13.07.2001

Patienten, Patente und Profite

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Patienten, Patente und Profite

Von PHILIPPE RIVIÈRE

Der „Krieg gegen Aids“ begann in Südafrika. Auf der Aids-Weltkonferenz im Juni 2000 in Durban verurteilten afrikanische Kranke die „Apartheid im Gesundheitssystem“ – der Großteil der Medikamente ist im Norden, der Großteil der Kranken im Süden konzentriert – und forderten mit Nachdruck, dass jeder Mensch freien Zugang zu medikamentöser antiretroviraler Behandlung haben müsse. Am 19. April 2001 erkannten endlich auch die 39 Pharmafirmen, die Klage gegen den südafrikanischen Staat erhoben hatten, welchen Imageschaden sie durch die dogmatische Verteidigung ihrer Patentrechte erlitten hatten, und verzichteten auf alle rechtlichen Schritte. Bis dahin hatten diese Firmen versucht, gerichtlich gegen die neu beschlossenen Gesetze Südafrikas vorzugehen, die eine medikamentöse Versorgung zu einem annehmbaren Preis gewährleisten sollten. Diese Gesetze widersprachen nach Meinung der Industrie den Abkommen über den Handel mit geistigen Eigentumsrechten (Trips), die im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) abgeschlossen wurden.

Dennoch bleibt nach der ersten gewonnenen Schlacht ein bitterer Nachgeschmack: Die südafrikanische Regierung erklärt sich außer Stande, ein umfassendes Programm zur medizinischen Versorgung der Aidskranken zu initiieren. „Die antiretroviralen Medikamente sind nach wie vor zu teuer“, erklärt Jo-Anne Collinge, eine Sprecherin des südafrikanischen Gesundheitsministeriums.1 Doch Dr. Bernard Pécoul von der Organisation Ärzte ohne Grenzen übt scharfe Kritik an dieser Haltung: „In den Elendsquartieren am Kap – in denen drei Millionen Menschen leben – hat die von mehreren Organisationen aufgebaute ambulante Klinik in den letzten achtzehn Monaten ein Programm zur Vorbeugung vorgeschlagen, und zwar in Verbindung mit Tests zur Erfassung Infizierter, die dann bei entsprechenden Erfolgschancen auch behandelt werden. Seit Mai dieses Jahres treten wir, im frontalen Gegensatz zur Regierung, für den Einsatz antiretroviraler Medikamente ein.“

Die vom französischen Gesundheitsminister Bernard Kouchner als „schmerzliche Opfer“2 bezeichneten Preissenkungen und Gratisabgaben der Pharmafirmen erweisen sich aber als unzureichend. Zur Finanzierung der Behandlung ist eine internationale Mobilisierung in ganz anderen Dimensionen nötig, die sich nun unter der Ägide des UN-Generalsekretärs abzeichnet. Nachdem Kofi Annan nicht weniger als vier Sitzungen des UN-Sicherheitsrats der Aidsepidemie gewidmet hat, bemüht er sich nun persönlich, einen Weltfonds zum Kampf gegen Aids, Tuberkulose und andere ansteckende Krankheiten ins Leben zu rufen.

Kofi Annan folgt mit seinem Vorstoß3 einer Empfehlung, die eine Forschergruppe von internationalen Experten ausgesprochen hat. Diese Gruppe bildete sich an der Harvard University im Umkreis von Jeffrey Sachs. Die Experten schlugen am 4. April 2001, nachdem sie das medizinische und moralische Versagen der internationalen Organisationen in Sachen Aids festgestellt hatten, eine „Konsensformel für die antiretrovirale Behandlung von Aids in armen Ländern“ vor, was in der internationalen Presse große Resonanz gefunden hat.4

Das Harvard-Dokument beginnt mit einem Plädoyer für die Kombinationstherapien. Trotz deren „dramatischer Erfolge“ in wohlhabenden Ländern „gibt es in den ärmsten Ländern der Welt im Wesentlichen keinen Zugang zu einer solchen antiretroviralen Behandlung. Vielmehr konzentrieren sich die Maßnahmen hier fast ausschließlich auf die Vorbeugung. Angesichts der sprunghaft ansteigenden Sterblichkeitsrate von HIV-Positiven bzw. Aidskranken in den armen Ländern müssen die Verhinderung der Übertragung des Virus wie auch die Behandlung der bereits Infizierten zu einer weltweiten, gesundheitspolitisch vorrangigen Aufgabe werden.“

Das Papier entkräftet denn auch die „Einwände der Vergangenheit“. Der erste Einwand lautete: „Den armen Ländern fehlt die medizinische Infrastruktur, um Aidsbehandlungen sicher und wirkungsvoll durchzuführen.“ Die Antwort: Ein Teil der Hilfsgelder wird in die bessere Ausstattung des Gesundheitswesens gesteckt. Für Dr. Pécoul zeigt die Erfahrung in den Elendsquartieren von Kapstadt, dass „auch mit bescheidenen Mitteln – nicht zu vergleichen mit den bloßen Prestigeprojekten, die UNAIDS als Pilotprogramme vorschlägt – eine qualitativ hochwertige Behandlung möglich ist.“

Ein zweiter Einwand lautet: „Mangelnde Disziplin bei der Anwendung komplizierter medikamentöser Kuren fördert und verbreitet die Immunität gegen solche Medikamente.“ Andrew Natsios, ein leitender Mitarbeiter von USAID, der wichtigsten US-amerikanischen Organisation für internationale Entwicklung, geht sogar noch weiter. Er erklärt, dass „viele Afrikaner in ihrem ganzen Leben noch keine Uhr gesehen haben“, weshalb es ausgeschlossen sei, dass sie Medikamente zu festgelegten Zeiten einnehmen könnten!5 Nach derselben Logik könnte man auch die Analphabeten des Nordens von der Behandlung ausschließen. Doch vor allem übersieht dieses Argument die Tatsache, dass die medikamentöse Behandlung nach einem genauen Zeitraster nur für einen winzigen Teil der Kranken notwendig ist – und zwar für diejenigen, bei denen die Therapien der ersten Behandlungsstufe nicht oder nicht mehr wirksam sind.

Der dritte Einwand: Die Finanzierung der Behandlung würde Mittel von Vorbeugungsmaßnahmen und anderen wichtigen Entwicklungsprojekten abziehen. Die Antwort auf diesen Einwand geben die Harvard-Forscher: „Die angemessene Behandlung kann aber nicht nur verhindern, dass infizierte Menschen an lebensbedrohenden Krankheiten im Gefolge von Aids sterben. Sie kann auch eine wesentliche Rolle bei der Prävention spielen, indem sie die virale Belastung der Behandelten vermindert und zu größerer Beteiligung an Vorbeugungsmaßnahmen ermutigt.“

Das Projekt sieht vor, dass innerhalb von drei Jahren eine Million Menschen behandelt werden (gegenüber rund zehntausend heute). In seinem fünften Jahr könnte das Programm seinen vollen Umfang erreicht haben. Vorsorge und Behandlung würden dann insgesamt drei Millionen Menschen zugute kommen. Die Kosten dafür lägen bei 6,3 Milliarden Dollar.

Die Pharmaindustrie auf dem Rückzug

DAMIT zeichnet sich der Zugang zu Medikamenten unerwartet als eine Möglichkeit ab, die man im Umkreis internationaler Organisationen ernsthaft diskutiert. In Pretoria haben die Pharmafirmen schon aufgegeben. Kofi Annan plant eine Finanzspritze von jährlich 7 bis 10 Milliarden Dollar. Sie soll durch Sonderzahlungen von Regierungen, Unternehmen und Wohltätigkeitsorganisationen zustande kommen.6

Es gibt also wieder Hoffnung. Endlich bewegt sich etwas! Doch der von US-amerikanischer Seite Anfang Mai mit 200 Millionen Dollar äußerst niedrig angesetzte Startbeitrag (zehnmal geringer als erwartet) hat den Hoffnungen einen empfindlichen Dämpfer versetzt. Und die Genfer Konferenz vom 4. Juni hat offenbar wieder die Rückkehr zur alten Ordnung eingeleitet. Der Weltfonds zur Aidsbekämpfung, der ursprünglich den Zugang zu Behandlungen finanzieren wollte, scheint sich von diesem seinem Vorhaben wieder abzuwenden und die internationale Solidarität einzig auf Vorbeugung einzuschwören. Unter den Teilnehmern der Konferenz habe „ein außergewöhnliches Maß an Übereinstimmung“ geherrscht, freut sich Dr. David Nabarro, Executive Director von Gro Harlem Brundtland, der Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Diese Einigkeit bezieht sich auf „eine zahlenmäßig eingeschränkte und zielgenaue medikamentöse Behandlung von Aidsopfern.“7

Für Jeffrey Sachs wäre diese „Abkehr des Weltfonds von einer gleichgewichtigen Strategie von Prävention und Therapie und die Entscheidung für Präventionen ohne Therapien eine Katastrophe. [. . .] Vorbeugung und Behandlung gehören untrennbar zusammen. Der derzeitige Geldmangel, so empörend er ist, kann nicht als Ausrede dafür dienen, dass man die Therapien hintanstellt. [. . .] Unter 7 Milliarden Dollar pro Jahr kann man nicht ernsthaft anfangen. Die Unterfinanzierung der Seucheneindämmung ist einer der krassesten Fälle moralischer Verantwortungslosigkeit und politischer Kurzsichtigkeit in der heutigen Welt.“8

Was also haben die militanten Aidsbekämpfungsparolen der mächtigsten Politiker dieser Welt gebracht? „Kein Krieg auf dieser Welt ist wichtiger“, erklärte General Colin Powell bei seinem Besuch in Kenia Anfang Mai. „Ich bin der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten von Amerika, nicht der Gesundheitsminister. Warum widme ich diesem Thema so viel Aufmerksamkeit? Der Grund ist sehr einfach: Aids ist nicht nur ein Gesundheitsproblem. Aids ist ein soziales Problem. Es ist ein politisches Problem. Es ist ein wirtschaftliches Problem. Aids ist ein Problem der Armut.“9

Zuvor hatte der Nationale Sicherheitsrat der USA die Seuche Aids als eine der größten Gefahren für die Stabilität der Welt erkannt. Abgesehen von den gesundheitlichen Risiken werden die demografischen Umwälzungen durch Aids dramatische Konsequenzen jenseits der Grenzen der betroffenen Länder haben: Was soll aus einem Land werden, in dem die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung sterbenskrank ist? Und was geschieht mit den 40 Millionen Aidswaisen?

Auch juristisch steht einiges auf dem Spiel. Nicht zuletzt deshalb hat die neue US-Regierung in Sachen Aids die Initiative ergriffen. Für Robert Zoellick, den Außenhandelssprecher von Präsident George W. Bush, ist die Kontroverse um den Zugang zu Medikamenten „ein wichtiger Test für die amerikanische Regierung hinsichtlich der Durchsetzung des Freihandelsprinzips in den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt. [. . .] Gegen die Pharmaindustrie bildet sich eine Front der Ablehnung, weil sie mitten in einer gigantischen Gesundheitskrise rücksichtslos auf ihre Patentrechte pocht. [. . .] Das produziert eine feindselige Stimmung, die das gesamte System der Rechte am geistigen Eigentum gefährden könnte.“10

Eine besonders restriktive Lesart der internationalen Abkommen zum geistigen Eigentum verbietet de facto nicht nur die Produktion von Generika in den Ländern der südlichen Halbkugel, sondern auch die stark verbilligte Einfuhr solcher andernorts hergestellten Medikamente in die ärmsten Länder der Welt. Doch viele Organisationen bestreiten diese Interpretation, darunter Ärzte ohne Grenzen, die südafrikanische Kampagne für den Zugang zu Therapien und Act Up, New York. Sie alle verlangen öffentlich von Regierungen und internationalen Organisationen, die Anwendung von „Zwangslizenzen“ und „Parallelimporten“ auszuweiten. Beide Möglichkeiten sind in den Trips-Abkommen als Ausnahmeregelung vorgesehen – etwa im Fall eines Notstands im Gesundheitswesen.

Zu Beginn dieses Jahres war der Stimmungswandel zuungunsten der Pharmaindustrie bereits offensichtlich: Brasilien wurde von den USA vor der Welthandelsorganisation attackiert und weigerte sich vehement, die finanzielle Belastung durch Patentrechte auf gratis verteilte Aidsmedikamente zu übernehmen. Am 25. Mai verlangte Indien von Argentinien, ebenfalls im Rahmen der WTO, seinen Medikamentenmarkt indischen Produzenten zu öffnen. Auf internationalen Foren zeichnet sich eine Annäherung zwischen Brasilien, Indien, Thailand und Südafrika ab.

Unter den westlichen Ländern ist Frankreich das einzige, das – zaghafte – Vorschläge in diesem Sinn unterbreitet: „Wir müssen auch andere Wege erforschen, etwa die Produktion neuer Medikamente in den Entwicklungsländern selbst“, übermittelte Präsident Jacques Chirac in seiner Botschaft an die Teilnehmer der Konferenz von Durban am 9. Juli 2000. Außerdem begrüßt es Frankreich, „dass die großen Pharmafirmen endlich im Grundsatz akzeptieren, dass Generika auch für die ärmsten Länder hergestellt und dort verkauft werden“ (so Premierminister Lionel Jospin bei seinem Besuch in Südafrika am 5. Juni 2001). Und auch die Europäische Union versucht in ihrem Kommuniqué vom 11. Juni über das Trips-Abkommen, den Belangen der öffentlichen Gesundheit im notwendigen Maß gerecht zu werden.

In dieser gespannten Atmosphäre wirkt das Angebot der indischen Firma Cipla an Ärzte ohne Grenzen, eine Kombination antiretroviraler Medikamente für weniger als 350 Dollar pro Jahr und Patient herzustellen (gegenüber 10.000 Dollar für die Produkte der Pharmariesen), wie ein Donnerschlag. Damit rückt erstmals in den Bereich des Möglichen, dass Produzenten des Südens die Generika erheblich billiger erzeugen.

James Love, Koordinator des Consumer Project on Technology in Washington und treibende Kraft hinter dem Angebot der Firma Cipla, hält es für besonders wichtig, „dass sich Hersteller aus dem Süden in den Entwicklungsländern durchsetzen können. Ohne diesen Erfolg gelingt es nicht, den Hebel bei den Preisen anzusetzen. Der Weltfonds darf nicht an Einkäufe bei europäischen und US-amerikanischen Produzenten gebunden werden. Im Gegenteil: Er muss den Wettbewerb zulassen und bei den Firmen kaufen, die den besten Preis bei annehmbarer Qualität bieten können. In dieser Hinsicht war Jeffrey Sachs eine Katastrophe, denn er hat verlangt, dass nur bei den Pharmariesen eingekauft wird.“

Hat das Projekt der Harvard-Universität vielleicht deshalb die Zustimmung der Regierung Bush, der EU-Kommission, der Experten der WHO, von UNAIDS, der Stiftung Bill und Melinda Gates und nicht zuletzt der Pharmaindustrie gefunden? Immerhin versprach es eine Lösung für die „Apartheid im Gesundheitssystem“, ohne den Schutz der Patentrechte zu schwächen.

Doch im Gefolge von Cipla sind zahlreiche andere Hersteller von Generika auf den Plan getreten. Therapien für rund 200 Dollar pro Jahr und Patient liegen nun im Bereich des Möglichen. Die Harvard-Formel ergibt einen Preis von etwa 1.000 Dollar. „Es wäre sehr gefährlich, wenn sich der Weltfonds jetzt auf diesen Deal zwischen den Pharmafirmen und der amerikanischen Regierung festlegen würde“, rechnet Dr. Pécoul vor. „Eine unvoreingenommene Lesart des Artikels 30 der Trips-Abkommen würde es dem Fonds in der Tat erlauben, bei den Herstellern von Generika einzukaufen. Insgesamt würden dann die Ausgaben für Medikamente für fünf Millionen Patienten von 5 Milliarden auf 1 Milliarde Dollar sinken. Damit wäre es auch nicht mehr nötig, sich zwischen mehr Vorbeugung und mehr Behandlung zu entscheiden. Die frei gewordenen Mittel könnten zum Aufbau der Infrastrukturen und zur Betreuung der Kranken verwendet werden.“

1955 wurde Dr. Jonas Salk, der Erfinder des ersten Impfstoffs gegen Kinderlähmung, als Held im Fernsehen interviewt. Der Journalist fragte ihn, wem das Patent gehöre. „Nun ja, dem Volk. Es gibt kein Patent. Man kann schließlich kein Patent auf die Sonne anmelden.“ Gegen Ende seines Lebens widmete Dr. Salk den Großteil seiner Arbeit der Suche nach einem Wirkstoff gegen Aids. Bleibt zu hoffen, dass seine Nachfolger es schaffen, die Front der Therapieablehnung wenigstens mit ein paar Sonnenstrahlen zu durchdringen.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Financial Times, 5. Juni 2001. 2 France 2, 31. Mai 2001. Bestimmt weiß der Minister nicht, dass Pfizer über den Umweg steuerlicher Abschreibungen mit seiner Spende bereits 25 Prozent des Handelspreises des Medikaments zurückgewonnen hat – und dass dieser amerikanische Steuerzahler bei den Herstellern von Generika selbst zwei- bis zehnmal so viele Moleküle einkaufen könnte. 3 Einzig der Internationale Fonds zur Unterstützung von Therapien (FSTI), 1999 von Bernard Kouchner gegründet, ging dieser Initiative voraus. Als Kouchner erneut ein Ministeramt übernahm, gründete er eine europäische Initiative für die Zusammenarbeit von Krankenhäusern. 4 http://aids.harvard.edu/. 5 John Donelly, „Prevention Urged in Aids Fight“, Boston Globe, 7. Juni 2001. 6 Die Zahlen mögen hoch erscheinen, doch wenn die Europäische Union die Operation allein finanzieren wollte, würde das rund 100 Mark pro Einwohner und Jahr kosten. 7  Financial Times, 5. Juni 2001. 8 Siehe http://www.lists.essential.org. 9 Karl Vick, „General Powell’s War: Aids in Africa“, International Herald Tribune, 29. Mai 2001. 10 Paul Blustein, „U.S. Trade Envoy Signals a New Approach to Tough Issues“, International Herald Tribune, 14. März 2001.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2001, von PHILIPPE RIVIÈRE