Immer im Zimmer
Von IGNACIO RAMONET *
NIE zuvor in der Mediengeschichte Frankreichs hat eine Fernsehserie das Land derart begeistert, fasziniert, durchgerüttelt, bewegt, verunsichert, aufgeregt und irritiert wie „Loft Story“, jene von der Produktionsfirma Endemol auf Frankreich zugeschnittene Nachfolgeserie von „Big Brother“. Seit dem 26. April bringt die auf M6 laufende Reality-Show täglich bis zu zehn Millionen Menschen vor den Bildschirm. Das hat es noch nie gegeben. Zwar wissen wir, dass Bilder mehr über die Gesellschaft aussagen, die sie betrachtet, als über den dargestellten Gegenstand, in diesem Fall jedoch ist die Bedeutung dieser Bilder nicht leicht zu erschließen.
Ganz Frankreich befindet sich in einem derartigen „Loft Story“-Rausch, dass sogar das Filmfestival von Cannes und die letzten Runden der Champions League zu vergleichsweise unbedeutenden Ereignissen schrumpften. Über der allgemeinen Aufmerksamkeit (auch in der internationalen Presse1 ) gerieten die sonstigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes völlig aus den Augen.
Auch die großen französischen Tageszeitungen – Le Monde, Le Figaro, Libération, Le Parisien, France-Soir, Le Journal du Dimanche – und die auflagenstarken Magazine und Wochenzeitungen – L’Express, Le Point, Le Nouvel Observateur, Marianne, VSD, Télérama usw. – sahen sich im medialen Nachahmungszwang2 genötigt, das Medien- und Gesellschaftsphänomen mehrfach auf den Titelseiten zu behandeln. So haben auch sie zum Erfolg der „Loft Story“ beigetragen und konnten obendrein noch Rekordauflagen für ihre eigenen Publikationen erzielen.
Nationales Psychodrama und totaler Medienschock – die Kontroverse geht in allen Medien unablässig weiter. „,Loft Story‘ ist längst nicht mehr eine Frage der Programmgestaltung, sondern eine regelrechte Staatsaffäre“, erklärte Hervé Bourges, der ehemalige Präsident des Höheren Rats für audiovisuelle Medien (CSA).3 „Diese Art von Sendung leistet einer schleichenden Faschisierung Vorschub“, meinte Jérôme Clément, Vorsitzender des Fernsehsenders „Arte France“.4 Und die französische Bischofskonferenz wertete „Loft Story“ als „gutes Beispiel für die Verirrungen, in die zügelloses Gewinnstreben münden kann. Die jungen Leute werden wie Versuchskaninchen vorgeführt, als wären sie einem verrückten Wissenschaftler in die Hände gefallen, der sie wie Mäuse oder Ratten in eine Schuhschachtel steckt und sich nicht darum schert, was aus ihnen wird.“5
Eine Reihe von Bürgervereinigungen und Initiativen – darunter „Bitte lächeln, die Kamera läuft“, „Agitationslehrlinge für ein globales Widerstandsnetz“ u. a. – haben ihre grundsätzliche Ablehnung der Sendung bekundet. Unterstützt von der Ligue Communiste Révolutionnaire, den Jeunesses Communistes, der anarchistischen Gewerkschaft CNT, der Initiative Attac und dem Forum des Jeunes Verts gingen sie in Paris, Nantes, Rennes, Toulouse und Marseilles auf die Straße und luden Müllsäcke vor den M6-Gebäuden ab, wobei es vereinzelt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam.
WAS passiert nun eigentlich in „Loft Story“?6 Die nach den Worten von M6 „interaktive Realfiktion“ ist eine Art Gesellschaftsspiel, bei dem die elf Mitspieler – alle unter 35 Jahre alt, ausgewählt unter 38 000 Kandidaten – einer nach dem anderen per Zuschauervotum ausscheiden. Abgeschnitten von der Außenwelt, ohne Fernsehen, ohne Telefon, ohne Zeitung, ohne Radio, ohne Internet, müssen die sechs Männer und fünf Frauen zehn Wochen lang in einem 225 Quadratmeter großen Loft mit Garten und Swimmingpool zusammenleben. Dabei werden sie praktisch rund um die Uhr in allen Räumen gefilmt – mit Ausnahme der Toilette. Ihre Aufgabe besteht darin, sich in das Gruppenleben einzufügen und dabei ihre eigene und die Persönlichkeit der anderen zu exponieren. Am Ende soll sich das ideale Paar gefunden haben. Als Preis winkt ein Haus im Wert von drei Millionen Francs, in dem die frisch Verliebten weitere sechs Monate unter dem Auge zahlreicher Kameras zusammenleben müssen, bevor ihnen das Haus endgültig gehört.
Nicht weniger als 26 Videokameras, darunter drei für Infrarotaufnahmen, und fünfzig Mikrofone gehören zur Ausstattung des Loft, über einhundert Techniker und Redakteure sorgen rund um die Uhr für die kontinuierliche Übertragung der Inszenierung. Kostenlos, aber von zahllosen Werbespots unterbrochen, strahlt M6 täglich eine 52-minütige Zusammenfassung des Tagesgeschehens aus, über das digitale Pay-TV TPS und natürlich auch im Internet (www.loftstory.com) darf man die Wohngemeinschaft rund um die Uhr beobachten, allzu schockierende Szenen werden allerdings herausgeschnitten.
Dieses Sendekonzept wurde unter dem Titel „Big Brother“7 bereits im September 1999 von der niederländischen Produktionsfirma Endemol entwickelt, deren Name sich aus den Namen ihrer Gründer Joop Van den Ende und John de Mol herleitet. Über den kleinen Privatsender Veronica ausgestrahlt, schnellten die Zuschauerzahlen binnen kürzester Zeit in ungeahnte Höhen.
Seither hat die permanente Kameraüberwachung von adretten jungen Leute, die sich freiwillig in einen engen Raum zusammenpferchen lassen, Schule gemacht und wurde mit mehr oder weniger unappetitlichen Abwandlungen8 in rund zwanzig Länder exportiert, darunter Brasilien, Polen, Spanien, Argentinien, Schweden, Deutschland, Australien und die USA. Fast überall erwies sich die Sendung als Renner. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel schalteten sich über 50 Millionen Zuschauer zu. Angesichts der Begeisterung des Publikums verfielen einige Sender gar auf die Idee, die Betttücher und andere Alltagsgegenstände der Mitspieler zu versteigern.9 Annie Le Brun hat wohl Recht, wenn sie schreibt, dass wir „einen Prozess der allgemeinen Verblödung“ erleben, in dem „sich die Gläubigen aller Länder, aber auch aller Klassen und aller Altersgruppen vereinigen“10 .
Die Sendung, die mit Überwachungskameras und durch Einwegspiegel gefilmt wird, reproduziert das typische Szenario polizeilicher, militärischer und gefängnisinterner Kontrolle, das noch dadurch verschärft wird, dass es keine toten Winkel gibt und dass regelmäßig unter der Decke hängende Kameras und Infrarotkameras zum Einsatz kommen. Den Zuschauern vermittelt diese Versuchsanordnung ein Gefühl der Macht, der Kontrolle und der Herrschaft – man sieht das Geschehen oft von oben –, und sie weckt mit der Zeit ihre (paternalistischen) Beschützerinstinkte gegenüber den freiwillig Eingeschlossenen. Zusätzlich befördert wird dieses Allmachtgefühl durch die Tatsache, dass die meisten Mitspieler psychologisch recht simpel gestrickt und leicht zu durchschauen sind und obendrein im „Beichtstuhl“ auch noch den Schlüssel zu ihrem Verhalten selber ausplaudern. Und genau dieses Allmachtgefühl, das die Zuschauer für die Helden der Serie einnimmt, erklärt zumindest teilweise, weshalb diese schlichten, bedeutungslosen, banalen und hohlen Szenen, dieses leere Gelaber und diese absoluten Nullereignisse derart faszinierend sind. Und doch haben diese Sendungen in allen Ländern ungeheure Kontroversen und erstaunliche, oft maßlose Debatten ausgelöst. In Italien fühlte sich sogar der Papst bemüßigt, die Sendung ausdrücklich zu verdammen.
Ein kurzer Ausflug in die Filmgeschichte lehrt, dass sich solche Machwerke, in denen Voyeurismus und Exhibitionismus, Überwachung und Unterwerfung unentwirrbar verkoppelt sind, seit langem durch ein ganzes Bündel von Vorzeichen und Symptomen ankündigten.
Eine entfernte Vorlage ist vielleicht schon der berühmte Hitchcock-Film „Fenster zum Hof“ von 1954, in dem James Stewart einen Zeitungsfotografen spielt, der mit einem Bein in Gips zu Hause herumsitzt und aus Langeweile anfängt, seine Nachbarn gegenüber zu beobachten. In einem Gespräch mit François Truffaut räumte Hitchcock ein: „Ja, der Mann war ein Voyeur, aber sind wir nicht alle Voyeure?“ Truffaut stimmte zu: „Wir sind alle Voyeure, und sei es auch nur, wenn wir uns einen Film anschauen, in dem das Privatleben von Menschen dargestellt wird.“ Daraufhin Hitchcock: „Ich wette mit Ihnen, dass neun von zehn Menschen nicht wegschauen können, wenn sie auf der anderen Seite des Hofs sehen, wie sich eine Frau vor dem Zubettgehen auszieht, oder auch nur, wie ein Mann sein Zimmer aufräumt. Sie könnten den Blick abwenden und sich sagen: ‚Das geht mich nichts an‘, sie könnten die Fensterläden schließen, aber sie werden es nicht tun, sie werden aufmerksam hinsehen.“11
Zu diesem Trieb, hinzugucken, zu beobachten und zu belauern, gehört gewissermaßen sein Gegenstück: die schamlose Lust, sich zur Schau zu stellen. Und die fand ein ungeahntes Betätigungsfeld mit der Verbreitung des Internets und der kleinen Webcams, die in regelmäßigen Abständen ihre Bilder ins Netz stellen.12
Seit 1996 macht das neue Spielzeug Furore. So zeigen zum Beispiel fünf Studierende aus Oberlin im US-Staat Ohio seit einigen Jahren rund um die Uhr, was sie auf den zwei Etagen ihres Hauses gerade tun (www.hereandnow.net). Rund vierzig Kameras, mehr als in „Loft Story“, haben sie in ihrer Behausung installiert. Und dies ist keineswegs ein Einzelfall. Tausende von Leuten – Ledige, Paare, Familien – scheuen sich nicht, ihr Privatleben vor dem geneigten Surfer auszubreiten, und laden ihn ein, sie in praktisch allen Lebenslagen zu beobachten.
Aber auch sonst schrecken die Menschen immer weniger davor zurück, sich uneingeschränkt den Blicken anderer auszusetzen. In einem von Le Corbusier erbauten Wohngebäude in Rezé bei Nantes, das den Namen „Maison radieuse“ (das strahlende Haus), trägt, geben sich einige Bewohner dem seltsamen Spiel hin, von Unbekannten beobachtet zu werden. Sie haben den Spion an ihrer Wohnungstür verkehrt herum eingebaut, sodass jeder, der einen Blick in ihr Privatleben werfen will, dies auch tun kann.13
Ein weiteres Phänomen, das allen Vorstellungen vom Schutz der Privatsphäre Hohn spricht, ist die Veröffentlichung von Tagebuchaufzeichnungen im Internet. Was bislang als höchst geheime und private Angelegenheit galt, zirkuliert nun frei durchs Netz. Immer mehr Autoren geben ohne Abstriche ihre intimsten Gedanken und verborgensten Gefühle preis und wollen ihr Innenleben mit der Masse der Surfer teilen.
Voriges Jahr schrieb ein Chinese namens Lu Youqing auf seiner Hompage das „Tagebuch eines Sterbenden“ und schuf damit ein eigenes Genre der elektronischen Literatur. Nachdem der junge Immobilienmakler von seinem baldigen Ende erfahren hatte, beschloss er, seine Zeitgenossen teilhaben zu lassen an seinem Kampf gegen den Krebs, der seinen Magen zerfraß. Das Tagebuch endet mit seinem letzten Seufzer: „Ich schneide das Band durch. Ich liebe euch.“14
Im Übrigen gibt es auch im normalen Fernsehprogramm immer mehr Trash-Sendungen, in denen Leute auftreten, die ohne die geringste Scham ihre intimsten Probleme und geheimsten Leidenschaften ausplaudern. Die bekannteste ihrer Art ist die „Jerry Springer Show“ in den Vereinigten Staaten. Die geladenen Gäste legen auf dem Podium skandalöse Bekenntnisse ab, offenbaren unglaubliche Einzelheiten aus ihrem Privatleben – und der Saal tobt. Die Themen sind stets höchst erbaulich: „Liebling, ich gehe auf den Strich“, „Ich bin von Ihrem Mann schwanger“, „Mama, willst du mich heiraten?“, „Meine kleine Schwester arbeitet als Prostituierte“ – und das alles im Beisein der jeweiligen Partners oder Angehörigen, wobei es dann auch zu den entsprechenden Schimpftiraden, Handgreiflichkeiten und Schlägereien kommt. Ja, es kommt noch schlimmer. Während einer dieser Springer-Sendungen unter dem Motto „Zwei Frauen streiten sich um einen Mann“ hatte sich bei einem Paar so viel Hass angestaut, dass die beiden die Exfrau des Manns ermordeten.15 Die Sendung erreicht ein Publikum von über acht Millionen Zuschauern und erhält allwöchentlich 4 000 Telefonanrufe von Amerikanern, die für fünfzehn Minuten Medienpräsenz bereit und willens sind, ihr Innerstes nach außen zu kehren.
In Frankreich legte der staatliche Fernsehsender FR3 ein ähnliches Konzept vor, „mit wahren Menschen, die über ihr wahres Leben die Wahrheit erzählen“. „C’est mon choix“ (Ich steh dazu), so der Titel der Sendung, löste vergangenen Herbst eine ungeheure Kontroverse aus,16 wurde aber mit 7 Millionen Zuschauern ein Riesenerfolg. Die Sendethemen stehen in keiner Weise hinter der „Jerry Springer Show“ zurück: „Ich mag es, meinen Körper zu zeigen“, „Ich stopfe mich mit Medikamenten voll“, „Ich ertrage keine Körperbehaarung“, „Ich mag es nicht, angezogen herumzulaufen“, „Ich stelle mein Privatleben im Internet zur Schau“.
Der wachsende Erfolg solcher Schund-sendungen stiftete die Produzenten zu noch haarsträubenderen Formen des Voyeurismus an. So spezialisierte sich der amerikanische Kabelkanal „Court TV“ auf die Übertragung von Gerichtsverfahren. Seine Sternstunde erlebte der Sender Ende der Neunzigerjahre, als der bekannte Football-Spieler O. J. Simpson wegen Mordverdachts an seiner Ehefrau vor Gericht stand.
Angesichts der Konkurrenz durch „Survivor“, der US-Version von „Big Brother“, beschloss „Court TV“, die Sensationsgier noch einen Schritt weiter zu treiben. Seither stehen Bekenntnisse von Verbrechern auf dem Programm. In schauderhaftem Realismus präsentierte der Sender zum Beispiel „das Geständnis von Steven Smith, der in einem New Yorker Krankenhaus 1989 eine Ärztin vergewaltigte und ermordete, von Daniel Rakowitz, der ebenfalls 1989 eine Freundin tötete und die Leiche anschließend in Stücke schnitt und kochte, von David Garcia, einem Strichjungen, der 1995 einen im Rollstuhl sitzenden Freier umbrachte“17 .
Der verblüffende Publikumserfolg dieser sinistren Sendungen macht erklärlich, dass über 3 400 Journalisten – bei den Olympischen Spielen in Sydney waren es knapp doppelt so viele – als Berichterstatter aufgeboten waren, als am 16. Mai die Hinrichtung von Timothy McVeigh anstand, die im letzten Moment noch einmal aufgeschoben wurde. Der Attentäter von Oklahoma City, dessen Tat vor sechs Jahren 168 Menschen den Tod gebracht hatte, äußerte übrigens selbst den Wunsch, seine Hinrichtung durch die tödliche Spritze solle live übertragen werden. Dies alles scheint eine Überlegung von Paul Virilio zu bestätigen: „Nach der Werbung und der politischen Propaganda haben Pornografie und mediale Hypergewalt einem Konformismus des Widerwärtigen zum Durchbruch verholfen.“18
Schritt für Schritt haben all diese Sendungen die Grenzen des Zeigbaren ausgeweitet und den Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm, zwischen wirklichem Leben und Fiktion zusehends verwischt. In dieser Hinsicht kann als unmittelbarer Vorläufer von „Loft Story“ zweifellos die Serie „The Real Life“ gelten, die der US-Kabelkanal MTV vor zehn Jahren in die Welt setzte. Jeweils sieben, unter tausenden von Bewerbern ausgewählte junge Leute „aus dem richtigen Leben“ dürfen 26 Wochen lang in einem Haus oder einem Loft zusammenwohnen, wo sie ohne Unterbrechung abgefilmt werden. Anders als bei „Loft Story“ können sie sich allerdings frei bewegen und – wenn man so sagen darf – ein normales Leben führen, zur Uni gehen, zur Arbeit usw. Ort des Geschehens ist jedes Jahr eine andere Stadt: New York, Miami, Seattle, Boston. Aber die Typologie der jungen Männer und Frauen ist stets die gleiche: der coole Typ, das sexy Girlie, der junge Schwule, die unbedarfte Provinzlerin, der Sexbesessene und dergleichen mehr.
Seit nunmehr zehn Jahren präsentiert MTV tagtäglich einen Zusammenschnitt der Höhepunkte vom vergangenen Tag. Von allen Kabelkanal-Sendungen erzielt „The Real Life“ die höchsten Einschaltquoten, vor allem unter den Zwölf- bis Vierunddreißigjährigen. Jonathan Murray, der Produzent der Serie, meint: „Die Sendung vermittelt den Zuschauern vor allem, dass sie sehen, wie diese so unterschiedlichen jungen Menschen sich langsam verstehen lernen und schließlich sehr anrührende Beziehungen zueinander aufbauen.“19
Der Erfolg der MTV-Sendung inspirierte die Produzenten zu Fersehserien wie „Sex and the City“, „Ally McBeal“ und „Friends“. Gerade die von NBC produzierte Kultserie „Friends“ mit den sechs New Yorker Freunden Joey, Ross, Rachel, Phoebe, Chandler und Monica wurde direkt von „The Real Life“ abgekupfert. „Friends“ erreicht ein Publikum von durchschnittlich 23 Millionen Zuschauern und basiert auf der Idee, dass es für nicht mehr ganz junge Städter, die aus ihrer Herkunftsfamilie herausgewachsen sind, aber noch keine eigene Familie gegründet haben, nichts Wichtigeres als Freundschaft gibt. Marc-Olivier Padis, ein Kenner all dieser Serien, hält fest: „Ob im Café oder im gemeinsamen Apartment auf dem riesigen Sofa, das als Wahrzeichen von ‚Friends‘ funktioniert, kreist das Gespräch stets um die Hoffnungen und Enttäuschungen im Gefühlsleben der Hauptdarsteller. Die vier Freundinnen in ‚Sex and the City‘ sind da schon mobiler. Sie ziehen durch hippe New Yorker Kneipen und Discos, und ihre Gespräche finden an den unterschiedlichsten Orten statt, auch im Freien. ‚Ally McBeal‘ spielt hauptsächlich in der Anwaltskanzlei, im Gerichtssaal und in einer Musikkneipe. Auch hier besteht die Handlung im Wesentlichen aus Gesprächen unter Freunden und Kollegen über das eigene Privatleben oder über Prozesse, in denen es um das Privatleben anderer Leute geht (Scheidung, Adoption, sexuelle Belästigung).“20
Nach all dem war es unvermeidlich, dass das dem Massenpublikum zum Fraß vorgeworfene Intimleben auch die Filmproduzenten inspirierte. Vor allem zwei Produktionen sind hier zu nennen: „Die Truman Show“ von Peter Weir (1998) und „Ed TV“ von Ron Howard (1999).
„Die Truman Show“ mit Jim Carrey in der Hauptrolle erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der seit seiner Geburt in einem riesigen Filmstudio lebt und davon nichts weiß. Sein Leben wird ununterbrochen von Dutzenden versteckter Kameras gefilmt und von einem Fernsehsender verbreitet.
In „Ed TV“ beschließt der in San Francisco ansässige Dokumentarsender True TV wegen sinkender Zuschauerzahlen, das Leben eines Mannes von der Straße rund um die Uhr über den Sender zu schicken. Der Videothek-Angestellte Ed Pekurny, gespielt von Matthew McConaughey, scheint wie gemacht für diese Rolle. Auf Schritt und Tritt von zwei Kamerateams verfolgt, avanciert der junge Mann in kürzester Zeit zum Publikumsliebling – bis er sich in die Verlobte seines Bruders verliebt. Diese beiden Filme sind durchaus kritische Parabeln über das Thema Dauerüberwachung und persönliche Freiheit, über das Verhältnis von Schein und Wirklichkeit, von Privatleben und öffentlichem Spektakel.
Nach der langen Kette von Vorläufern war eine Sendung wie „Loft Story“ fast unvermeidlich. Umberto Eco gliedert die Geschichte des Fernsehens in zwei Phasen: Im so genannten Archeo-TV vor 1980 durfte auf der Mattscheibe nur erscheinen, wer beachtliche Meriten vorzuweisen hatte: Spitzensportler, große Schriftsteller, bekannte Persönlichkeiten. Der Geladene erschien sonntäglich gekleidet, trug eine Krawatte und musste sich einer korrekten Ausdrucksweise befleißigen. Das Fernsehen war ein Podium, zu dem nur die Allerbesten Zugang hatten.
Dann kam das Neo-TV, in Frankreich in den Achtzigerjahren eingeführt vom Berlusconi-Sender La Cinquième. In Quizsendungen und Talkshows durften nun Herr Jedermann und Frau Jedefrau das Podium besteigen, Menschen ohne besondere Verdienste. Man brauchte nicht fein angezogen sein, man musste nur natürlich auftreten und möglichst salopp reden, und schon hatte man alle Aussichten, zum Kurzzeithelden einer der populären Publikumssendungen aufzusteigen. Als aktuelle Beispiele seien „Ça se discute“, „Ç’est mon choix“ und „Voulez-vous gagner des millions?“ genannt. Geboren war ein Fernsehen, das die Menschen angeblich so widerspiegelt, wie sie sind.
Mit „Big Brother“, „Loft Story“ und wie sie alle heißen beginnt allerdings eine wiederum neue Etappe in der Geschichte des Fernsehens. Diesmal dürfen die sonst Zuschauenden – repräsentiert durch die freiwillig Eingesperrten – nicht mehr nur an einer einzelnen, gewöhnlichen Sendung mitwirken, sondern an einer ganzen Sendereihe, also an einer Art Seifenoper. Die symbolische Belohnung reduziert sich hier nicht auf die narzisstische Befriedigung, „ich war im Fernsehen“, nicht auf einen einmaligen und kurzzeitigen Auftritt (in einem Quiz, einem Spiel, einer Talkshow); als Belohnung winkt vielmehr die Verwandlung in Helden einer richtigen Geschichte.
Was die Begeisterung des Publikums weckt, ohne dass es sich dessen unbedingt bewusst sein muss, ist die unter seinen Augen stattfindende Metamorphose von gewöhnlichen Menschen wie du und ich in handelnde Figuren einer Geschichte, einer Erzählung, eines Drehbuchs, einer Seifenoper. Aziz, Loana, Julie und die anderen Loft-Bewohner sind zugleich sie selbst und doch nicht mehr ganz sie selbst, denn indem sie ihr Leben zum Spektakel werden lassen, avancieren sie unter der Hand zu Hauptdarstellern einer Filmerzählung. Und diese Aura des Fiktionalen erleichtert den Aufstieg zum Star.
In einer Gesellschaft, in der Solidarität allmählich zum Fremdwort wird und Einsamkeit und Vereinzelung dominieren, reagieren zumal die Jüngeren unter den Zuschauern fasziniert (oder auch empört) auf die scheinbare Leichtigkeit, mit der man zum Medienstar mutieren kann. Dabei bemerkt gerade das jüngere Publikum nicht unbedingt, dass der Schein trügt. Denn in dem Maße, wie sich der Konkurrenzkampf in den Medien verschärft, wird die Branche immer gieriger nach immer neuen Stars suchen. Im Handumdrehen müssen sie produziert sein – Loft Story macht es vor –, und im Handumdrehen müssen sie verwertet werden, noch bevor ihr Marktwert sinkt und andere, ebenso kurzlebige Berühmtheiten das Feld betreten. In der kannibalistischen Phase der Massenkultur, in der die Selbstunterwerfung – um es mit Guy Debord zu sagen – sich mit ungeheurer Geschwindigkeit vollzieht, geht es nur noch darum, Wegwerfstars zu fabrizieren. Heute alles, morgen nichts.
dt. Bodo Schulze