13.07.2001

Der sanfte Terror des Tourismus

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Der sanfte Terror des Tourismus

Von THIERRY PAQUOT *

1908 veröffentlichte Georg Simmel einen kurzen Text mit dem Titel „Exkurs über den Fremden“1 . Der deutsche Philosoph reflektierte als einer der ersten über die gesellschaftlichen Formen, die von der „Groß-Stadt“ hervorgebracht werden, der modernen Stadt, wie Baudelaire sie in kraftvolle lyrische Bilder übersetzt hat. Es ist die Stadt der Eisenbahn und der Verkehrsströme, der grundstürzenden Veränderungen auf demografischer, ökonomischer, territorialer und kommunikativer Ebene. In diesem veränderten gesellschaftlichen Kontext entdeckt Georg Simmel einen neuen Typus: den Fremden. Der Fremde ist ein Mensch, der sich hier bewegt, aber kein Hiesiger ist, der „die Einheit von Nähe und Entferntheit“ darstellt. So verkörpert der Fremde die Mobilität, eine Mobilität, die uns neugierig macht (die wir ihm vielleicht sogar neiden) und uns doch gleichgültig lässt; er gehört nicht zu uns, es ist uns unmöglich, ihn so weit kennen zu lernen, dass wir ihn anerkennen. Dieses Verhältnis nennt Georg Simmel eine „Nicht-Beziehung“.

Der Typus des Fremden in der Großstadt löst keineswegs den weit älteren Typus des Reisenden ab. Er ist ebenso neuartig wie das Verhältnis zur Fremdheit des Mitmenschen, der nicht von hier ist, aber durch seine Gegenwart unsere Unverwechselbarkeit bestätigt. Seine offenbare Nähe rückt in dem Spiegel, den er uns vorhält, in die Ferne. Gehört dieser Fremde zur selben Gattung wie der Tourist?

Ein halbes Jahrhundert nach Georg Simmels Reflexionen veröffentlichte die Zeitschrift Merkur einen Radiobeitrag des jungen Hans Magnus Enzensberger mit dem Titel „Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus“2 . Obwohl die aus dem Englischen stammenden Begriffe „Tourist“ und „Tourismus“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts in fast allen europäischen Sprachen auftauchen, vermerkt Enzensberger, gebe es immer noch keine Geschichte und erst recht keine allgemeine Theorie des Tourismus. Nun hat es seit 1958 eine eindrucksvolle Liste von Publikationen zum Thema „Reisen und Tourismus“ gegeben. In Enzensbergers Beitrag findet sich auch ein Zitat von Gerhard Nebel: „Ein Land, das touristisch erschlossen wurde, verbirgt sich metaphysisch – es bietet eine Kulisse, aber nicht mehr seine dämonische Kraft dar.“

Der Vorwurf ist nicht neu. Tatsächlich wird man dort, wo sich Touristen hinbegeben, immer auch die andere Seite der Medaille finden: den Schandfleck Tourismus. „Das genormte Grundelement der Reise ist die ‚sight‘, die Sehenswürdigkeit“, schreibt Hans Magnus Enzensberger, „sie wird nach ihrem Wert durch einen, zwei oder drei Sterne klassifiziert.“ Ziel der touristischen Reise ist es, die Richtigkeit der Informationen aus dem Reiseführer zu überprüfen und möglichst ein fotografisches Beweisstück mit nach Hause zu bringen. Wir besichtigen „anderswo“ etwas, um nicht länger das „hier“ sehen zu müssen, das wir nicht mehr ertragen, das uns langweilt.

Überall und zu allen Zeiten haben die Menschen Reisen unternommen. Doch damit waren sie noch lange keine „Touristen“. Mitunter waren sie „Fremde“. Der Übergang vom „Reisenden“ zum „Touristen“ lässt sich messen am Verschwinden der Gastfreundschaft. Wo das Gewähren von Obdach, Nahrung und Schutz – kostenlos und ohne unmittelbare Gegenleistung – an Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit einbüßt, entsteht ein Unterkunftsgewerbe, beginnend mit Gasthöfen und endend mit Hotels, die mit den Lebenswelten, in deren Mitte sie errichtet werden, immer weniger zu tun haben.

Der Tourist ist kein Reisender. Zu den Reisenden zählen der Pilger, der bildungsreisende Scholar, der Künstler und der Händler, der Söldner und nicht zuletzt der Landstreicher. Unterwegs, ist dieser Reisende gleichwohl zu Hause: Er hat keine feste Bleibe und ist den Anderen ein Unbekannter, aber er bewohnt die Welt. Der Tourist ist erst recht kein Flüchtling, Migrant oder entlaufener Sträfling. Er ist nicht einmal ein Urlauber: „Urlaub“ beinhaltet die Erlaubnis, fortzugehen – der Ritter erhielt sie von seinem Herrn oder der Dame seines Herzens, der heutige Arbeitnehmer bekommt sie von seinem Arbeitgeber. Das heißt, er erlangt die Freiheit, nichts zu tun. Der Tourist aber ist nicht frei, er muss sich touristisch betätigen. Das ist Ziel und Zweck des Tourismus.

Wie Jean Chesneaux feststellt, bedarf es einer geschmeidig-freien Verfügbarkeit, um die Zeit bewohnen zu können; Marc Augé spricht davon, dass beim organisiertem Reisen der Ort des Anderen aufgesucht wird, ohne dass das Andere darin vorkommt.3 Mit dem Tourismus ist die Geschichte des Reisens in ihre geldwerte, kommerzielle Phase eingetreten. Eine Begegnung sieht das Programm nicht vor. Der Tourist konsumiert nonstop: Landschaft, Architektur, Kultur, wenn auch ohne Bezug zum Ort. Er bewegt sich fort, doch seine Fortbewegung muss sich lohnen und rechnen. Alles, was den Konsum durchkreuzt, wird als organisatorischer Fehler des Reiseunternehmens erlebt, dem dafür ein Prozess droht.

Der Tourist fühlt sich offenbar nur unter Touristen wohl. Umgeben von anderen Touristen, hat er keine Angst mehr und kann seinen Ärger über die Qualität der Dienstleistungen oder die Extraspesen für einen Ausflug loswerden. Unterkunft und Essen sollen wie zu Hause sein, damit der Tourist sich nicht befremdet fühlt und sich etwa erst akklimatisieren muss. Deshalb braucht er eine möglichst neutrale und vertraute Umgebung. Der Tourismus steht zum Reisen im selben Verhältnis wie der Konsens zur Politik: Beide sind der kleinste gemeinsame Nenner, wo doch gerade Widerspruch und Spannung eine träge werdende Demokratie in Bewegung bringen und die Reise durch das Unerwartete und durch Verzögerung an Erfahrungsreichtum gewinnt.

Der Reisende tut alles, um unter den Leuten zu sein, die er auf seinen Reisen antrifft. Zu einem solchen Dabeisein ist der Tourist nicht im Stande. Der Reisende ist immer noch ein Flaneur, der jene „Feinschmeckerei des Auges“ pflegt, von der sich Balzac so bezaubern ließ. Der Reisende nimmt sich Zeit, genießt die Dauer, das Ausruhen, das Warten; der Tourist hingegen verbietet sich das Nichtige, Flüchtige, Innehaltende. Er fürchtet das Abenteuer und hofft auf die beanspruchte Leistung, auf das garantierte Erlebnis. Das lässt sich ablesen am beispiellosen Boom des Extremtourismus: Himalaja-Besteigungen, Polarexpeditionen, Wüstendurchquerungen, außergewöhnlich und extrem muss es jedenfalls sein.

Was die Ausrede des kulturellen Interesses betrifft, so kann sie die Realität kaum kaschieren: Im Louvre steht man ein paar Sekunden vor der „Mona Lisa“, anschließend eine Stunde vor dem Postkartenstand. Der frohgemut globalisierte Tourist besucht denkmal- oder landschaftsgeschützte Orte; und bedauerlicherweise hat sich die Unesco für diesen Schachzug des Marktes hergegeben und eine Liste eines vermeintlichen „Weltkulturerbes“ aufgestellt – beziehungsweise, wie es auf Französisch heißt, eines „Erbes der Menschheit“. Sprachgeschichtlich betrachtet, kann ein „Erbe“ niemals die gesamte Menschheit betreffen, ganz abgesehen davon, dass viele Sprachen weder dieses Wort noch die ihm zugrunde liegende Vorstellung kennen. Ein derartiger Anspruch auf ein Kulturerbe4 setzt ein bestimmtes Geschichtsverständnis voraus, ein besonderes Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das durchaus nicht allen Gesellschaften – oder den sie bildenden Völken – gemeinsam ist.

Ein Kulturerbe auflisten zu wollen, das von Land zu Land vergleichbar sein soll, kann sich als gefährliche, gleichmacherische Falle erweisen. Die ergreifende Schönheit einer Landschaft hängt nicht nur von den Farben des Himmels ab, vom sanften, uns umschmeichelnden Wind, von der geliebten Person, die uns begleitet, sondern auch von unserer Gegenwärtigkeit in der Welt und im Anderen, von unserer Fähigkeit, die Dinge und Menschen zu bewohnen.

Den weltweiten Massentourismus zu leugnen wäre verheerend. 1999 gab es 635 Millionen Touristen weltweit, 2020 werden es anderthalb Milliarden sein. Städtebau und Architektur sind der ehernen Logik des Touristikmarkts unterworfen, ungeachtet der Versuche, hie und da einen „nachhaltigen“ oder „sanften Tourismus“ einzuführen. Zwar sind diese alternativen Ansätze durchaus vernünftig und nobel gemeint, sie bleiben jedoch Randerscheinungen, sind vom Massentourismus und damit von den Regeln abhängig, die die multinationalen Unternehmen diktieren. Einen Bruch mit dem Massentourismus vollzieht man nicht durch politisch-moralisch korrektes Verhalten (also indem man die Bevölkerung des Reiselands respektiert, den gerechten Preis zahlt, den Sextourismus verurteilt usw.); ein Bruch kann nur gelingen, wenn man sich dem Massentourismus verweigert und sich auf das Reisen und die damit einhergehende Erfahrung von Zeit und Ort einlässt.

Der Massentourismus ist für das jeweilige Land von durchaus zweifelhaftem Nutzen. Er erfordert den Bau großer internationaler Flughäfen und eine ausgebaute Verkehrsinfrastruktur (Autobahnen, Züge, Taxis, Busse usw.). Für Gruppenreisen müssen Busparkplätze geschaffen und die Straßen verbreitert werden, damit die täglichen Ströme der Camcorder-Touristen an ihr Ziel gelangen können. Es entstehen Hotelghettos oder Museen, die dem Zeitgeschmack entsprechen. Oftmals wird das Bauwerk zum Markenartikel, zur Ikone; Form und Farben müssen schnell wiedererkennbar sein, wie es bei den meisten internationalen Hotel- und Restaurantketten ohnehin längst der Fall ist. Dies trägt nicht gerade dazu bei, eine anspruchsvolle Architektur zu fördern, die von einer am Maßstab des Schönen orientierten Originalität lebt.

Wenn man nach acht Flugstunden in Bombay oder an einem vergleichbaren Ziel anlangt, kann man sich unmöglich akklimatisieren und auf das Andere einlassen, zumal wenn der Aufenthalt auf acht Tage begrenzt ist. Der klimatisierte Wagen, das klimatisierte Hotel, die klimatisierten Museen, Restaurants, Einkaufspassagen – alles ist so eingerichtet, dass die Klimaunterschiede zwischen unserem Herkunftsland und dem Besuchsort abgemildert werden. Ein Moment ohne Aircondition wird fast schon als kühnes Wagnis angesehen, wenn nicht gar als ernste Gefährdung empfunden.

Satellitenfernsehen, E-Mail und Internet bedeuten eine tief greifende Veränderung des Gegensatzpaares nah/fern, das Georg Simmel an der Gestalt des „Fremden“ exemplarisch festgemacht hat. Die neuen Kommunikationsmittel führen zu einer internationalen Kultur des Sehens, die die lokalen Kulturen überformt, sich zuweilen mit ihnen vermischt und sie in den meisten Fällen traumatisiert. Unsere fünf Sinne haben keinen unmittelbaren Bezug zur sinnlichen Welt. Wir möchten uns nur noch im Bekannten, im bereits Gesehenen bewegen: in dem, was wir zu Hause gründlich im Reiseführer studiert haben, aus Hotelprospekten, Erzählungen von Freunden usw. kennen. Kurz, es geht uns darum, das Neue und Befremdende in genau der Form bestätigt zu finden, wie wir es erwartet und so teuer bezahlt haben.

Was ist zu tun? Sollen wir die zahllosen Ferienanlagen und Bettenburgen zur „Touristikbrache“ machen und einer anderen, noch auszudenkenden Bestimmung überlassen? Sollen wir den Massentourismus verbieten und nur noch einen elitären Eskapismus zulassen? Sollen wir Prüfungen ablegen, die uns bescheinigen, dass wir wunderbar sanfte Touristen sind? Wollen wir also eine internationale Tourismuspolizei einführen, die uns für Gesetzesverstöße Punkte anrechnet und im Falle schwerer Vergehen eine Strafe verhängt und uns vielleicht zu irgendeiner öffentlich nützlichen Arbeit verdonnert?

Der Touristikkrieg hat erst begonnen, und angesichts der ökonomischen, ökologischen und kulturellen Implikationen wird er mörderisch sein. Die Migrationsströme des Massentourismus werden nicht verhindern, dass weiterhin Reisende reisen, die sich ihrem eigenen Rhythmus überlassen, voll Neugier, voll Lust auf das Andere und voll Hunger nach sich selbst. „Leben, was ist das anderes, als ewig von sich fortzugehen und zurückzukehren?“, fragt Stanislas Breton. Sein Essay trägt den Titel „Das Andere und das Anderswo“5 und verweist damit auf die erste Dimension des Reisens, dessen zweite Dimension man auch mit dem Satz kennzeichnen könnte: Das Andere ist das Anderswo. Gute Reise!

dt. Eveline Passet

* Philosoph, Professor am Institut d’Urbanisme de Paris und Herausgeber der Zeitschrift „Urbanisme“.

Fußnoten: 1 Aus „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, Leipzig 1908. Zuletzt: Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1991 (in Gesamtausgabe, Bd. 11). 2 Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, XII. Jahrgang, 8. Heft, August 1958. 3 Jean Chesneaux, „L’Art du voyage“, Paris (Bayard) 1999; Marc Augé, „L’Impossible voyage. Le tourisme et ses images“, Paris (Rivage) 1997. 4 Françoise Choay, „Das architektonische Erbe: eine Allegorie. Geschichte und Theorie der Baudenkmale“, Braunschweig (Birkhäuser) 1997. 5 Stanislas Breton, „L’autre et l’ailleurs“, Paris (Descartes & Cie) 1995.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2001, von THIERRY PAQUOT