Der unaufhaltsame Niedergang Argentiniens
Von JORGE BEINSTEIN *
AM 17. Juni wurden in der Provinz Salta, nahe der bolivianischen Grenze, zwei Argentinier bei Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet. Die Sicherheitskräfte hatten versucht, eine Hauptverkehrsstraße zu räumen, die durch Demonstranten blockiert war. Der Protestmarsch richtete sich gegen die äußerst kritische soziale Lage in dem abgelegenen Landesteil. Nach Angaben der Tageszeitung La Nación leben in der Region 56 Prozent der Bevölkerung in Armut, 17 Prozent können sich kaum eine tägliche Mahlzeit verschaffen.
Die wirtschaftliche Misere und die Verarmung breiter Schichten der Gesellschaft veranlassen die Bevölkerung immer häufiger zu öffentlichen Protesten, die Isolierung der politischen Führung, die ihr Pulver schon früh verschossen hat, nimmt zu. Erst vor knapp zwei Jahren ist der amtierende Präsident Fernando de la Rúa an der Spitze einer Mehrparteienkoalition an die Macht gekommen – mit dem Versprechen, die Korruption zu beseitigen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Doch schon nach kurzer Zeit sahen sich seine Wähler getäuscht: Nichts wurde besser, und heute ist alles schlimmer denn je. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt traf der Präsident ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und trat damit in die Fußstapfen seines ultraliberalen Vorgängers Carlos Menem.
Seine im Wahlkampf geäußerte Kritik an der Korruption blieb oberflächlich; sie zielte lediglich auf einzelne Vertreter des ultraliberalen peronistischen Regimes von Menem, das zehn Jahre lang an der Macht gewesen war. Die institutionelle Korruption in Argentinien ist jedoch nicht zu verstehen, wenn man ihre wirtschaftliche Grundlage außer Acht lässt: die Vorherrschaft überwiegend ausländischer Großkonzerne. Deren horrende Gewinne verdanken sich einer fortgesetzten Ausplünderungspolitik, die nur in der Komplizenschaft mit dem Staat möglich ist. Der „Menemismus“ war nicht so außergewöhnlich oder anomal, wie einige behaupteten. Es handelte sich dabei lediglich um eine überspitzte peronistische Ausprägung des gängigen Wirtschaftsmusters. Charakteristisch war die Herausbildung korrupter, miteinander verflochtener Cliquen in Politik, Wirtschaft, Gerichtswesen, Polizei etc., die sich um einige wenige Machtzentren gruppierten – alles in allem eine ausgedehnte Kleptokratie, eine räuberische Oligarchie mit Regierungsgewalt.
Was wir heute erleben, ist offensichtlich das brisante Zusammentreffen einer globalen Krise (verstärkt durch die schwache Konjunktur und mögliche Rezession der US-amerikanischen Wirtschaft) mit dem Phänomen eines nationalen Niedergangs, eines umfassenden Auflösungsprozesses, der unumkehrbar scheint und einen allgemeinen Verfall wirtschaftlicher Strukturen sowie politischer und kultureller Identitäten und Institutionen mit sich bringt. Diese Situation fügt sich ein in das negative Gesamtbild Lateinamerikas. In den Neunzigerjahren hing die Region der Illusion einer Versöhnung von „unterentwickeltem Kapitalismus“ (mit einem „schlanken Staat“ und dem Abbau von Arbeitsrechten und Sozialversicherung) und parlamentarischer „Demokratie“ nach westlichem Vorbild an.
Ganz auf die Entstehung neuer wirtschaftlicher Eliten orientiert, kümmerte man sich in diesen Gesellschaften nicht weiter darum, dass zunehmend Teile der Bevölkerung marginalisiert oder ganz in die Armut abgedrängt wurden. Mit dem seit den Achtzigerjahren und teils schon früher einsetzenden Niedergang bestimmter produktiver Sektoren wandten sich die örtlichen Bourgeoisien verstärkt parasitären, illegalen oder halblegalen Geschäften zu, die vom Drogenhandel bis zur Ausplünderung der Staatskassen reichten.
Von 1985 bis zur mexikanischen Finanzkrise 1994 erlebte fast ganz Lateinamerika eine schwere Rezession. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Subkontinents fiel um durchschnittlich 1,5 Prozent, mit Spitzenwerten in Argentinien (– 6,2 Prozent) und Mexiko (– 8,2 Prozent).1 Danach hielt sich das Wachstum mit knapper Not über dem Niveau der ständig wachsenden Auslandsschulden und Steuerdefizite. Der Schuldenberg stieg von 450 Milliarden Dollar im Jahre 1991 auf 750 Milliarden Dollar 1999 – in diesem Jahr fiel auch das regionale BIP pro Einwohner negativ aus (– 1,6 Prozent), mit Minusrekorden von mehr als 6 Prozent in Ecuador und Venezuela und mehr als 3 Prozent in Argentinien und Kolumbien. Im Jahr 2000 verschlechterte sich die Situation erneut, und alles deutet darauf hin, dass es im Jahr 2001 noch schlimmer kommen könnte. Dies führte dazu, dass die neoliberalen Demokratien an Handlungsspielraum verloren und sich in einigen Fällen in groteske Karikaturen, in mehr schlecht als recht bemäntelte Diktaturen wie in Ecuador oder in Selbstbedienungsläden für mafiose Cliquen wie in Bolivien, Peru, Argentinien, Nicaragua oder El Salvador verwandelten.
Die gegenwärtige argentinische Krise erscheint als das konsequente Endergebnis einer langen, über ein Jahrhundert währenden und sich akkumulierenden Reihe von Fehlschlägen: vom auf Agrarexporte orientierten elitistischen Modell, das in den Dreißigerjahren scheiterte, über das auf Industrialisierung setzende, aber unterentwickelte System peronistischer Prägung (zwischen 1945 und 1955) bis zu den darauf folgenden konservativen Versuchen, denen es mit ihren mehr oder weniger autoritären und blutigen oder „demokratischen“ Methoden nicht gelang, die Gesellschaft zu stabilisieren. In den Neunzigerjahren führten zwei eng miteinander verbundene und sich überlagernde Entwicklungen zum Scheitern. Auf der einen Seite der alte, im Niedergang befindliche und von Vetternwirtschaft geprägte nationale Kapitalismus mit seiner zur „Lumpenbourgeoisie“ verkommenen Elite. Auf der anderen Seite der im Zeichen der Finanzspekulation stehende globale Kapitalismus.
Einen für die argentinische Entwicklung wesentlichen Faktor bildete die Zunahme sowohl der staatlichen als auch der privatwirtschaftlichen Auslandsverschuldung. Vom Ende der Achtziger- bis zum Beginn der Neunzigerjahre war die Staatsverschuldung relativ stabil geblieben. Die umfassende Privatisierung der Staatsbetriebe sorgte für einen enormen Kapitalfluss und gaukelte eine Stabilisierung der Verschuldung vor. Doch von 1993 an begann die Staatsverschuldung erneut anzuwachsen, Ende 1998 betrug sie 110 Milliarden Dollar. Hatte sich die Verschuldung der öffentlichen Hand zwischen 1992 und 1998 lediglich verdoppelt, so gab es in der Privatwirtschaft eine Verzehnfachung der Schuldenlast, von 3,5 auf 35 Milliarden Dollar (nach offizieller Schätzung). Ende 2000 überstieg die Gesamtverschuldung des Landes die Schwelle von 200 Millionen Dollar. Dies entspricht 70 Prozent des offiziellen Bruttoinlandsprodukts. Der Schuldendienst, dem Argentinien nachzukommen versucht, zieht weitere Kreditaufnahmen nach sich und wird das Land in den finanziellen Zusammenbruch treiben.
Eigentlich hätte diese Konstellation – die lokale Kapitalknappheit einerseits und der Überfluss globalen Kapitals, das für die aufstrebenden Märkte bereitstand, andererseits – Regierungen und Unternehmer dazu ermutigen sollen, Kredite aufzunehmen. Dies steht jedoch in offenem Widerspruch zu der Tatsache, dass die argentinische Elite mehr als 120 Milliarden Dollar im Ausland „geparkt“ hat. In der Vergangenheit wurde behauptet, der Grund für diese Kapitalflucht sei der staatliche Dirigismus, der die Reinvestition dieses Kapitals behindere. Doch obwohl man sich kaum ein System vorstellen kann, das liberalistischer wäre als die heutige argentinische Wirtschaft, nimmt die Kapitalflucht zu.
Ein wesentlicher Grund für die Verschuldung ist das hohe Außenhandelsdefizit seit Anfang der Neunziger. Die Politik der Öffnung für Importe und die zunehmende Überbewertung der argentinischen Währung (aufgrund der festgeschriebenen Parität von Peso und Dollar) brachten zahlreiche einheimische Industriezweige in Bedrängnis, führten damit zu mehr Arbeitslosigkeit, sorgten aber auch für ein Warenangebot, das die Inflation niedrig hielt. Dies schuf zusammen mit der Konzentration in Industrie, Handel und Finanzwirtschaft schließlich ein stark importorientiertes Modell, das von einigen wenigen internationalen Konzernen beherrscht wird und in dem sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet. Die Konsequenz waren noch mehr Auslandsschulden und immer massivere Liberalisierungsmaßnahmen, von denen man sich eine Verringerung des Handelsdefizits und eine Verlangsamung des Schuldenwachstums versprach.
Als eine weitere Ursache für die heutige Verschuldung muss man das Steuerdefizit nennen, das nach Ansicht des Neoliberalismus der schlechten Rentabilität staatlicher Unternehmen anzulasten war. Doch auch nach deren Privatisierung liefen Verluste auf, die zur Aufnahme neuer Schulden zwangen. Dagegen ist die Steuerflucht ausländischer Unternehmen ein wesentlicher Grund für das Defizit; hinzu kommen die verringerte Steuerlast für hohe Einkommen und die umfangreichen Übertragungen öffentlicher Mittel an große Wirtschaftsunternehmen insbesondere des Finanzsektors. Gute Beispiele dafür waren im Übrigen die Privatisierung der Sozialversicherung und die Minderung des Arbeitgeberanteils, die den Staat jährlich um Einnahmen in Höhe von 8 Milliarden Dollar brachte, eine Zahl, die nahezu dem Haushaltsdefizit entspricht.
Von einer Katastrophe zur anderen
DER Staat, den die neoliberale Strategie von bürokratischem Ballast befreien wollte, verringerte sein wirtschaftliches Gewicht und Engagement, lieferte sich damit aber den Manipulationen der großen Finanzkonzerne aus. Die Privatisierungen waren in Wirklichkeit „Entnationalisierungen“. Das hatte veränderte wirtschaftliche Bedingungen zur Folge, die man „kolonial“ nennen könnte.2
Der zweifache – externe (Schuldendienst) und „interne“ (die Gewinne ausländischer Konzerne) – Aderlass brachte in wenigen Jahren die ohnehin stark angeschlagene Wirtschaft an den Rand des Ruins. Von 1997 bis Juli 2000 stieg die Arbeitslosenrate von 13,8 auf 15,4 Prozent. Im vergangenen Jahr lebten im Großraum Buenos Aires mehr als 3,5 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. Viele Porteños halten sich mit zwei oder drei Jobs über Wasser.
Die Rezession war unvermeidlich. Es handelt sich dabei jedoch nicht um ein konjunkturelles Phänomen, das vorübergehende handels- oder finanzpolitische Ursachen hätte, sondern ist strukturelle Wirklichkeit eines Kapitalismus, der zu einem System räuberischer Bereicherung verkommen war.
Im Dezember 2000 konkretisierte sich die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit, und die Regierung musste einer vom Weltwährungsfonds initiierten finanziellen Rettungsaktion zustimmen. Die Finanzspritze in Höhe von 44,3 Milliarden Euro wurde gegenüber der Öffentlichkeit als „Panzerung“ dargestellt, hinter der Argentiniens Wirtschaft wieder in Gang kommen sollte. Diese Illusion währte allerdings nur zwei Monate, dann zeigte sich erneut das Schreckgespenst des Staatsbankrotts. Der Wirtschaftsminister musste zurücktreten, er wurde durch ein ultraliberales Expertenteam ersetzt, dessen Rezept drastische Konsolidierungsmaßnahmen waren, ausgehend von einer brutalen Beschneidung der öffentlichen Ausgaben (insbesondere im Bildungsbereich). Das Experiment konnte allerdings nicht durchgeführt werden, es scheiterte am erbitterten Widerstand der Bevölkerung (Streiks, Straßenblockaden, Universitätsbesetzungen).
Daraufhin ernannte Präsident de la Rúa, der inzwischen auf dem Tiefpunkt seiner Popularität angelangt und nahezu völlig isoliert war, Domingo Cavallo zum Wirtschaftsminister, der diesen Posten bereits unter Menem die meiste Zeit innegehabt hatte. Der neue/alte Minister erhöhte zunächst die Steuern (was die Rezession verstärkte) und widmete sich dann der Refinanzierung eines Großteils der Staatsverschuldung, was ihm Anfang Juni dieses Jahres auch gelang. 34 Milliarden Euro kurz- und mittelfristiger Kredite wurden in langfristige Kredite umgeschuldet. Nun beschäftigt sich die Justiz mit dieser Operation: Es gibt Hinweise, dass die Finanzunternehmen, die federführend an der Umschuldung beteiligt waren, exorbitante „Kommissionen“ erhalten haben.
Unter dem Eindruck der schwierigen Wirtschaftslage in Brasilien, das Argentiniens größter Handelspartner ist, und eines sich weltweit abkühlenden Wirtschaftswachstums sah sich die Regierung schließlich am 15. Juni dieses Jahres zur Teilabwertung des Pesos gezwungen. Ein Jahrzehnt lang war an der Dollarparität festgehalten worden, was zu einer unerträglichen Überbewertung des Peso und zu erheblichen Exporteinbußen geführt hatte. Der neu geschaffene „Außenhandelspeso“ wird gegenüber dem „normalen Peso“, der nach wie vor eins zu eins zum Dollar getauscht wird, um 8 Prozent abgewertet.3
Dies stellt einen weiteren Unsicherheitsfaktor in der ohnehin schwierigen wirtschaftlichen Situation des Landes dar, gleichzeitig bedeutet es das Ende eines der zentralen Mythen des argentinischen Neoliberalismus der Neunzigerjahre: der unerschütterlichen Stabilität des Wechselkurses – der Stolz von Expräsident Menem –, die zu bewahren auch Präsident de la Rúa geschworen hatte. Diese währungspolitische Illusion ließ viele Argentinier glauben, ihr Geld habe sich wunderbarerweise in Dollars verwandelt. Sie übersahen dabei allerdings, dass die Überbewertung des Peso den ausländischen Unternehmen die Möglichkeit gab, Argentinien die Geldmittel zu entziehen, während sich das Land mehr und mehr verschuldete.
aus dem Span. von Christian Hansen
* Außerordentlicher Professor an der Universität von Buenos Aires.