach einer politischen Lösung faktisch aufgegeben, obwohl sie wissen, dass ein militärischer Sieg über die Taliban unmöglich ist. Von GILLES DORRONSORO *
Lasst die Taliban gewinnen, und bestraft Afghanistan mit Isolation! Diese widersprüchliche Doppelparole kennzeichnet, jenseits der moralischen Proklamationen über die Menschenrechte und der Suche nach einer politischen Lösung, die Politik des Westens gegenüber Kabul. Seit 1989 die sowjetischen Truppen abzogen und 1992 die Regierung gestürzt wurde, spielt Afghanistan für die internationale Politik eine immer unwichtigere Rolle.
Die externen Hauptakteure im Bürgerkrieg zwischen 1992 und 1996 waren regionale Mächte, nämlich Pakistan, Iran und Russland. Deren Konfrontation trug dazu bei, dass 1994 die Taliban auf die Bühne traten, eine ultrafundamentalistische Bewegung aus dem Süden des Landes. Dank massiver militärischer Unterstützung durch Pakistan, aber auch eines gewissen Rückhalts in der Bevölkerung, gelang es den Taliban, alle Städte, im September 1996 schließlich auch Kabul zu erobern.
Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen des Taliban-Regimes stoßen immer wieder auf heftige internationale Kritik: von der Unterdrückung der Frauen über die Zerstörung der Buddhastatuen bis hin zur jüngst angeordneten Kennzeichnungspflicht für Nichtmuslime. Dabei hatten die USA ursprünglich mit den Taliban sympathisiert. Dennoch ist die verbreitete Auffassung falsch, wonach die amerikanische Unterstützung unmittelbar mit dem Vorhaben der US-Erdölgesellschaft Unocal zusammenhing, die den Bau einer Ferngasleitung durch Afghanistan plante. Überzeugender ist die Hypothese, dass die USA sich gewohnheitsmäßig an der Haltung Pakistans orientierten und dass sie auf die Wiederherstellung der Einheit des Landes hinwirken wollten.1
Die USA entzogen den Taliban ihre Unterstützung, nachdem der aus Saudi-Arabien stammende islamistische Milliardär Ussama Bin Laden, dem zahlreiche Attentate gegen US-Einrichtungen angelastet werden, in Afghanistan Unterschlupf gefunden hatte; die Menschenrechtsverletzungen durch das Regime in Kabul spielten bei dieser Entscheidung nur eine marginale Rolle. Diesen Kurswechsel markierte die Bombardierung der Ausbildungslager der radikalen Islamisten in Afghanistan, die als Vergeltungsmaßnahme gegen die Anschläge auf amerikanische Botschaften in Ostafrika (im August 1998) deklariert waren. Das war paradoxerweise der entscheidende Grund dafür, dass Pakistan die Auslieferung Bin Ladens ablehnte, denn gerade die Militärschläge der USA machten diesen vor allem in Pakistan und in den arabischen Golfstaaten zu einer populären Figur.
Die USA gewährten allerdings auch der von Ahmad Masud angeführten Opposition keine nennenswerte Unterstützung, und sie verwarfen obendrein die einzige Erfolg versprechende Strategie, nämlich Druck auf Pakistan auszuüben. Die westlichen Staaten ließen Pakistan bei seiner Intervention in Afghanistan völlig freie Hand und ermöglichten dadurch den Sieg der Taliban über Ahmad Masud. Im Sommer 2000 entsandte die pakistanische Armee mehrere tausend Soldaten an die Front, mit deren Hilfe die Einnahme der Stadt Taloqan gelang, die seit 1986 von Masud kontrolliert wurde. Durch diesen Verlust war die Nachschublinie der Masud-Truppen zwischen dem Panschirtal und Tadschikistan unmittelbar bedroht.
Diese allgemein bekannte und belegte militärische Unterstützung wurde von den westlichen Staaten nicht kritisiert, etwa vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen2 – obwohl die Opposition noch immer als die rechtmäßige Regierung Afghanistans gilt. Warum verzichtet man darauf? Vermutlich wollte man die krisengeschüttelte Atommacht Pakistan nicht weiter destabilisieren. Vielleicht wurde auch nach der Kaschmirkrise vom Frühjahr 19993 ein stillschweigendes Abkommen geschlossen, das Pakistan und Afghanistan freie Hand lässt, wenn sie dafür im Kaschmirkonflikt eine gemäßigte Position beziehen. Die USA zeigen jedenfalls kein Interesse an einer Lösung, ihnen geht es einzig um die Auslieferung Ussama Bin Ladens. Das Resultat ist – und hier offenbart sich der perverse Aspekt der westlichen Positionen –, dass die Taliban in dem Maße, wie sie geographisch an Terrain gewinnen, vom politischen Geschehen ausgeschlossen werden.
Das Instrument, mit dem Afghanistan isoliert wird, sind die internationalen Sanktionen, die mit den über den Irak verhängten vergleichbar sind. Nach der Einnahme Kabuls wurde die internationale Anerkennung der Taliban vom Fortschritt auf drei Gebieten abhängig gemacht: Menschenrechte, Unterbindung des Drogenhandels, Kampf gegen den Terrorismus. Auf die zweite Forderung – Stopp des Opiumanbaus – gingen die Taliban ein und haben sie mit bemerkenswertem Erfolg umgesetzt. Die Erfüllung der beiden anderen Bedingungen steckt in einer Sackgasse. Die Taliban verweigern die Auslieferung Bin Ladens und schlagen im Gegenzug vor, ihn einem islamischen Gericht zu überstellen. Die Menschenrechte sind dem Verständnis der Taliban nach der Scharia – dem islamischen Recht – untergeordnet, das sie äußerst rigide auslegen.
Bin Laden wird nicht ausgeliefert
DIE auf Initiative der USA verhängten Sanktionen traten im November 1999 in Kraft, nachdem die Taliban die Auslieferung Bin Ladens abgelehnt hatten. Die Sanktionen umfassten im Wesentlichen das internationale Flugverbot für die staatliche Fluggesellschaft Ariana, das Einfrieren der Gelder der Taliban auf ausländischen Konten sowie ein Investitionsverbot. Zwar brachten sie nicht den erhofften Erfolg, doch sind die wirtschaftlichen und psychologischen Auswirkungen auf die Bevölkerung nicht zu übersehen.4 Anfang 2001 traten neue Sanktionen in Kraft. Der Sicherheitsrat, der hier als Vertreter der nationalen amerikanischen Interessen auftritt, kümmert sich weder um den globalen Hintergrund der Krise noch um die Dürre, von der das Land heimgesucht wird.
Im Resultat bestrafen die Sanktionen die Zivilbevölkerung. Sie haben dazu geführt, dass ihre Lebensbedingungen sich verschlechtert haben und dass die Afghanen, die modernistische Lösungen vorschlagen, immer mehr in Misskredit geraten, weil sie als Agenten des Auslands gelten. Damit werden die xenophobischen und fundamentalistischen Strömungen, die seit dem Ausbruch des Krieges manifest in Erscheinung treten, weiter verstärkt.
Die Frage ist natürlich nicht, ob die Taliban die Menschenrechte verletzen oder nicht – darüber besteht kein Zweifel –, sondern welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Und die Sanktionen und die wachsende Isolation des Regimes sind in keiner Weise geeignet, positive Veränderungen herbeizuführen, sie bewirken vielmehr nur eine weitere Radikalisierung.
In der Tat sind die Taliban überzeugt, dass sie eine internationale Anerkennung ohnehin nicht erlangen werden. Die Schließung ihrer Vertretung in New York zeigt, dass die USA sie nicht mehr als Verhandlungspartner akzeptieren. Zudem wurde die Tatsache, dass die Sanktionen von Washington und Moskau vorgeschlagen wurden, als Provokation aufgenommen. Die schwache Reaktion der westlichen Länder auf den Appell der Vereinten Nationen, den Millionen Menschen zu helfen, die durch die Dürre in der Region vertrieben wurden, verstärkt die objektive und psychologische Isolation.5 Insofern ist die Zerstörung der Statuen von Bamyan weniger als religiös motivierter Akt zu verstehen, denn als Ausdruck einer politischen Radikalisierung.6 Mit dem medienwirksamen Coup haben die Taliban demonstriert, dass sie mit der internationalen Gemeinschaft gebrochen haben.
Mit seiner isolationistischen Politik hat der Westen die Bemühung um eine politische Lösung faktisch aufgegeben. Diese hätte darin bestehen müssen, einen Kompromiss zu suchen, der das Kräfteverhältnis in der Region widerspiegeln müsste. Das hieße, die Taliban als politischen Hauptakteur anzuerkennen und Ahmad Masud an einer Einheitsregierung zu beteiligen. Die USA haben diese Option verworfen. Die Mission Vendrells7 ist daher praktisch gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen werden konnte. Und der Besuch von Ahmad Masud im April 2001 in Europa – wie auch die militärische Hilfe, die er von Frankreich erhält – wird die Opposition der Taliban gegenüber den westlichen Staaten nur noch verstärken.
Zahlreiche Experten rechtfertigen diese Strategie des Nichtverhandelns mit dem Argument, die Taliban seien nur ein vorübergehendes, auf Stammesstrukturen beruhendes Phänomen ohne gesellschaftliche Verankerung.8 Unter Berufung auf die UNO-Doktrin – wonach Konflikte nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden dürfen – setzte man lange Zeit auf den Faktor Zeit. Die Erfolge der Taliban wie auch ihr Organisationsgrad wurden systematisch unterschätzt, die militärische Kapazität und der politische Rückhalt der Opposition hingegen überschätzt. Die Taliban werden sich nicht von selbst in nichts auflösen, schon deshalb, weil sie eine gewisse Sympathie bei der Bevölkerung genießen und organisiert genug sind, um sich in einem Land zu behaupten, das durch zwanzig Jahre Bürgerkrieg zerrüttet ist.
Da keine Verhandlungslösung in Sicht ist, zeichnen sich zwei Szenarien ab: Eine verstärkte militärische und diplomatische Unterstützung Ahmad Masuds bei gleichzeitigem Druck auf Pakistan würde bedeuten, dass sich der Krieg noch auf unbestimmte Zeit hinzieht. Ahmad Masud würde in den Bergen im Nordwesten des Landes festsitzen und die Taliban den Großteil des landwirtschaftlich nutzbaren Landes kontrollieren. Falls Masud den Norden zurückerobern sollte, würde das die Situation nur noch komplizierter machen, da die Koalition der Oberbefehlshaber und der Oppositionsparteien zu inhomogen ist, um sich auf Dauer zu behaupten. Zweites Szenario: Die Taliban erobern schließlich auch das Panschirtal. In diesem Falle werden sie sich als Sieger über die Westmächte und Russland verstehen und noch weniger zu Kompromissen mit der internationalen Gemeinschaft bereit sein. Eine noch größere Abschottung könnte zum Rückzug der Nichtregierungsorganisationen aus Afghanistan führen, der einzigen ausländischen Vertreter, die zugleich auch die Rolle von Beobachtern wahrnehmen.9
Die Strategie der USA stellt demnach einen Faktor der Destabilisierung und der Radikalisierung der Krise dar. Eine Aufhebung der Sanktionen bei gleichzeitigem starkem diplomatischem Druck auf Pakistan könnten ein weiteres Vorrücken der Taliban verhindern und zur Wiederaufnahme von Verhandlungen führen. Ein zweiter Strang einer solchen Strategie wären massive finanzielle Mittel, die vor allem über die NGOs fließen und insbesondere dem Ausbau des Bildungswesens zugute kommen müssten. Das würde mittelfristig die Herausbildung neuer Eliten ermöglichen, ohne die konkrete Veränderungen der Gesellschaft in Afghanistan nicht denkbar sind.
dt. Andrea Marenzeller
* Autor von „La révolution afghane, des communistes aux Taliban“, Paris (Karthala) 2000.