15.06.2001

Folter in Indochina – die große Gewalt im Kleinen

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Folter in Indochina – die große Gewalt im Kleinen

DAS Gottesurteil, die grauenhafte Form der mittelalterlichen Folter, existiert auch heute noch, nicht nur in Madagaskar, sondern auch in Tonkin und im französischen Sudan.“ Diese Aussage des Abgeordneten Paul Vigné d’Octon aus dem Jahr 19001 belegt – falls es eines Beweises noch bedurft hätte –, dass die Folterpraxis in den Kolonialgebieten Frankreichs nicht erst mit General Massu begann. Und sie beschränkte sich keineswegs auf Nordafrika.

Keine Frage: Im Algerienkrieg zwischen 1954/55 und 1962 wurde die Folter zunehmend als massives Terrorinstrument eingesetzt, und zwar nicht nur gegen Nationalisten oder „Rebellen“. Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt, dass sich die derzeitige Diskussion auf diesen beispiellosen Krieg konzentriert, doch letztlich geht es um die französische Kolonialgeschichte insgesamt. Von der Julimonarchie (1830) bis zum Beginn der Fünften Republik (1956) hat das offizielle Frankreich das Foltern organisiert, initiiert oder toleriert, von Hanoi bis Noumea, von Tananarive bis Dakar, von Rabat bis Tunis.

Um zu erfahren, warum, muss man sich das Wesen der kolonialen Mentalität vergegenwärtigen.2 Nachdem Frankreich die Territorien erobert und „pazifiziert“ hatte, wollte es seine „Mission“ erfüllen, ganze Landstriche der mittelalterlichen Herrschaft zu entreißen. Man war richtiggehend stolz auf die koloniale Erfolgsbilanz: Die „Massen der Eingeborenen“ hatten, wie man fand, allen Grund zur Dankbarkeit, denn sie kamen endlich in den Genuss einer „Paix française“ und waren nicht länger dem Elend und den Ungerechtigkeiten der Vergangenheit ausgeliefert. Falls sich dennoch Proteste regten, so wurden sie vom „Ausland“ manipulierten „Rädelsführern“ zugerechnet. Diese Unruhestifter mit ihren zwielichtigen Motiven stellten per definitionem eine verschwindend geringe Minderheit dar. Die Repression war also nicht Ausdruck der Brutalität gegen ein Volk, sondern ein Akt der Selbstverteidigung gegen schändliche Elemente.

Die Folter war letztlich die konsequente Umsetzung dieser Argumentationslinie: Um zu verhindern, dass ein vorgeblich gesunder Organismus von einem Krebsgeschwür befallen wird, müsse man die schädlichen Keime isolieren und sie aus dem Volkskörper entfernen. 1933 schrieb Albert de Pouvourville, der sich als „indochinesische“ Edelfeder in Kolonialkreisen größter Popularität erfreute: „Die starrsinnigen Nationalisten wird man schlechterdings nie gewinnen können. Diese Kategorie von Leuten ist einfach unbelehrbar [. . .]. Die einzige Politik, die man gegen sie verfolgen kann, ist die der gnadenlosen Repression [. . .]. Jeder Eingeborene, der sich mit dem Etikett eines Revolutionärs schmückt, ist für vogelfrei zu erklären; in dieser Frage verbietet sich jede Unklarheit. Zum Glück kann man davon ausgehen, dass die Zahl dieser Starrköpfe nicht sehr groß ist, maximal ein paar hundert in Nord-Annam, die allerdings sehr fanatisch sind. Diese Zahl würde sich sehr schnell erhöhen, wenn wir aus falsch verstandener Großzügigkeit den Fehler begingen, uns gütlich mit ihnen zu einigen und sie nachsichtig zu behandeln.“3 Zur Isolierung dieser gefährlichen Keime sind offensichtlich die brutalsten Methoden gerade gut genug. Mit dieser Argumentation begibt sich der Kolonisator in eine selbst gestellte Falle. Er schützt sich vor dem Anblick der Realität – einer aufbegehrenden Nation – durch den großen Mythos von der kleinen Minderheit. Denn tatsächlich wird die „Minderheit“ immer größer und aktiver. Je stärker die Nationalbewegung, desto offenkundiger die Kluft zwischen kolonialem Diskurs und Realität.

Schon in der Anfangsphase der Kolonisierung sind grausame Verhörmethoden keineswegs die Ausnahme. Mit der Zeit bürgert sich die Praxis ein, Verdächtige unter irgendeinem beliebigen Vorwand zu misshandeln. So schrieb Alexis de Tocqueville zu Beginn der Besetzung Algeriens: „Nachdem wir die Gewalt im Großen (die Eroberung) nun einmal akzeptiert haben, dürfen wir meiner Meinung nach auch nicht vor der Gewalt im Kleinen zurückschrecken, die zur Konsolidierung unerlässlich ist.“4

Diese „Gewalt im Kleinen“ („violences de détail“) hat für uns heute einen merkwürdigen Klang. Ihren ersten Höhepunkt erreichte diese Art von Gewalt in Indochina. Dort quollen die Gefängnisse in den Dreißigerjahren buchstäblich über. Nachdem die damals sehr prominente und über jeden Extremismusverdacht erhabene Journalistin Andrée Viollis den Kolonialminister Paul Reynaud auf einer Reise nach Indochina begleitet hatte, veröffentlichte sie ein brisantes Buch: „Indochine S.O.S.“5 , in dem sie schrieb: „Es gibt Folterpraktiken, die man als klassisch bezeichnen kann: Nahrungsentzug bei einer Tagesration von dreißig Gramm Reis, Stockschläge auf Knöchel und Fußsohlen; Schraubzwingen, die an den Schläfen angesetzt und so lange fest angezogen werden, bis die Augen aus den Höhlen treten; der Pfahl, an den der Gemarterte mit den Armen angebunden und wenige Zentimeter über dem Boden aufgehängt wird; Schwedentrunk mit Erdöl, Holzpresse, Nadeln unter den Fingernägeln; Wasserentzug, besonders schrecklich für Gefolterte, die vor Fieber glühen.“

Fürwahr ein „klassisches“ Repertoire, aber es gab auch „moderne“ Methoden. Zum Beispiel wurde bereits die Elektrofolter praktiziert: „Ein Stück Draht am Arm oder am Bein befestigen und das andere Ende ins Geschlecht einführen; ein Drahtgeflecht mit einer Stromquelle verbinden; eine Hand des Beschuldigten mit einem Eisendraht umwickeln, der dann an den Stromkreislauf angeschlossen wird . . .“ Derlei Praktiken, so Andrée Viollis, waren in manchen Polizeirevieren an der Tagesordnung.

Die Elektrofolterer von Algier haben also nichts Neues erfunden. All diese unmenschlichen Methoden wurden im Schutz der Trikolore bereits in den Dreißigerjahren in den Tropen praktiziert. Mit dem Aufbruch der Nationalbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg griffen sie weiter um sich: Sétif 1945, Indochina 1946, Madagaskar 1947 . . . überall bekam das Kolonialsystem Risse, überall war die Reaktion dieselbe.

Das Frankreich von 1945, das sich gerade erst mit Hilfe seiner Verbündeten von der Nazi-Opression befreit hatte, begriff nicht, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für sein eigenes Kolonialreich Gültigkeit hatte. In seiner Kolonialpolitik entschloss es sich zwar zu einigen behutsamen Reformen, aber vor allem pochte es auf seine Souveränität. Auf die nationalen Bewegungen, die sich jetzt verstärkt artikulierten, reagierte es immer wieder mit den alten Erklärungsmustern. Aber der Prozess war nicht aufzuhalten. Ihren Höhepunkt erreichte die Strategie der Repression im Algerienkrieg. Es waren die Politiker, die die Repression initiierten, und sie kontrollierten die Akteure bis zum Ende.

Genauso war es in Madagaskar. Der Ablauf der Ereignisse ist bekannt: Auf die Provokation von 1947 folgte die massenhafte Repression. Weniger bekannt dagegen sind die Umstände, unter denen man den Anführern des Mouvement Démocratique de Rénovation Malgache (MDRM) den Prozess machte. Es war eine einzige Farce. Während der Verhandlungen verurteilte Anwalt Stibbe, zusammen mit seinem Kollegen Duzon der Hauptverteidiger, kompromisslos die „brutalen Verhörmethoden“ (präziser: die Folterpraktiken), die bei der polizeilichen Voruntersuchung zum Einsatz gekommen waren. Später veröffentlichte er zahlreiche Zeugenaussagen und verwies in einem Artikel in Esprit darauf, dass diese Praktiken – ein Jahr vor Beginn des Algerienkriegs – in allen französischen Überseegebieten allgemein verbreitet waren: „In der Politik, vor allem aber in der Kolonialpolitik wird die zunehmend systematische Anwendung dieser Methoden von einem allzu großen Teil der Öffentlichkeit noch immer ignoriert. [. . .] Seit 1947 gibt es kaum einen großen Prozess mit kolonialpolitischem Hintergrund – ob in Madagaskar, in Algerien, Tunesien oder Marokko –, bei dem die Angeklagten vor der Polizei keine Geständnisse abgelegt und sie anschließend mit der Begründung widerrufen hätten, dass sie aufs Schrecklichste gefoltert worden seien.“6

Im Indochinakrieg, dem zentralen Konflikt dieser Ära, wurde der Graben zwischen Kolonialherren und Einheimischen immer tiefer. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sich die Horrormethoden verschärften, aber es kam eine neue Dimension hinzu: Für die Dreckarbeit war jetzt nicht mehr die Polizei, sondern die Armee zuständig.

Dass die Folter schon im ersten der beiden großen Entkolonisierungskonflikte praktiziert wurde, geht aus einem Zitat General Massus aus seinem Bekenntnis in Le Monde hervor, das in der Öffentlichkeit relativ wenig Aufmerksamkeit erregte: „Ich weiß noch, als ich 1955 nach Algerien kam, sah ich, wie er [Bigeard] ein armes Schwein mit dem Stromaggregat verhörte [. . .]. Ich sagte zu ihm: ,Aber was machen Sie denn da?‘ Seine Antwort: ,Das haben wir schon in Indochina gemacht, da werden wir doch hier nicht einfach damit aufhören!‘“7 Ein erster Beweis aus berufenem Munde, dass Folterungen – auch wenn ein paar Ewiggestrige es bestreiten mögen – tatsächlich vorkamen und (wahrscheinlich banalisiert) zur alltäglichen Routine wurden. Vor – fast – aller Augen.

Schrittweise gelangten die Tatsachen auch an die Öffentlichkeit. 1945, die Schreckensherrschaft der Nazis war noch im allgemeinen Bewusstsein, verurteilte der Journalist Georges Altman im Franc-Tireur die „brutalen Repressalien, [. . .] die die Verteidiger einer bestimmten Kolonialordnung gegen die Männer des Vietminh ergreifen“. Und weiter: „Wir haben die ungeheure Blutlache, die sich über ganz Europa erstreckt hat, doch nicht beseitigt, nur damit sich im – ach so weit entfernten – Französisch-Indochina eine neue Blutlache ausbreiten kann.“8 1949 kam es zu einer Affäre, die zunächst für großen Wirbel sorgte und dann sorgsam vertuscht wurde. Der Journalist Jacques Chegaray, der für L’Aube, die Tageszeitung des Mouvement Républicain Populaire (MRP), arbeitete, wurde nach Indochina geschickt. Die Ergebnisse seiner Recherchen entsprachen allerdings nicht gerade den Erwartungen seiner Auftraggeber: Mit Entsetzen hatte er die Aussagen von Folterern notiert, die ihm in aller Ruhe verschiedene ihrer Methoden beschrieben hatten. Sein Blatt weigerte sich (natürlich), den Artikel zu veröffentlichen. So bot er ihn dem Témoignage Chrétien an, wo sein Bericht am 29. Juli 1949 mit der Schlagzeile herauskam: „Das Mobiliar eines Militärpostens in Indochina: neben dem Schreib- das Folterwerkzeug.“ Die Veröffentlichung von Chegarays Artikel – als Erster einer langen Serie, darunter Beiträge des großen Orientalisten Paul Mus – löste in Frankreich eine heftige Kontroverse aus. Wer wollte, konnte also Bescheid wissen. Die Memoiren mancher „Indo-Veteranen“ liefern den Beweis – auch wenn dieses Corps sich im Allgemeinen auch heute noch geschlossen zu den Werten bekennt, die es von 1945 bis 1954 verteidigte. Man denke an General Jacques de Bollardière, der über Folterpraktiken in Vietnam berichtete. Doch er hielt sie für marginal – jedenfalls nicht für eine allgemein verbreitete Erscheinung – womit er für die Armee tragbar blieb.9

Zahlreiche Hinweise auf Folterpraktiken finden sich auch bei Jules Roy. Der junge Oberstleutnant – seinerzeit bereits ein berühmter Schriftsteller – meldete sich als Freiwilliger nach Indochina. Seine ersten Texte lassen nicht den mindesten Zweifel daran, dass er den Kreuzzug gegen den Vietminh im Namen der Verteidigung der „freien Welt“ richtig fand. Doch was er in Indochina zu sehen bekam, dämpfte seinen Enthusiasmus: „Auf allen Luftstützpunkten standen abseits der Landepisten Hütten, um die man lieber einen Bogen machte. Nachts drangen schreckliche Schreie heraus, und man tat so, als hörte man es nicht. Auf dem Stützpunkt Tourane meines Kameraden Marchal, wo ich eine gewisse Bewegungsfreiheit genoss, hatte man mir mit Abscheu erklärt, hier würden die Leute vom Nachrichtendienst ,üben‘. Marchal sagte zu mir: ,Das ist überall so, es geht nicht anders.‘ Wieso? Warum? Eines Tages, als ich im Rahmen einer neuen Operation mit dem Jeep durch die Zone fuhr, bemerkte ich vor einer Pagode ein paar Bauern, die zusammengekauert am Boden hockten und von Soldaten bewacht wurden. Ich fragte den mich begleitenden Offizier, was dort vor sich ginge. ,Nichts weiter. Verdächtige.‘ Ich bat anzuhalten. Ich ging in die Pagode hinein: Dort wurden Männer aus Nha Que einer nach dem anderen zu Tischen geführt, wo Spezialisten ihnen mit Elektroden die Eier kaputt machten.“10

Zwischen dem Ende der Genfer Indochinakonferenz (20. Juli 1954) und dem Beginn des Algerienkriegs lagen nicht einmal hundert Tage. Zu wenig Zeit, um „schlechte Angewohnheiten“ zu vergessen . . .

dt. Matthias Wolf

* Historiker

Fußnoten: 1 Rede im französischen Parlament, 19. November 1900. 2 Siehe „Le Credo de l’Homme blanc“, Brüssel (Complexe) 1996. 3 „Griffes rouges sur l’Asie“, Paris (Baudinière) 1933. 4 Brief an General Lamoricière, 5. April 1846, zitiert von André Jardin in: „Alexis de Tocqueville“, Paris (Hachette) 1984. 5 Vorwort von André Malraux, Paris (Gallimard) 1935. 6 „Le mécanisme de la répression politique“, Esprit, September 1953. 7 Le Monde, 22. Juni 2000. 8 Franc-Tireur, 22. Dezember 1945. 9 Im März 1957 trat de Bollardière aus Protest gegen die Folter von seinem Kommandoposten in Algerien zurück. 10 „Mémoires barbares“, Paris (Albin Michel) 1989.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von ALAIN RUSCIO