13.07.2001

Der letzte Tango in Buenos Aires

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Der letzte Tango in Buenos Aires

Von LUIS BILBAO *

Mit unsicherem Schritt und dem Gesichtsausdruck eines gejagten Tiers verließ der ehemalige argentinische Präsident Carlos Menem am 7. Juni das Büro des Richters, der ihm soeben einen Haftbefehl ausgestellt hatte. Menem wird beschuldigt, während seiner Amtszeit eine kriminelle Vereinigung angeführt zu haben, die zwischen 1991 und 1995 Waffen im Wert von 100 Millionen Dollar illegal nach Kroatien und Ecuador verkauft haben soll. Die Waffengeschäfte mit Kroatien verstießen eindeutig gegen das Embargo, das von den Vereinten Nationen über das frühere Jugoslawien verhängt worden war. Was Ecuador anbelangt, handelt es sich um eine Missachtung des Protokolls von Rio, in dem Argentinien die Rolle einer Garantiemacht im Konflikt zwischen Peru und Ecuador zukommt.

Das Bild des verhafteten Expräsidenten symbolisiert das Ende einer Epoche argentinischer Politik. Eine Alternative scheint allerdings nicht in Sicht: Die augenblickliche Situation ist von Verwirrung und Zerfall geprägt, und das gesamte Parteienspektrum wirkt wie gelähmt. Es ist, als habe die tiefe wirtschaftliche Depression in Argentinien ihre Spuren bei Regierung und Opposition hinterlassen und deren Reflexe außer Kraft gesetzt.

Überschwenglich feierte das Land die Verhaftung von Carlos Menem. Sogar in den Straßen von Buenos Aires, seit langem Hauptstadt von Verdruss und Traurigkeit, war ein kurzes Aufflackern von Freude zu bemerken. Autofahrer veranstalteten Hupkonzerte, Menschen aus allen sozialen Schichten gaben spontan ihrer Begeisterung Ausdruck – die Parole „Alle ins Gefängnis!“ schien nun tatsächlich realistisch. Lediglich 400 Personen versammelten sich zu Menems Unterstützung vor dem Gerichtsgebäude. Ihnen fehlte offenbar der nötige Eifer, denn sie mussten von einer Gruppe, für deren Mitglieder die argentinische Alltagssprache ein eigenes Wort geprägt hat – punteros1 –, zum Trommeln und zu Sprechchören animiert werden.

Letztlich konnte die Nachricht über die Verhaftung Menems den Optimismus nicht nachhaltig stärken. Sie führte zu einem flüchtigen Aufflackern von Hoffnung und ließ erkennen, dass sich unter der düsteren Oberfläche des Alltags noch Leben regt. Bald aber gewann die deprimierende Realität wieder die Oberhand. Erst kürzlich wurde eine Tochter von Hebe de Bonafini, der Vorsitzenden der Mütter der Plaza de Mayo, entführt und gefoltert – von einer der wieder erstehenden illegalen Polizeischwadronen. Die katholische Kirche startete eine anachronistische Kampagne zur Wiedereinführung der religiösen Erziehung in den Schulen. Sämtliche Wirtschaftsbereiche sind von Massenentlassungen betroffen. Darüber hinaus stehen Lohnkürzungen an, vor allem bei jenen, die sich ohnehin immer härteren Anforderungen beugen, um ihre Anstellung nicht zu verlieren.

Die Tatsache, dass ein Mann wie Menem heute völlig isoliert dasteht, hat etwas Neues und auch Erschütterndes: Immerhin verfügte er als Präsident zehn Jahre lang über nahezu unangreifbare Macht; er wusste sowohl die Wähler hinter sich als auch die einflussreichsten Wirtschaftslobbys aus Argentinien und dem Ausland. Heute bezeichnet die größte und älteste Tageszeitung des Landes, La Nación, diesen Mann gnadenlos als einen „Al Capone mit Präsidentenschärpe und Zepter in der Hand“2 . Die wichtigsten Figuren des Partido Justicialista (der peronistischen Partei), deren Vorsitzender Menem formal immer noch ist, haben sich demonstrativ von ihm abgewandt, ebenso die Spitzenfunktionäre der Gewerkschaften. Viel sagend war auch eine Äußerung von Peter Romero, dem Staatssekretär für Lateinamerika im US-amerikanischen State Department; zwei Tage bevor der Haftbefehl ausgestellt wurde, erklärte Romero: „Ich denke nicht, dass [die Verhaftung von Menem] die argentinische Demokratie gefährden kann.“3

In der Tat gab es keinerlei Anzeichen der Instabilität, obwohl die derzeitigen Ereignisse unabhängig vom juristischen Ausgang der Dinge ein politisches Erdbeben bedeuten. Einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind bereits vor dem Expräsidenten ins Gefängnis gewandert: der ehemalige Chef der Streitkräfte, General Martín Balza, der ehemalige Verteidigungsminister Erman González sowie Emir Yoma, der Schwager und Strohmann von Menem. Zwei weiteren Ministern, Außenminister Guido di Tella und Verteidigungsminister Oscar Camilión, wird aus demselben Anlass der Prozess gemacht. Und der Staatsanwalt hat eine lange Liste weiterer bekannter Namen im Aktenschrank bereitliegen.

Ein Dutzend höchst dubioser Selbstmorde und tödlicher Unfälle zu verdächtig günstigen Zeitpunkten4 vervollständigen das Bild – unter anderem wurde der Tod von Menems Sohn „Carlitos“ bei einem Hubschrauberunglück nie aufgeklärt. Solche Ereignisse lassen unter anderem darauf schließen, dass die mutmaßlich begangenen Straftaten erheblich größeren Umfang haben, als man bislang angenommen hat, und auch Drogenhandel einschließen.

Unter neuer Führung auf altem Schlingerkurs

DIE Gewissheit, straflos davonzukommen, ist mit der Verhaftung Menems jedenfalls dahin, und Panik macht sich breit. „Hinter verschlossenen Türen wird eine gewagte These formuliert: Es heißt, bei den Ereignissen in Argentinien handle es sich um eine Art Staatsstreich. [. . .] Einen Staatsstreich? Ja, eine Art mani pulite lateinamerikanischer Prägung.“5

Die Gleichsetzung des italienischen mani pulite mit einem Staatsstreich ist an sich schon vielsagend. Im Fall Argentiniens aber gibt es tatsächlich ein Argument, das dafür spricht: Es waren weder die politischen Parteien noch gar die Öffentlichkeit, die diese Verhaftungen in die Wege geleitet hatten. Auch nimmt niemand ernsthaft an, es handle sich um einen Alleingang von Richter Jorge Urso, der selbst Peronist ist und einst von Carlos Menem persönlich ins Amt berufen wurde – überdies werden auch dem Richter illegale Bereicherung und Amtsmissbrauch vorgeworfen.

Auch Wirtschaftsminister Domingo Cavallo dürfte wenig Interesse gehabt haben, diese Zeitbombe zu zünden – er gehört zu den Ministern, die damals jene Dekrete für den Waffenexport unterzeichneten, die sich später als gefälscht herausstellten. Schwer vorstellbar auch, dass die wichtigsten Spitzenfunktionäre der peronistischen Partei sich freiwillig unter ein solches Damoklesschwert begeben hätten, auch wenn sie Menem aus wahltaktischen Gründen gerne loswerden wollten. Und betrachtet man die Amtsführung des derzeitigen Präsidenten Fernando de la Rúa, so kann man wohl kaum annehmen, dass er freiwillig diese äußerst destruktiven Turbulenzen ausgelöst hätte.

Die Verhaftungswelle ist beschränkt auf den Kreis um den Expräsidenten. Sie könnte der aktuellen Regierung durchaus enormen Nutzen bringen, wäre nicht für sie selbst das Risiko so groß. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass die ganze Aktion aus dem tiefen Widerwillen der Zivilgesellschaft gegen die korrupten Politiker politisches Kapitel schlagen will.

Unter kontrollierten Bedingungen würde ein mani pulite nicht nur wie eine Energiespritze für die Wirtschaft wirken, ein solches Vorgehen könnte das Land wieder regierbar und die verschärfte soziale Krise kontrollierbar machen. Dies wiederum würde längst überfällige Entscheidungen auf dem internationalen Parkett ermöglichen. Zum Beispiel steht zur Debatte, ob Argentinien sein strategisches Bündnis mit Brasilien aufgeben und gemäß dem Wunsch der Vereinigten Staaten künftig auf die gesamtamerikanische Freihandelszone FTAA setzen soll – zum Nachteil des südamerikanischen gemeinsamen Marktes Mercosur.6

Doch wird sich all dies nicht verwirklichen lassen, solange die zentrifugalen Kräfte nicht gebändigt sind, die den (Selbst-)Auflösungsprozess von Parteien und Regierungskreisen derzeit beschleunigen. Vordringlich ist es jetzt, die Spaltung der argentinischen Eliten zu überwinden, um zu verhindern, dass die Krise in den vollständigen politischen Kollaps führt.

Ohne Rücksicht auf die Formen traf Präsident Fernando De la Rúa just zu dem Zeitpunkt, als Menem verhaftet wurde, mit seinem peronistischen Rivalen aus den Wahlen von 1999, Eduardo Duhalde, zusammen. Er schlug dem neuen Vorsitzenden der peronistischen Partei einen heimlichen Deal vor: die Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“, um der dreifachen Bedrohung durch die ökonomische Rezession, die extreme Schwächung der Zentralregierung und den angesichts der als sicher geltenden Wahlniederlage der Regierungspartei bei den Wahlen am kommenden 14. Oktober bevorstehenden Kollaps gemeinsam zu begegnen. Der eigentliche Architekt dieses Bündnisses ist kein anderer als Wirtschaftsminister Domingo Cavallo, derselbe Mann, der dem Land während Carlos Menems Amtszeit vor nunmehr zehn Jahren die Illusion von Stabilität und Wachstum bescherte.

Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Bemühen um „nationale Einheit“ von Erfolg gekrönt sein wird. Doch vor allem ist unklar, welche Signalwirkung es haben könnte. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben die große Mehrheit im Land in einen extremen Pessimismus und Individualismus getrieben. Der Schatten von Franz Biberkopf, jenes Prototyps des von der sozialen Krise zerstörten Mannes aus Döblins „Berlin Alexanderplatz“, geistert durch die Straßen von Buenos Aires.

Die jüngste Geschichte Argentiniens war von einem raschen Wechsel der Ereignisse geprägt. Nach der Militärdiktatur wandte sich die Bevölkerung vom Peronismus ab, den sie 1973 an die Macht gebracht hatte, und setzte ihre Hoffnungen auf die Unión Cívica Radical (UCR). So wurde im Jahr 1983 Raúl Alfonsín Präsident. Nach einem kurzen Frühling erwies sich das Erbe der Diktatur als zu gewichtig, und die Unfähigkeit der Regierungspartei wurde offensichtlich. Die einsetzende Hyperinflation fraß nicht nur die eher mageren Einkünfte der Lohnabhängigen und der Mittelschicht auf, sie machte auch jegliche Hoffnung auf eine bessere Zukunft zunichte. Nur vor dem Hintergrund dieser allseitigen Enttäuschung wird verständlich, wie eine Politikerriege die Wahlen gewinnen konnte, die von einer Operettenfigur wie Carlos Menem angeführt wurde. Nach zwei weiteren Hyperinflationsschüben, die sowohl die Wirtschaft des Landes als auch die Moral der Massen restlos zerstörten, kam der so genannte Superminister Cavallo ins Amt und brachte mit seiner Schocktherapie Stabilität. Doch vier Jahre später sorgten die wirtschaftliche Rezession und die immer hemmungsloser werdende Korruption für ein böses Erwachen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde eine winzige Linkskoalition namens Frente del Sur unter Führung des peronistischen Aktivisten und Filmemachers Fernando Solanas als die ersehnte Alternative zum traditionellen Zweiparteiensystem entdeckt. Die Ereignisse überschlugen sich, die Frente del Sur fusionierte mit peronistischen Abspaltungen, und so entstand die Frente Grande. Solanas kehrte wieder zum Film zurück, und sein Posten wurde von Carlos Álvarez und Graciela Fernández Meijide besetzt – Letztere ist die Mutter eines während der Diktatur verschwundenen Jugendlichen. Die Frente Grande fusionierte mit einer weiteren Fraktion der peronistischen Partei und wurde zur Frente País Solidario (Front für ein solidarisches Land – Frepaso), die mit ihrem Kandidaten José Bordón 1995 beinahe die Präsidentschaftswahlen gewonnen hätte.

Doch Bordón verließ das Bündnis und kehrte in die peronistische Partei zurück. Álvarez nahm die Zügel wieder in die Hand, und Fernández Meijide entwickelte sich zu einer Symbolfigur der Antikorruptionsbewegung. Knapp zwei Jahre später vollzog die Frepaso eine für ihre Mitglieder schwer nachvollziehbare Wende und verbündete sich mit der UCR. So kam es bei den Wahlen von 1999 zu einer gemeinsamen Kandidatur von Fernando de la Rúa, der dem rechten Flügel der UCR zuzurechnen ist, und Carlos Álvarez als Vizepräsident.

Vor die Wahl zwischen zwei Übeln gestellt, entschied die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sich für das geringere und stimmte gegen Duhalde und Cavallo, beides sattsam bekannte Namen. Unterdessen hatte sich das Bündnis zu dem wirtschaftspolitischen Kurs bekannt, den auch die Vorgängerregierung praktizierte. Am Tag nach der Amtsübernahme wurden die entsprechende Maßnahmen eingeleitet: Steuererhöhungen für die Mittelschicht, Lohnkürzungen, Ausweitung der Verschuldung.

Für eine weitere Überraschung in dieser Entwicklung sorgte Carlos Álvarez Mitte 2000, als er sich für eine Rückkehr von Cavallo in die Regierungsgeschäfte stark machte und kurz darauf als Vizepräsident zurücktrat, um wenige Monate später auch seine Tätigkeit in der Frepaso aufzukündigen. Fernández Meijide verzichtete nach einer Reihe von Korruptionsskandalen und politischen Fehlern auf das Sozialministerium und verschwand daraufhin in der Versenkung.

Auch weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen konnten die Rezession nicht wirklich bremsen. Dies hatte zur Folge, dass im Verlauf des Jahres 2001 innerhalb von vierzehn Tagen zwei Wirtschaftsminister zurücktraten. Krönender Abschluss: Der Mann, der bei den letzten Wahlen nur zehn Prozent der Wählerstimmen erhalten hatte, kehrte – versehen mit sehr weit gehenden Befugnissen – auf den Posten des Wirtschaftsministers zurück: Domingo Cavallo.

Im Verlauf dieses wahnsinnigen Wettlaufs um die Macht spaltete sich die Gewerkschaftsbewegung: Die Central General de los Trabajadores (CGT), die Menem die Treue hielt, unterstützt jetzt Cavallo. Eine Abspaltung, die sich CGT disidente nennt, schwenkt die Fahnen der Opposition, gemeinsam mit Eduardo Duhalde und Carlos Ruckauf, dem Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Letzterer ist für seine fremdenfeindlichen Äußerungen bekannt und verkündet als Allheilmittel gegen die Kriminalität, die in seinem Distrikt deutlich zunimmt, man müsse allen Verbrechern „eine Kugel in den Kopf schießen“. Schließlich gibt es noch einen kleinen Gewerkschaftsdachverband, der sich aus Beamten (Lehrern) und staatlichen Angestellten rekrutiert, die Central de Trabajadores Argentinos (CTA), die gemeinsam mit der CGT disidente einen Streik nach dem anderen gegen die Regierung organisiert, obwohl sie der regierenden Allianz zugehört.

Als in dieser Situation die spanischen Besitzer der Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas den Konkurs erklärten, wurde das Unternehmen plötzlich zum nationalen Symbol – mit enormen Auswirkungen auf das Gemeinschaftsgefühl. Mit einem Mal beschuldigen die Bürgerinnen und Bürger „die Globalisierung“ und „den Neoliberalismus“, das nationale Desaster verursacht zu haben, wobei eine gewisse Neigung zum Chauvinismus nicht zu übersehen ist. Der jüngste Trend hat Menem auf die Anklagebank gebracht, aber gleichzeitig gilt nun dessen ehemaliger Wirtschaftsminister als letzter Rettungsanker für das politische System.

aus dem Span. von Miriam Lang

* Journalist, Buenos Aires.

Fußnoten: 1 Bezahlter Parteiagitator, der in Wahlkampfzeiten oder anderen heißen Phasen der Politik für den Kontakt und die Kommunikation mit der Bevölkerung zuständig ist. 2 Bartolomé de Vedia: „El espejo Menem“, La Nación, Buenos Aires, 10. Juni 2001. 3 María O’Donnell: „Si Menem va preso la democracia no se verá afectada“, La Nación, Buenos Aires, 6. Juni 2001. 4 Die Explosion einer Waffenfabrik in Río Tercero (Provinz Córdoba) am 3. November 1995, die sieben Tote und 300 Verletzte forderte, wurde von Staatsanwalt Carlos Stronelli mit der Waffenschmuggelaffäre in Verbindung gebracht: Mit diesem Anschlag seien Beweismittel für den illegalen Waffenexport vernichtet worden. 5 Bartolomé de Vedia, a. a. O. 6 Vgl. Dorval Brunelle, „Von Alaska bis Feuerland“, Le Monde diplomatique, April 2001, sowie Emir Sader, „Que les peuples se prononcent“, Le Monde diplomatique, April 2001.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2001, von LUIS BILBAO