15.06.2001

Tocqueville und die missliche Notwendigkeit

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Tocqueville und die missliche Notwendigkeit

IN jüngster Zeit entwickelt sich in Frankreich ein Unrechtsbewusstsein über die Rolle der Armee im französischen Algerienkrieg (siehe Kasten), und es mehren sich die Stimmen, welche die dort systematisch praktizierten Morde und Folterungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt sehen wollen. Die blutige Logik der Kolonialpolitik indes prägte bereits die Anfänge der französischen Präsenz in den Kolonien: von Hanoi bis Noumea, von Tananarive bis Dakar, von Rabat bis Tunis. Auch der Demokratieforscher Alexis de Tocqueville verteidigte dereinst die Logik, den Krieg mit dem Krieg zu speisen. Er nannte das damals „missliche Notwendigkeiten“. Von OLIVIER LE COUR GRANDMAISON *

Der Algerienkrieg hat eine lange Geschichte. Sie beginnt am 31. Januar 1830, als Karl X. beschließt, Algier einzunehmen. Offiziell hieß es, man wolle Rache für eine Beleidigung des Konsuls von Frankreich durch den Dei Hussein üben und der verruchten Seeräuberei in der Region ein Ende setzen. Inoffiziell geht es darum, das Ansehen eines bedrängten Königtums wiederherzustellen und in Nordafrika Fuß zu fassen, um den Engländern nicht freie Hand auf dem Mittelmeer zu lassen. Die Julimonarchie erbt eine schwere Last.

Es wird ein sehr kostspieliges „Abenteuer“, das einen aufwendigen Militäreinsatz verlangt und wenig einbringt. In der Nationalversammlung erheben sich zahlreiche Stimmen, die den Rückzug der französischen Truppen aus Algerien fordern, während sich andere für deren Verbleib und eine begrenzte Besetzung aussprechen und wieder andere die vollständige Kolonisierung und Beherrschung des Landes wollen. Einen Krieg, den sie für unerlässlich halten, um die Macht Abd al-Kaders zu zerstören und die Stämme, die ihn unterstützen, durch wiederholte „Razzien“ zu vernichten. Ende des Jahres 1840 gewinnen die Befürworter dieser Politik die Oberhand.

Am 29. Dezember trifft der frisch zum Gouverneur der Kolonie ernannte General Thomas Bugeaud in Algerien ein. Mit ihm beginnt die eigentliche Eroberung, deren Mittel an Grausamkeit kaum zu überbieten sind: Massaker, massenhafte Deportationen der Bevölkerung, Raub von Frauen und von Kindern, die als Geiseln benutzt werden, Aneignung der Ernten und des Viehs, Verwüstung der Obstplantagen usw. Sowohl Louis Philippe als auch sein Nachfolger Louis Bonaparte belohnen ihre Offiziere mit stattlichen Beförderungen. Manch einer wird Marschall, einer sogar Kriegsminister. Die Berge von kabylischen und algerischen Leichen bringen den Generälen der Afrika-Armee glänzende Karrieren ein.1

„In Frankreich sagen viele, die ich respektiere, aber denen ich nicht zustimme, sie fänden es schlecht, dass die Ernten verbrannt und die Kornspeicher leer geräumt würden, ja, dass man sich am Ende sogar unbewaffneter Männer, Frauen und Kinder bemächtige“, schreibt Alexis de Tocqueville. „All das sind meiner Ansicht nach missliche Notwendigkeiten, denen sich aber jedes Volk, das die Araber bekriegen will, zwangsläufig unterwerfen muss.“ Er fügt hinzu: „Ich glaube, das Kriegsrecht ermächtigt uns, das Land zu verwüsten, und wir müssen es tun, indem wir entweder zur Erntezeit die Früchte der Felder vernichten oder zu beliebigen Zeiten jene Überraschungsfeldzüge unternehmen, die man hierzulande Razzien nennt und die den Zweck haben, sich der Menschen oder ihrer Herden zu bemächtigen.“2

So drückt sich der Autor des berühmten Werks „Die Demokratie in Amerika“ aus, als er im Oktober 1841 nach einem Aufenthalt in Nordafrika seine „Arbeit über Algerien“ verfasst. Die Kolonisierung im Allgemeinen und die Algeriens im Besonderen liegen ihm am Herzen. Dafür gibt es eine Fülle von Zeugnissen: zwei Briefe, mehrere Reden über die auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs, zwei Reisen, zwei offizielle Berichte, die im März 1847 im Namen einer ad hoc gebildeten Kommission der Abgeordnetenkammer vorgestellt werden, sowie zahlreiche Beobachtungen und verstreute Analysen in seiner umfangreichen Korrespondenz. Tocqueville liest, forscht und theoretisiert über die französische Expansion in Nordafrika.

Seiner Methode getreu, stellt er eine eindrucksvolle Dokumentation zusammen, denn er will ein Werk über Indien und die englische Kolonisation verfassen, im Vergleich zu jener, die von den Franzosen im so genannten Barbareskenstaat Algerien betrieben wird. Außerdem studiert er den Koran, und am Ende seiner Lektüren stellt der Montesquieu des 19. Jahrhunderts trocken fest, die Religion Mahomets sei „der Hauptgrund für die Dekadenz der muslimischen Welt“.

Tocqueville erscheint also als ein wichtiger Vertreter der modernen Kolonisierung, der er zwischen 1837 und 1847 viel Zeit und Energie gewidmet hat. Seine Texte, seine Verantwortlichkeiten und seine Stellungnahmen als Parlamentarier sind dafür der beste Beweis.

Die französischen Tocqueville-Kenner versuchen gemeinhin, durch Nichtbeachtung dieser Tatsachen sich ihr Bild vom liberalen und demokratischen Tocqueville zu bewahren.3 In der Tat gibt die eifrige Lektüre von „Die Demokratie in Amerika“ oder „Der alte Staat und die Revolution“ mehr für eine akademische Heiligsprechung her als die genaue Untersuchung der Texte, die sich auf Algerien beziehen. Dabei erfährt man aus ihnen einiges über seine Vorstellungen und im weiteren Sinne über die ersten Jahre der Eroberung, über Ursprünge und Organisation des Kolonialstaats. Man entdeckt einen Tocqueville, der sich zum Apostel der „totalen Herrschaft“ in Algerien macht und die „Verheerung des Landes“ preist.4

Die Bedeutung, die er der Eroberung Algeriens beimisst, beruht zum Teil auf Analysen der internationalen Lage und der Stellung, die Frankreich in der Welt einnimmt, zum Teil aber auch auf der sittlichen Entwicklung der Nation. Der Schriftsteller Tocqueville empfindet nur Verachtung für die Julimonarchie, die unter seiner Feder mittelmäßig und kleinmütig erscheint. Unheilvoll für die inneren Belange Frankreichs, versagt dieses Regime erst recht, wenn es um die auswärtigen Angelegenheiten geht, zumal in einer Zeit, in der die Krise des osmanischen Reichs die Lage vor allem in Afrika und im Nahen Osten destabilisiert und den europäischen Mächten eine neue Chance bietet. Um sie zu ergreifen, brauchte es allerdings eine gute Portion Mut und Furchtlosigkeit gegenüber England.

Frankreichs Niedergang muss aufgehalten, sein Ansehen und seine Macht wieder hergestellt werden – das ist die Obsession, die das Denken von Tocqueville beherrscht. Er ist überzeugt, dass sein Land ohne eine kraftvolle Eroberungspolitik bald auf den zweiten Rang verwiesen sein wird und die Existenz der Monarchie als solche auf dem Spiel steht. Unter diesen Umständen wäre es unverantwortlich, die Truppen aus Algerien zurückzuziehen. Sie müssen dort präsent bleiben, und die Regierung täte gut daran, die Franzosen zur Ansiedlung zu ermutigen, um die Herrschaft in der Kolonie zu sichern und dank dem Bau von zwei großen Militär- und Handelshäfen – einem in Algier, dem anderen in Mers El-Kébir – auch das zentrale Mittelmeer zu kontrollieren.

Die Verwirklichung dieser Pläne wäre geeignet, den angegriffenen Nationalstolz wieder aufzubauen – einen Stolz, der Tocqueville zufolge an der „zunehmenden Verweichlichung der Sitten“ einer Mittelschicht zugrunde geht, deren Vorliebe für „materielle Freuden“ die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht, da sie ihr „als Beispiel den Inbegriff der Schwäche und des Egoismus“ liefert.5 Der Krieg und die Kolonisierung erweisen sich folglich als Heilmittel für die sozialen und politischen Leiden Frankreichs. Das ist der Grund, warum Tocqueville radikale Maßnahmen empfiehlt, die erlauben sollen, Algerien widerstandslos zu überrollen und nach zehn Jahren endlich aufzuhören mit dem zögerlichen Hin und Her.

Herrschen, um zu kolonisieren, und kolonisieren, um den Bestand der Herrschaft zu sichern: Das ist die wesentliche Denkfigur, die bei Tocqueville immer wieder auftaucht. Und was die Mittel betrifft, so wird der Zweck sie heiligen. Abd el-Kader zieht rastlos von einem Ort zum anderen, gestützt auf zahlreiche Stämme, die ihm alles geben, was er braucht: Männer, Waffen und Nahrungsmittel. Also muss man ihn jagen, ihm ständig auf den Fersen bleiben und vor allem die ökonomischen und sozialen Strukturen seiner Landsleute zerstören, um dem Oberhaupt die Grundlagen seiner Macht zu entziehen und sein Ansehen zu zerstören.

Nachdem Tocqueville sich dafür ausgesprochen hat, die einheimische Bevölkerung mit einem Handelsverbot zu belegen, fügt er hinzu: „Mir scheinen von Zeit zu Zeit größere Feldzüge notwendig zu sein: Erstens müssen wir den Arabern und unseren Soldaten immer wieder zeigen, dass es in diesem Land keine Hindernisse gibt, die uns aufhalten könnten; zweitens muss alles ausgerottet werden, was nach einer bleibenden Ansammlung der Bevölkerung aussieht oder, mit anderen Worten, einer städtischen Niederlassung gleicht. Ich halte es für ungeheuer wichtig, im Einflussbereich Abd el-Kaders keine Stadt überdauern oder entstehen zu lassen.“6

Tocqueville verteidigt Bugeauds Methoden wiederholt. Sie bestehen darin, das Land zu plündern, alles in Besitz zu nehmen, was dem Unterhalt des Heeres dienen kann, um „so den Krieg durch den Krieg zu speisen“, wie General Lamoricière es ausdrückt, und die Eingeborenen möglichst weit zurückzudrängen, um Frankreich die vollständige Herrschaft über die eroberten Gebiete zu sichern. Sind diese Ziele durch den Einsatz von Massenterror erst einmal erreicht, wird die Gründung und Weiterentwicklung zahlreicher Siedlungen möglich sein und eine Rückkehr der alten Stämme verhindern.

Dabei verlässt sich Tocqueville nicht allein auf die Macht des Schwertes, er will die Usurpationen auch durch die Kraft des Gesetzes decken und erweitern. Darum sieht er die Einrichtung von Sondergerichten vor, die in „Schnellverfahren“, wie er selbst es nennt, massive Enteignungen zu Gunsten der Franzosen und der Europäer vornehmen. So soll den Letzteren Gelegenheit gegeben werden, für billiges Geld Grundbesitz zu erwerben und Dörfer mit Leben zu erfüllen, deren Ausstattung mit Befestigungsanlagen, je einer Schule, einer Kirche und sogar einem Brunnen – so verspricht es der um das materielle und seelische Wohl der Siedler besorgte Abgeordnete von Valognes – die Kolonialverwaltung übernehmen wird.

Unter der Führung eines Offiziers als bewaffnete Milizen organisiert, sollen die Siedler in die Lage versetzt werden, selbst für die Verteidigung und Sicherheit ihres Lebens und ihrer Güter zu sorgen, während das Netz der Dörfer eine großflächige Kontrolle der eroberten Gebiete gewährleistet. Und was die mit Waffengewalt vertriebenen und dann auf dem Rechtsweg ihrer Böden beraubten einheimischen Volksgruppen betrifft, so werden sie, versichert Tocqueville, langsam, aber sicher immer weniger werden.

Der Kolonialstaat erscheint im Vergleich zum Mutterland von Anfang an als doppelter Ausnahmestaat: Er beruht auf zwei verschiedenartigen rechtspolitischen Systemen, die sich durch rassische, kulturelle und kultische Merkmale definieren. Das eine, für die Siedler geschaffene System erlaubt ihnen, sich als alleinige Landbesitzer frei zu bewegen, allerdings ohne jede politische Freiheit, die Tocqueville zufolge in Algerien generell zu suspendieren ist. „In Afrika muss es also zwei ganz verschiedene Rechtsnormen geben, weil es zwei ganz getrennte Gesellschaften gibt. In Bezug auf die Europäer spricht absolut nichts dagegen, sie zu behandeln, als wären sie allein, denn die für sie gemachten Regeln dürfen niemals auf andere als sie angewendet werden.“7

Das ist knapp, klar und deutlich. Diejenigen Menschen, die aus dem glorreichen, dem aufgeklärten Europa kommen, haben ein Recht auf Rechte, während den anderen, den „Barbaren“, nicht gestattet ist, die Freuden der Gleichheit, der Freiheit und der universellen Gebote zu kosten. Weder heute noch morgen, denn Tocqueville geht nicht davon aus, dass diese Situation irgendwann ein Ende hat. Kein Wunder, dass das zweite System, das für die Kabylen und die Araber gilt, an einen permanenten Kriegszustand geknüpft ist, dazu bestimmt, die einheimische Bevölkerung unter dem brutalen Joch der Siedler und einer mit exorbitanten Machtbefugnissen ausgestatteten Administration zu halten.

1847, nach mehreren Jahren gnadenloser Kämpfe, schreibt Tocqueville emphatisch: „Die Erfahrung hat uns nicht nur gezeigt, wo der natürliche Schauplatz des Krieges ist; sie hat uns auch gelehrt, ihn zu führen. Sie hat uns die Stärken und die Schwächen des Gegners enthüllt. Durch sie haben wir die Mittel kennen gelernt, ihn zu besiegen und, nachdem wir ihn besiegt haben, die Herrschaft zu bewahren. Heute kann man sagen, dass die Kriegsführung in Afrika eine Wissenschaft ist, deren Gesetze allen bekannt sind und von jedermann mit sicherem Erfolg angewendet werden können. Es ist einer der größten Dienste, die Marschall Bugeaud unserem Heimatland erwiesen hat, dass er diese neue Wissenschaft erschlossen, vervollkommnet und für alle verfügbar gemacht hat.“8 Die in Algerien begangenen Verbrechen des französischen Staates und seiner Armee, die zum Prinzip erhobene und im Gesetz verankerte Diskriminierung: lauter Ausnahmen? Eine lange Geschichte.

dt. Grete Osterwald

* Der Autor lehrt Politikwissenschaft an der Universität von Evry-Val-d’Essone. Das unter seiner Leitung entstandene Werk „17 octobre 1961: un crime d’Etat à Paris“, ist im Mai 2001 in Paris bei La Dispute erschienen.

Fußnoten: 1 Bezüglich der Opfer schreibt Pierre Montagnon in seinem der apologetischen Literatur zuzurechnenden Buch „La conquête de l’Algérie“ (Paris, Pygmalion 1986, S. 414): „500 000? Eine Million? Die Wahrheit muss zwischen diesen beiden Zahlen liegen. Sie geringer zu veranschlagen wäre eine Verharmlosung der grausamen Wirklichkeit.“ Wenn man diese Angaben auf die Gesamtzahl der Einwohner bezieht, die von der Historikerin Denise Bouche für das Jahr 1830 auf „rund drei Millionen“ geschätzt wird, gewinnt man einen Eindruck vom Ausmaß der Massaker. Vgl. Denise Bouche, „Histoire de la colonisation française“, Paris (Fayard) 1998, Bd. 2, S. 23. 2 Alexis de Tocqueville, „Travail sur l’Algérie“, in: „Oeuvres complètes“, Paris (Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade) 1991, S. 704 f. 3 Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Tzvetan Todorov, der in seinen Büchern „De la colonie en Algérie“, Brüssel (Complexe) 1988, und „Nous et les autres“, Paris (Seuil) 1989 (s. insbesondere das mit „Tocqueville“ überschriebene Kapitel auf den Seiten 219–234), mehrere von Tocquevilles Texten über Algerien vorstellt. 4 Alexis de Tocqueville, „Travail sur l’Algérie“, op. cit., S. 699 und 706. 5 Alexis de Tocqueville, „Lettre à J. S. Mill“ (18. März 1841), in: „Oeuvres complètes, Correspondance anglaise“, Bd. VI, 1, Paris (Gallimard) 1954, S. 335. 6 Alexis de Tocqueville, „Travail sur l’Algérie“, op. cit., S. 706. 7 Ibid., S. 752. 8 Alexis de Tocqueville, „Rapports sur l’Algérie“, in: „Oeuvres complètes“, Paris 1991, S. 806.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von OLIVIER LE COUR GRANDMAISON