15.06.2001

Chatamis zweite Amtszeit

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Chatamis zweite Amtszeit

Von ERIC ROULEAU *

AN diesem Abend gab es in Teheran offensichtlich Grund zu feiern. Unzählige Autos wälzten sich durch die Hauptstraßen; vollgepackt mit Eltern und Kindern, aber häufiger noch mit Trauben von Jugendlichen. Ein gellendes Hupkonzert übertönte den Lärm der Menschenmenge, die sich auf Straßen und Bürgersteigen drängte. Trotz des Feiertags blieben die Geschäfte und Restaurants, die Cafés und Fastfood-Filialen geschlossen. Es waren überwiegend junge Leute, die durch die Stadt schlenderten. Hier und da bildeten sich Grüppchen, Jungen und Mädchen, die sich auf offener Straße unterhielten. Man war zurückhaltend, aber offenbar in bester Stimmung. Viele junge Frauen waren unterwegs, in bunten, langärmligen Kleidern, ohne den vom islamischen Sittengesetz vorgeschriebenen Tschador, das Gesicht unverhüllt, manche geschminkt, den islamischen „Schleier“ so locker um den Kopf gebunden, dass noch ein paar sorgfältig frisierte Locken zu sehen waren. Paare promenierten untergehakt oder Händchen haltend. Das alles wäre früher undenkbar gewesen, doch im Iran vollzieht sich seit geraumer Zeit – unter den ebenso missbilligenden wie resignierten Blicken der islamischen Sittenwächter – ein unaufhaltsamer Wandel der Sitten.1

Urplötzlich schlug die Festtagsstimmung um: Basidsch, städtische Ordnungskräfte, tauchten auf, ganz in Schwarz, mit schwarzen Halstüchern, zu Fuß und auf Mopeds. Sie gingen auf die jugendlichen Passanten los und begannen, mit dem Schlagstock auf sie einzuprügeln. Wer sich nicht sofort verdrückte, wurde verhaftet und in ein Polizeifahrzeug verbracht. „Diese kleinen Taugenichtse wollen hier doch nur herumpoussieren“, meinte ein Polizist.

Es war der Abend des Aschura-Festes, an dem die Iraner ihres Märtyrers, des Imam Hussein gedenken, der im 7. Jahrhundert zusammen mit einer Gruppe von Gefolgsleuten von den Schergen des Kalifen Omar ermordet wurde. Omar galt der Schia, der Widerstandsbewegung gegen die Omaijaden, als unrechtmäßiger Herrscher, und bis heute ist für die Schiiten der Tod des Imam Hussein das Symbol für die Aufopferung im Kampf gegen Unrecht und Tyrannei. Am Morgen dieses Staatstrauertages werden im Iran öffentliche Selbstgeißelungen abgehalten, abends ziehen die Gläubigen mit Kerzen durch die Straßen. Natürlich entsprach das Verhalten der jungen Teheraner an diesem Abend nicht der frommen Tradition. Ein junger Mann nahm mich, den zufällig anwesenden Ausländer, zum Zeugen und rief mir zu: „Wir sind genauso gläubige Muslime wie diese Schläger! Aber sie wollen uns ihre dogmatischen Vorstellungen aufzwingen und uns kein bisschen Freiheit gönnen. Klar, die haben begriffen, dass unsere Art, das Aschura-Fest zu begehen, auch eine Art Demonstration gegen die Diktatur ist.“

Die Konfrontation war ungewöhnlich, denn zwischen den Ordnungskräften und den jungen Iranern besteht eine Art Stillhalteabkommen: Die Jugendlichen beteiligen sich nicht an Streiks und Demonstrationen (die in den vergangenen Jahren stets blutig unterdrückt wurden), dafür mischt sich die Polizei nicht in ihr Privatleben ein. So gibt es landauf, landab immer mehr Satelliten-Antennen, die eigentlich verboten sind. Und die ebenfalls unerwünschten Audio- und Videokassetten mit Musik und Filmen aus dem Westen werden offen gehandelt, ohne dass die Ordnungshüter eingreifen. Auch wenn die jungen Leute in ihren Wohnungen zu lauter Musik tanzen, Rock- und Pop-Konzerte organisieren, bei denen reichlich eingeschmuggelter Alkohol konsumiert wird, und sich Jungen und Mädchen gegen alle Regeln verabreden – die Polizei schaut weg. Eigentlich deutet alles darauf hin, dass die sittenstrenge Staatsführung sich mit dieser Art von Gegenkultur arrangiert hat, weil der Versuch, sie zu unterdrücken, den sozialen Frieden gefährden würde. Schließlich ist heute jeder zweite Iraner jünger als achtzehn Jahre, drei Viertel der Bevölkerung sind unter fünfunddreißig. Diese jungen Staatsbürger, nicht zuletzt die Frauen, stellen das Wählerpotenzial dar, auf das die Reformkräfte bei jedem Urnengang rechnen.

Weil ihnen klar ist, dass sie gegen die sozialen Veränderungen wenig ausrichten können, konzentrieren sich die Konservativen darauf, ihre politische Macht auszuspielen – vor allem gegenüber der unabhängigen Presse, die sich als sehr einflussreich erwiesen hat. In dem kurzen politischen Frühling, der auf die Wahl Mohammad Chatamis zum Staatspräsidenten im Mai 1997 folgte, wurden im Rahmen der verfassungsmäßigen Pressefreiheit einige hundert neue Zeitungen und Zeitschriften mit politischer, sozialer und kultureller Orientierung zugelassen. Die Journalisten fassten neuen Mut und wagten es, gegen die alten Machthaber und ihre Dogmen anzugehen. Tabus, die man brechen konnte, gab es zur Genüge. Hochrangige Geistliche und Philosophen vertraten „revisionistische“ Positionen, setzten sich für einen Islam ein, der offen sein sollte für die Prinzipien von Demokratie, Bürgerrechten und echter Laizität.

Zunächst zeigten die Einschüchterungsversuche der Machthaber wenig Wirkung. Einige Zeitungen wurden verboten, erschienen aber bald darauf unter neuem Namen. Das damals noch von den Konservativen beherrschte Parlament entließ den Innenminister, Abdallah Nuri, einen fortschrittlichen Kleriker, der zum Führungskreis der Reformer gehörte, doch Präsident Chatami gelang es, einen anderen seiner Vertrauten in dieses Amt zu bringen. Nach der Ermordung einer Reihe von Oppositionellen im Herbst 1998 setzte Chatami die Einrichtung einer Untersuchungskommission durch, die Mitglieder des Geheimdienstes als Urheber der Anschläge identifizierte – drei der Beschuldigten wurden zum Tode verurteilt. Chatami nutzte den Skandal überdies, um den Geheimdienstminister abzusetzen, einen Gefolgsmann von Ajatollah Ali Chamenei, dem Nachfolger Chomeinis im Amt des „geistlichen Führers“. Den Posten des Geheimdienstministers übernahm ein gemäßigter Politiker. Die ganze Affäre setzte deutlich neue Zeichen: Politische Morde – zumeist als Unfälle oder gewöhnliche Verbrechen getarnt – waren in der Geschichte der Islamischen Republik nie zuvor aufgeklärt, nie die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden.

Zu Beginn der Amtszeit Chatamis mussten die Konservativen also feststellen, dass der Präsident Erfolge verbuchen konnte und die Zivilgesellschaft sich trotz aller Schikanen gegen oppositionelle Zeitungen nicht einschüchtern ließ. Die Macht der Theokraten begann zu schwinden, während der Februar 2000, der Termin für die Parlamentswahlen, näher rückte. Schon bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 1997 und den Kommunalwahlen im Februar 1999 hatten die Reformkräfte große Erfolge erzielt: Beide Male erhielten sie rund 70 Prozent der Stimmen. Die Versuche der Konservativen, die Wahlergebnisse zu fälschen, erwiesen sich als kontraproduktiv, und als sich der Vormarsch der Reformer in der Übernahme von zwei Dritteln der Parlamentssitze durch Anhänger des Wandels ausdrückte, geriet das konservative Lager in Panik. Die scheidende Nationalversammlung verabschiedete – zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang – noch rasch ein neues Pressegesetz. Seitdem ist es für verbotene Presseorgane nicht mehr möglich, unter anderem Namen neu zu erscheinen, die betroffenen Journalisten dürfen nicht mehr für andere Zeitungen arbeiten. Als die reformorientierte Mehrheit im Parlament einen Gesetzesvorschlag verabschiedete, der diese Änderungen aufheben sollte, machte der „geistliche Führer“ Ajatollah Chamenei von seinem Vetorecht Gebrauch – mit der Begründung, diese gesetzliche Bestimmung verstoße gegen die Prinzipien des Islams. Damit waren der neuen Parlamentsmehrheit die Hände gebunden.

Repressionen im Dienst des Propheten

IM vierten und letzten Jahr der Amtszeit von Präsident Chatami erlebte der Iran, ab dem Frühjahr 2000, eine Welle der Repression, wie es sie seit dem Tod von Chomeini 1989 nicht mehr gegeben hatte. Ajatollah Chamenei erklärte unverblümt, der Islam dürfe Gewalt anwenden, sobald seine Prinzipien verletzt würden. Bereits zuvor hatte Ajatollah Mohammad Mesbah-Jasdi, der Führer der extremen Rechten, in seinen Predigten den Rückgriff auf gewaltsame Maßnahmen zur „Pflicht“ erklärt, falls sich die Islamische Republik nicht anders schützen könne – „selbst wenn dabei Tausende von Menschen ums Leben kommen“. Und er fügte hinzu, dass jeder gute Muslim verpflichtet sei, alle Ungläubigen, die „den Islam oder den Propheten beleidigen, (. . .) im offenen Kampf zu töten“.

Diesen Mordaufruf befolgte ein junger Student, als er zwischen den beiden Urnengängen der Parlamentswahl Said Hadscharian niederschoss. Der Freund und persönliche Berater von Präsident Chatami hatte die für den Erfolg der Reformer maßgebliche Strategie ersonnen. Kürzlich hat Hadscharian – der aufgrund seiner Wirbelsäulenverletzung an den Rollstuhl gefesselt ist – lächelnd, aber mühsam nach Worten ringend, die „Anteilnahme“ des geistlichen Führers Chamenei gewürdigt, der ihn im Frühjahr, ein Jahr nach dem Attentat, empfangen und ihm gute Besserung gewünscht hat. Der Reformer hat auf die Entschädigungssumme verzichtet, die ihm nach dem islamischen Recht zusteht, denn der Attentäter sei lediglich ein Werkzeug der Kräfte im „Turm der Gespenster“. Diese unter Oppositionellen gängige Metapher umschreibt die geheimen Treffen hochrangiger Persönlichkeiten, bei denen die Strategie des Terrors festgelegt wird.

Die Repression geht einher mit Einschüchterungsmaßnahmen. Rund dreißig Zeitungen wurden unwiderruflich verboten, die Zivilgesellschaft hat mehrere Verhaftungswellen erlebt, von denen Journalisten, Verlagsleiter, Rechtsanwälte, Professoren und Studentenführer ebenso getroffen wurden wie Korangelehrte und Politiker. In öffentlichen oder geheimen Gerichtsverfahren wurden einige der Verhafteten – wegen politischer Aktivitäten, Publikationen oder als aufrührerisch qualifizierter Äußerungen – zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Andere sitzen bis heute in Untersuchungshaft, ohne Kontakt mit ihren Familien oder Anwälten. Alle Verhafteten werden, mit verbundenen Augen, endlosen Verhören unterzogen und gedrängt, öffentlich Abbitte zu leisten, das heißt vor laufenden Fernsehkameras ihre Verfehlungen zu „gestehen“.

Bislang hat sich keiner von ihnen dazu verleiten lassen. Alle bekennen sich zu ihren Überzeugungen und bestehen auf ihrer Meinungsfreiheit. So auch Hodschateslam Hassan Jussefi-Eschkewari, ein angesehener Korangelehrter, Verfasser eines umfangreichen Lexikons des schiitischen Islams, der wegen Glaubensfrevels angeklagt wurde. Und zwar deshalb, weil er für eine Trennung von Staat und Religion eintritt und erklärt hat, dass der Islam den Schleier für Frauen nicht zwingend vorschreibe. Er wurde in einem Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zum Tode verurteilt. Ein weiteres Beispiel ist Maschallah Schemsol-Waesin, der junge und erfolgreiche Chefredakteur einer Zeitung, die nach ihrem Verbot neu gegründet wurde. Er will sich nicht von einem Artikel distanzieren, der im Namen des Islams die Abschaffung der Todesstrafe forderte. Er verbüßt eine Gefängnisstrafe von dreißig Monaten und wird sich wegen weiterer „Verbrechen“ verantworten müssen. Akbar Gandschi, der populärste Journalist aus dem Reformlager, ist ein gläubiger Muslim, der durch seine Kritik am „islamischen Faschismus“ bekannt wurde und dessen Buch („Die grauen Eminenzen“) sich wie ein Schlüsselroman über die Ajatollahs liest. Er nannte vor Gericht die Namen derer, denen er vorwirft, in den letzten zehn Jahren etwa hundert Mordanschläge in Auftrag gegeben zu haben – das brachte ihm zehn Jahre Gefängnis ein. Ein weiteres Justizopfer ist Essatollah Sahabi, einst Mitglied des Revolutionsrats, den Ajatollah Chomeini 1979 ins Leben gerufen hatte. Der Geistliche, der über siebzig und schwer herzkrank ist, hat ganz offen geschrieben, dass die islamische Revolution von den Anhängern eines totalitären Islams zum Scheitern gebracht worden sei. Bis heute weiß man über sein Schicksal ebenso wenig wie über das von etwa sechzig seiner im Frühjahr verhafteten Gesinnungsgenossen, die der „nationalreligiösen Bewegung“ angehören.

Diese Bewegung, die seit langem gegen die herrschende Theokratie opponiert, war von den Machthabern bislang toleriert worden. Nun aber sind ihre politischen Vertreter der Verschwörung zum gewaltsamen Umsturz angeklagt – und darauf steht die Todesstrafe. Die Ankläger haben vor allem zwei Gruppierungen im Fadenkreuz: Die „Bewegung militanter Muslime“, eine sozialdemokratische Organisation unter der Führung von Dr. Habibollah Peiman, der bereits verhaftet ist, und die „Bewegung für die Freiheit“, deren Führer Dr. Ibrahim Jasdi, ehemals Minister im ersten Kabinett der Islamischen Republik, sich derzeit zur Behandlung eines Krebsleidens in den Vereinigten Staaten aufhält, sich aber nach seiner Genesung der Justiz stellen will.

Zentral gelenkt wird die Repression vom allmächtigen Justizapparat, der allein den Weisungen des „geistlichen Führers“ untersteht und praktisch keiner Kontrolle unterliegt. Die Justiz verfügt über einen eigenen Geheimdienst, eine eigene Polizei und geheime Gefängnisse. Ihre Vertreter, die abwechselnd als Staatsanwalt oder Richter oder beides zugleich auftreten, führen eine Vielzahl von Gerichten unterschiedlicher Zuständigkeit: Revolutionsgerichte, Gerichte für die Geistlichkeit, die Presse oder für Strafsachen. Nicht immer sind die Beschuldigten bei ihrem eigenen „Prozess“ anwesend, oft bekommen sie von einem Richter oder Ankläger in der Zelle mitgeteilt, welches Urteil gegen sie ergangen ist.

Als dem Leiter des islamischen Justizwesens, dem Ajatollah Haschemi Schahrudi, vor allem aus den Reihen der Parlamentsmehrheit der Vorwurf gemacht wurde, er verstoße gegen die Verfassung und missachte die geltenden Gesetze, erwiderte er, die Auslegung der Schriften sei allein Sache der Geistlichkeit. Damit waren seine Mitstreiter gemeint, überwiegend Korangelehrte, die der Haqqani-Schule angehören. Diese Institution, die früher einmal von relativ aufgeklärten Ajatollahs geführt und hoch geachtet war2 , hat sich in den letzten Jahren in ein Zentrum für Obskurantisten der extremen Rechten verwandelt – ein fortschrittlicher Geistlicher bezeichnete sie im privaten Gespräch als die „iranischen Taliban“. Sie verfügen über weit reichenden Einfluss im Staatsapparat, sogar im inneren Zirkel des geistlichen Führers, und auch im Medienimperium Keihan, das von Hossein Schariat-Madari, einem früheren Geheimdienstmann, geführt wird. Ihr führender Kopf ist Ajatollah Mesbah-Jasdi, der offen für Gewalt und politische Morde eintritt – und der an ebenjener Haqqani-Schule in der Heiligen Stadt Qom lehrt.

Dennoch sind die „grauen Eminenzen“ nicht mehr so gefürchtet wie früher. Natürlich treffen die mehr oder minder in der Illegalität arbeitenden politischen Aktivisten immer noch besondere Sicherheitsvorkehrungen, wenn sie einem ausländischen Journalisten ein Interview geben: Sie lassen sich Anonymität zusichern, sie verabreden sich nicht an einem öffentlichen Ort, und sie schalten ihr Handy aus. Doch das ist heute eher die Ausnahme. Die Journalisten der unabhängigen Presse – das sind sieben Tageszeitungen und verschiedene andere Organe des reformistischen Lagers, die dem Kahlschlag entgangen sind – sparen nicht mit offener Kritik an den Machthabern, allenfalls wählen sie etwas weniger scharfe Formulierungen als früher.

Die Reformpolitiker, mit denen ich gesprochen habe, zeigten sich erstaunlich gelassen (einschließlich derer, die sich nur unter Auflagen auf freiem Fuß befinden). Auf die Drohungen hoher staatlicher Würdenträger reagierte man zumeist mit Hohn und Spott. So selbstsicher können sich die Reformisten nur deshalb geben, weil sie überzeugt sind, dass die staatlichen Gewaltmaßnahmen letztlich zum Scheitern verurteilt sind und das Regime nur weiter in Misskredit bringen werden. Sorgen machte man sich allerdings wegen der möglichen Wirkung der Repression auf die Wähler: Würde sich bei den Präsidentschaftswahlen am 8. Juni die Zahl der Nichtwähler weiter erhöhen, weil viele Chatami für zu schwach hielten – wo er ja noch nicht einmal seine Gefolgsleute zu schützen vermochte? Die Sorgen sollten sich als unbegründet erweisen: Die Wahlbeteiligung lag bei 83 Prozent und damit deutlich höher als vor vier Jahren (76 Prozent). Dies wird allgemein als ein deutliches Zeichen für den Reformwunsch der Bevölkerung gedeutet.

Gründe zur Unzufriedenheit bestehen indes genug. Während der ersten Amtszeit Chatamis sanken weder die Arbeitslosenzahlen (20 Prozent nach neutralen Schätzungen), noch die Inflationsrate (17 Prozent); Hochschulabsolventen müssen sich mit subalternen Posten zufrieden geben und träumen von der Auswanderung. Im vergangenen Jahr haben, nach offiziellen Angaben, mehr als 200 000 Angehörige der Mittelschicht dem Land den Rücken gekehrt und verstärken das Lager der mitt ler weile schon drei Millionen Emigranten. Die Gesundheitsdienste melden einen alarmierenden Anstieg psychischer Erkrankungen – wie Depressionen, Schizophrenie – unter den jungen Leuten, die offenbar das ihnen aufgezwungene Doppelleben nicht ertragen können: ein öffentliches Leben nach den strengen Regeln des Islams und ein privates, das von der insgeheim praktizierten Gegenkultur geprägt ist.

Soziologische Studien verweisen zudem auf den wachsenden Drogenkonsum. Vor allem Heroin ist auf dem Vormarsch, das aus Afghanistan kommt und nicht viel kostet. Offiziell gibt es im Iran mehr als zwei Millionen Drogenabhängige. Alle Politiker, im rechten wie im linken Lager, beklagen die gefährliche Polarisierung, die sich gerade unter den Jugendlichen abzeichnet. Die einen wenden sich, enttäuscht von der Machtlosigkeit der Reformbewegung, einer aktionistischen Politik der radikalen Veränderung zu. Die anderen wollen von der Politik nichts mehr wissen; sie lesen wenig, interessieren sich nur noch für die Unterhaltungsprogramme der internationalen Fernsehkanäle und hören ausschließlich ausländische Radiosender wie BBC, Voice of Amerika oder Radio Israel. Ihre Reaktion auf die offizielle Propaganda ist eine ungebrochene Bewunderung für die USA, die ihnen als die Heimat von Freiheit, Kultur und Überfluss erscheinen. Die antizionistischen Aufrufe der iranischen Führung kommen bei ihnen nicht mehr an.

Die Feministinnen und der Wächterrat

DIE Frauen, die ebenso wie die iranische Jugend eine Vorreiterrolle in der Reformbewegung spielen, treten für ihre Ziele mit großer Hartnäckigkeit ein.3 Enttäuscht haben sie feststellen müssen, dass dem im vergangenen Jahr gewählten Parlament weniger Frauen angehören als dem vorigen: 14 der 290 Delegierten waren es in der früheren, von den Konservativen beherrschten Volksversammlung gewesen, heute sind es nur noch 11. Auch ist nicht zu übersehen, dass die Parteien und Organisationen der Reformbewegung von Männern geführt werden und dass einige ihrer Parlamentarier und Führungspersönlichkeiten eine herablassende Haltung gegenüber Frauen einnehmen. „Uns wird immer wieder nahe gelegt, zurückzustecken und abzuwarten, bis die Demokratie durchgesetzt ist“, empört sich die Feministin und militante Islamistin Mahbubeh Abbas Gholisadeh. Und ihre Mitstreiterin Sarwanes Wafa, eine überzeugte Laizistin (eine Bezeichnung, die sie aus verständlichen Gründen zurückweist) fügt hinzu: „Diese Sexisten vergessen anscheinend, dass wir sie gewählt haben, damit sie die emanzipatorischen Kräfte in der Gesellschaft stärken.“

Im Gespräch erkennen allerdings beide Frauen an, dass die Abgeordneten der reformistischen Mehrheit auf Veranlassung der feministischen Bewegungen eine Reihe von Gesetzesvorschlägen verabschiedet haben, die bestehende diskriminierende Vorschriften bezüglich Heirat, Scheidung und Erbrecht abschaffen sollen. Bislang vergeblich: Die Vorlagen scheiterten am Veto des islamischen „Wächterrats“, eines Gremiums, das über die Vereinbarkeit aller Gesetze mit dem islamischen Sittengesetz zu entscheiden hat. In einem sind sich die beiden Feministinnen einig: „Unser vorrangiges Ziel ist die Heraufsetzung des Mindestheiratsalters für Mädchen auf fünfzehn Jahre. Nach der Scharia dürfen sie mit acht Jahren und neun Monaten verheiratet werden – das ist für uns eine Form legalisierter Pädophilie.“

Uneins sind sie sich nur über die künftige Rolle des islamischen Sittengesetzes. Die Islamistin Gholisadeh meint, die Scharia müsse den Gegebenheiten der modernen Welt angepasst werden, weil „Gott und sein Prophet die Gleichberechtigung der Geschlechter wünschen“. Ihre Mitstreiterin plädiert dagegen für eine Gesetzgebung auf der Grundlage der „Vernunft“, allerdings „im Einklang mit den spirituellen Werten“.

Beide Feministinnen loben Präsident Chatami für sein ernsthaftes Eintreten für die Sache der Frauen. Sie verweisen darauf, dass er einen seiner Stellvertreterposten an eine Frau vergeben und in jedem Ministerium ein Amt für Frauenangelegenheiten geschaffen hat. Auch sei ihm die großzügige Unterstützung zu verdanken, die Dutzenden feministischen Nichtregierungsorganisationen gewährt wird, und einige dieser Vereinigungen seien auch an der Ausarbeitung des Fünfjahresplans beteiligt worden.

Von Teheran aus betrachtet, sieht die politische Bilanz der ersten Amtszeit Chatamis nicht so schlecht aus, wie sie auf den ersten Blick wirken mag (siehe Kasten). Das gilt vor allem, wenn man die ungünstigen Voraussetzungen bedenkt, unter denen die Reformbewegung angetreten ist: eine duale Verfassung, die theokratische wie demokratische Elemente enthält, Ersteren aber prinzipiell den Vorrang gibt, die Schwächen der Erneuerungsbewegung, deren insgesamt 18 Parteien und Vereinigungen sich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen können, und schließlich die Rolle des Staatspräsidenten Chatami, der sich nur als Sprecher und nicht als Führer dieser Bewegung sehen will.

Mohammad Chatami ist ein humanistisch orientierter Intellektueller, der sich philosophischen und moralischen Positionen verpflicht fühlt und keinerlei persönliche Ambitionen hat. In die äußerst komplizierte und verwirrende Sphäre der iranischen Politik hat es ihn eher unfreiwillig verschlagen. Vielleicht hatte Ajatollah Chamenei nicht ganz Unrecht, als er sich kürzlich über die „unsinnigen Vorstellungen im Ausland“ beschwerte und erklärte, der Iran sei nicht die Sowjetunion und Chatami sei nicht Gorbatschow. Die so genannten vernünftigen konservativen Führer im Iran dürften das genauso sehen: Auch ihnen ist wohl klar, dass an Chatami als vom Volk legitimiertem Staatsoberhaupt kein Weg vorbeiführt, und sie wissen auch, dass er nach seinem klaren Wahlsieg, nach dem eindrucksvollen Vertrauensbeweis des iranischen Volker für seinen liberalen Präsidenten, vielleicht nicht mehr ganz so vorsichtig auftreten wird wie bisher.

Um die Bevölkerung am 8. Juni an die Urnen zu bringen, hatten die Reformer die Parole ausgegeben, es gehe nicht nur um eine Präsidentschaftswahl, sondern um eine „Volksabstimmung“. Damit wollen sie zu verstehen geben, dass bei diesen Wahlen die grundsätzliche Entscheidung zwischen Demokratie und Theokratie anstehe. Mohammad Chatami steht damit in seiner zweiten Amtszeit vor einer umfassenden und schweren Aufgabe.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist

Fußnoten: 1 Siehe Eric Rouleau, „Kohabitation im Gottesstaat“, Le Monde diplomatique, Juni 1999. 2 Die islamische Bildungseinrichtung wurde 1964 als Stiftung des konservativen Geschäftsmanns Haqqani-Sandschani gegründet und war bis zur Islamischen Revolution von 1979 eines der Zentren der islamischen Opposition gegen das Schah-Regime. (A. d. Ü.) 3 Siehe Azadeh Kian, „Gemeinsam gegen die Mullahs“, Le Monde diplomatique, November 1996.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von ERIC ROULEAU