15.06.2001

Harte Landung in der Weltwirtschaft

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Harte Landung in der Weltwirtschaft

GROSS waren die Hoffnungen, die die Marokkaner in die sozialistische Regierung und in ihren vor zwei Jahren inthronisierten König Mohammed VI. gesetzt haben. Der populäre König begreift sich als Modernisierer, der sein rückständiges Land an internationale Standards heranführen will. Aber der höfische Machtapparat lässt sich nur schwer zurückdrängen, die angeblichen Sozialisten der USFP erweisen sich als korrupt und inkompetent, und die versprochene Modernisierung erschöpft sich in einem Privatisierungsprogramm, das keine Investitionen bringt und erst recht keine Arbeitsplätze schafft. Wirksamer als der König regiert in Marokko offenbar immer noch das Prinzip Langsamkeit. Von FRANCIS GHILES *

„Leider muss man feststellen, dass im Vorfeld nicht ausführlich genug diskutiert wurde, um Einigkeit in den entscheidenden Fragen zu erzielen. Auch die Politik hat hier versagt. Der Eintritt Marokkos in die Globalisierung findet darum gewaltsam und unvermittelt statt – die Folgen sind nicht genau absehbar, geschweige denn kalkuliert, und es besteht die Gefahr des Scheiterns.“1 Dieser Feststellung, die Driss Benhima, Leiter der staatlichen Elektrizitätswerke, vor zwei Jahren getroffen hat, würden viele Marokkaner zustimmen. Besonders enttäuscht ist man über die offensichtliche Unfähigkeit der Regierung, ihre Trümpfe erfolgreich auszuspielen und Marokko den aufrechten Gang ins 21. Jahrhundert zu ermöglichen.

Marokko wird seit 1998 von einer Koalitionsregierung geführt, in der die linkssozialdemokratische „Union Socialiste des Forces Populaires“ (USFP) die entscheidende Kraft darstellt. Gerade weil diese Regierung viele Hoffnungen geweckt hatte, ist nun die Enttäuschung umso größer. Zwar sorgen die Einnahmen aus dem Tourismus und die Überweisungen von marokkanischen Arbeitsmigranten für einen gewissen Ausgleich zum stagnierenden Wachstum und dem zunehmenden Handelsdefizit. Ohne eine entschlossenere Umsetzung der Strukturreformen jedoch wird das mittelfristige Wachstum durch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit begrenzt bleiben. Weder Ministerpräsident Abderrahmane Youssoufi noch sein Finanzminister Fahtallah Oualalou haben Instrumente zur Konjunktursteuerung oder wirtschaftlichen Entwicklung zu bieten.

Dennoch wäre es übertrieben, von einem Scheitern zu sprechen. Der junge König Mohammed VI. hat seit seiner Inthronisierung einige Zeichen gesetzt, um deutlich zu machen, dass er die Armut bekämpfen will. Geld- und Lebensmittelspenden für die Armen sind allerdings ein sehr beschränkter Beitrag zur Überwindung der sozialen Ungleichheit. Der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung Marokkos ist zwischen 1991 und 1999 von 13,1 auf 19 Prozent gestiegen, und der König wird wohl all sein Charisma brauchen, um etwas gegen den wachsenden sozialen Druck zu unternehmen.

Einstweilen lassen weder die Zusammensetzung der Regierung noch ihr politischer Fahrplan einen stärkeren Reformeifer erwarten. Der 76-jährige Youssoufi, der gerade zum Generalsekretär der USFP wiedergewählt wurde, hat die Schlüsselressorts in seinem Kabinett nach einem Kalkül vergeben, das mit den Problemen der Wirtschaft wenig zu tun hat. So gingen die Ministerien für Landwirtschaft, Gesundheit und Verwaltungsreform an die Konkurrenzparteien der USFP – mit dem Hintergedanken, den Führern dieser Parteien das absehbare Scheitern der Programme anlasten zu können. Im Herbst 2002 stehen Wahlen an, dann werden sich die führenden Politiker zweifellos wieder mit Wahlversprechungen überbieten.

Ein Blick auf die jüngere Geschichte macht deutlich, weshalb sich die USFP mit der Durchführung von Reformen so schwer tut. 1983, als Marokko zahlungsunfähig und auf die Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank angewiesen war, wurde der wirtschaftliche Wandel notgedrungen akzeptiert. Das geschah damals ohne politische Diskussion und ohne Einbindung der politischen Parteien, die unter König Hassan II. ohnehin nur eine Statistenrolle spielten. Noch bis in die Mitte der Achtzigerjahre war die USFP-Führung vom Erfolg des Wirtschaftsmodells überzeugt, das der östliche Nachbar Algerien praktizierte, und ihr Einschwenken auf die Linie der Marktwirtschaft resultierte nicht etwa aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern vollzog sich ganz abrupt mit dem Eintritt der USFP in die Regierung.

Der Rückgang des Wirtschaftswachstums ab 1990 (auf durchschnittlich 2,4 Prozent in den vergangenen zehn Jahren) hatte mit konjunkturellen Faktoren wie den Dürreperioden zu tun, aber vor allem mit den ungelösten strukturellen Problemen. In welchem Ausmaß das Ausbleiben einer Verwaltungsreform und die Zunahme der Armut die Erfolge der Maßnahmen gefährden würden, wurde auch von der Weltbank unterschätzt.2 Aus diesem relativ schlechten Ergebnis erklärt sich, weshalb Marokko, trotz einiger Fortschritte und trotz guter Voraussetzungen in Sektoren wie Fischerei und Tourismus, in vieler Hinsicht noch immer die typischen Merkmale eines Entwicklungslandes aufweist.

Viele marokkanische Unternehmer haben gar nicht versucht, ihre Betriebe zu modernisieren. Stattdessen wurden sie einfach an internationale Firmengruppen veräußert, womit man in Kauf nimmt, dass sich ausländische Firmen die Rosinen aus dem Kuchen picken und dass am Ende auch die wirtschaftlichen Entscheidungen im Ausland getroffen werden. So hat bereits die französische Axa-Gruppe die Versicherung Compagnie Africaine d’assurances übernommen, und Danone hat den Backwarenhersteller Bisco geschluckt. Coca-Cola kaufte die großen Getränkehersteller von Fes und Marrakesch und zwei Limonadefabriken von der Familie Benabdallah, angeblich für 1,5 Milliarden Dirham (150 Millionen Euro).3

Die Auslandsdirektinvestitionen waren also häufig keine Neuinvestitionen, sondern nur die Folge von Aktiengeschäften und Privatisierungen. Fast die Hälfte der 15,9 Milliarden Dirham (1,6 Milliarden Euro) Einkünfte aus Privatisierungen stammen von Aufkäufern aus dem Ausland. Für die Zurückhaltung der Investoren gibt es viele Gründe: die Unfähigkeit der Behörden im Bereich der Wirtschaft, die fehlende Rechtssicherheit (die vor allem von kleinen und mittleren Unternehmen aus dem Ausland bemängelt wird, die nicht über so gute Beziehungen zum machsen, dem Machtapparat des Königs und der großen Familien, verfügen wie die internationalen Großunternehmen) und auch die Tatsache, dass viele Geschäfte mit dem Drogenhandel zusammenhängen.

Hier wird auch deutlich, wie die Konzentration politischer und ökonomischer Macht respektive ihre Verschmelzung verhindert, dass neue wirtschaftliche Kräfte ins Spiel kommen und Einfluss gewinnen können. Ein gutes Beispiel ist die Affäre um die Privatisierung der staatlichen Investitionsgesellschaft SNI (Société Nationale d’Investissement). Eigentlich sollte mit diesem Schritt ein Gegengewicht zur damals größten privaten Holding Marokkos geschaffen werden, nämlich zur Omnium Nord Africain (ONA), die von Fouad Fillali, dem Schwiegersohn von Hassan II., geführt wurde und in der auch die königliche Familie Kapitalanteile hielt. Aber sein Ergebnis war praktisch das Gegenteil: Die ONA erwarb eine indirekte Beteiligung an der SNI. Und die ONA finanziert keine großen Entwicklungsprojekte, sondern investiert in Geschäfte, die kaum Arbeitsplätze schaffen, aber hohen Wertzuwachs versprechen. Jenseits solcher grundsätzlichen Fragen zeigen sich viele Führungskräfte in der Wirtschaft zunehmend enttäuscht über die Inkompetenz und den Populismus, die die Regierung in Sachen Wirtschaftspolitik an den Tag legt.

Die Regierung war bereits Ende 2000 knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert, als 35 Prozent des Kapitals der Maroc Telecom an Vivendi verkauft wurden. Erst ganz zum Schluss gelang es André Azoulay, einem der erfahrensten Finanzberater des Königs, die Verhandlungen in die Hand zu nehmen und 2,2 Milliarden Dollar herauszuschlagen. In dem Ausschuss, der die Operation ursprünglich abwickeln sollte, hatten die Minister monatelang debattiert und offenbar mehr Interesse an der Aufteilung des zu erwartenden Geldsegens gezeigt als am Abschluss des Geschäfts. 18 Monate zuvor hatte die Versteigerung der Lizenz für Marokkos zweites GSM-Netz (Global System of Communication, ein Mobiltelefonnetz) 1,2 Milliarden Dollar eingebracht. Auch bei dieser Transaktion, die voll von König Hassan II. unterstützt wurde, hatte die Regierung nichts zu sagen.

Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit den Auslandsschulden des Landes. Die Regierung nimmt stolz für sich in Anspruch, das Kreditvolumen seit 1998 von 19,6 Milliarden auf 15,3 Milliarden Dollar reduziert zu haben. Dies war allerdings einem „Zinssenkungsprogramm“ zu verdanken, das einige Jahre zuvor der damalige Finanzminister Mohamed Kabbaj auf den Weg gebracht hatte. Und zum Teil wurde dieser Schuldenabbau durch die Zunahme der Inlandsverschuldung wieder aufgehoben, die von 1996 bis 2000 von 38 Prozent auf 47 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestiegen ist. Außerdem beruht die ganze Berechnung auf dem fragwürdigen Kalkül, dass der Wert des Dollar – der Währung, in der ein Großteil der Auslandsschulden zu bezahlen ist – sinken wird.

Das dritte Beispiel liegt ein Jahr zurück. Damals beschloss die Regierung eine Gehaltserhöhung für ihre 780 000 Staatsbediensteten. Dieser Schritt von Ministerpräsident Youssoufi fand den Beifall der Gewerkschaft CMT (Confédération Marocaine du Travail), deren Vorsitzender Noubir El Amaouï auch Sitz und Stimme im Politbüro der USFP hat. Die großzügige Maßnahme muss aus anderem Blickwinkel jedoch höchst fragwürdig erscheinen, denn damit wurde ein Haushaltsposten aufgestockt, der bereits 53 Prozent des Budgets ausmachte. Für ein Land, in dem jeder Vierte arbeitslos ist, in dem vier Millionen Menschen von weniger als 10 Dirham am Tag leben und der Schuldendienst 30 Prozent der Staatseinnahmen verschlingt, kann man diese Entscheidung schwerlich für angemessen halten. In den Augen der Öffentlichkeit wäre es weit wichtiger, neue Arbeitsplätze zu schaffen und Geld für Bildung, Wohnungsbau und Gesundheitswesen auszugeben.

Die Erhöhung der Beamtengehälter war nur durch die Erlöse aus dem Verkauf von Maroc Telecom zu finanzieren. Dasselbe gilt für die öffentlichen Investitionen in Höhe von 17 Milliarden Dirham, die vor kurzem vom Finanzministerium bewilligt wurden. Wie Finanzminister Oualalou dieses Tempo im nächsten Jahr durchhalten will, hat er allerdings noch nicht verraten. Diese Mischung aus Verkennung der Wirklichkeit und Missachtung des Volkes könnte sich als ein explosiver Cocktail erweisen. Die Großzügigkeit des Ministerpräsidenten konnte allerdings nicht verhindern, dass der Gewerkschaftsvorsitzende El Amaouï im März 2001 den 11. Parteikongress der USFP im Streit verließ.

Nun ist Marokko aber wesentlich reicher, als es die offiziellen Statistiken vermuten lassen, und verfügt durchaus über ein beträchtliches ökonomisches Potenzial. Stellt man den Drogenhandel, die Steuerbefreiungen (der Landwirtschaft ist gerade eine Verlängerung der 2000 endenden Steuerbefreiung bis 2010 zugestanden worden) und die verdeckten Einkommen in Rechnung, so muss man von einem um mindestens 50 Prozent höheren Bruttoinlandsprodukt ausgehen. Viele junge Leute versuchen ihr Glück im Produktionssektor und haben eine Reihe von ausgesprochen erfolgreichen Firmen aufgebaut – zum Beispiel das von Aziz Akhennoush geführte Unternehmen Ifriquia, mit einem Jahresumsatz von einer Milliarde Dollar.

Es gibt auch zahlreiche Staatsbeamte von Rang, deren Kompetenz und Integrität über jeden Zweifel erhaben sind. So hat Mohammed El Alj die Verwaltung der staatlichen Eisenbahnen saniert, bevor er in die staatliche Kreditanstalt für Grundbesitz und Hotelgewerbe versetzt wurde, um eine umfassende Sanierung durchzusetzen. Abderrazaq El Mossadeq hat sich um die Neuordnung des Zollwesens verdient gemacht, eine Aufgabe die bis vor kurzem unlösbar schien. Zur Leiterin der Behörde für die Erschließung von Erdölvorkommen ist Amina Benkhadra ernannt worden. Damit dürfte ein „Bluff“ wie im vergangenen Jahr nicht mehr möglich sein, als der König – unter Berufung auf offenbar weitgehend fiktive Daten – die Entdeckung bedeutender Ölvorkommen bei Talsint verkündete.4 Auch Ibrahim Saïd bei der Landwirtschafts-Kreditanstalt, Nourdine Bensouda in der Steuerbehörde und Abdelfettah Benmansour im Schatzamt leisten gute Arbeit, die auf lange Sicht Erfolge bringen wird.

Die entcheidende Frage lautet jedoch: Wie soll die Wirtschaftsreform wieder in Gang kommen? Manche sind der Meinung, der König solle eingreifen, die Wahlen verschieben und ein neues Konzept vorstellen, das in allen wirtschaftlichen Bereichen den renommierten Technokraten mehr Einfluss verschafft. Die Masse der Armen dagegen erwartet von ihrem König, dass er sich vor allem den sozialen Problemen widmet. Zweifellos könnte Mohammed VI. sein internationales Ansehen nutzen, um – auch unter Verweis auf die ernsten Konflikte mit Algerien – die westlichen Partner Marokkos davon zu überzeugen, dass eine Verschiebung der Wahlen dem Land helfen würde, aus seiner verfahrenen Situation herauszukommen. Innenpolitisch verfügt das Königshaus über aureichend symbolischen und finanziellen Rückhalt, um einen solchen Schritt zu wagen.

Doch abgesehen davon, dass Mohammed VI. wenig Neigung zeigt, sich an die Methoden seines Vaters zu halten, muss ihm auch klar sein, dass die Gesellschaft im Wandel begriffen ist. Natürlich stellt die Regierung unablässig ihre Unfähigkeit auf dem Gebiet der Wirtschaft unter Beweis, doch in vielen Bereichen geht es dennoch voran – ganz ohne Beteiligung der Ministerien. Wie schon seit langem bietet Marokko ein verwirrendes Bild. Das Land ist eine krude Mischung aus Tradition und Moderne, aus alten Zöpfen, die an den Hof von Versailles erinnern, und avantgardistischen Zügen. Der König macht von seinen Eingriffsmöglichkeiten durchaus Gebrauch: Er ernennt unabhängige Ausschüsse, die sich mit besonders dringenden Fragen wie der industriellen und der touristischen Entwicklung beschäftigen. Dabei übergeht er die Regierung, die sich allerdings nicht einmal dagegen verwahrt, sondern zusieht, wie sie Tag für Tag an Glaubwürdigkeit verliert.

Wie der Karren aus dem Dreck gezogen werden kann, weiß niemand so genau. In Marokko geht alles langsam voran. Und für eine Beschleunigung des Reformprozesses stehen die Voraussetzungen nicht besonders gut, denkt man an die regionale Situation (das Spannungsverhältnis zu Algerien, die mangelnden Wirtschaftsbeziehungen zu den Nachbarländern im Maghreb), an den Zwang zur Anpassung an den Weltmarkt, an die teuren Erdölimporte und an die beiden letzten Dürrejahre. Das Prinzip der Langsamkeit gilt dabei für die Politik wie für die Wirtschaft. Eine marokkanische Volksweisheit besagt, dass man sein Erbe erst dann wirklich angetreten hat, wenn es von einem Besitz ergreift. So weit ist es noch nicht.

dt. Edgar Peinelt

* Mitglied des wissenschaftlichen Beirats am Institut de la Méditerranée, Marseille.

Fußnoten: 1 Driss Benhima, „L’Impact de la mondialisation sur l’économie marocaine“, Vortrag im Rahmen einer im April 1999 von der Vereinigung Ribat El Fath organisierten Konferenz, die von Nadia Salah, Chefredakteurin der Zeitschrift L’Economiste (Casablanca) geleitet wurde. 2 Königreich Marokko, Bericht vom 29. Januar 1997. 3 Monçef Laraïchi, „L’Argent qui dort. Ces friqués qui n’investissent plus dans la pays“, Economie et Entreprise (Casablanca), Januar 2000. Der Autor führt aus, dass Gelder in Höhe der doppelten Summe des Staatshaushalts auf Bankkonten deponiert sind. 4 Siehe Ahmed Benchemsi, „Poker Menteur“, Jeune Afrique (Paris), 20.–26. März 2001.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von FRANCIS GHILES