Wir kennen kein Pardon!
Von GHANIA MOUFFOK *
Seit Beginn der Unruhen, seit es Tote und Verletzte gibt und die Stadt erfüllt ist von Tränengasschwaden und dem beißenden Geruch nach Molotowcocktails, ist Tizi-Ouzou ein Ort mit dreigeteilter Machtstruktur.
Der erste Machtpol ist das Zentrum mit den beiden Gendarmeriekasernen, die zugleich das symbolisieren, wogegen sich der Protest richtet. Nachdem die Gendarmerie mit scharfer Munition auf die Demonstranten geschossen hatte, die seit April 2001 – nach dem Tod des Gymnasiasten Massinissa Guermah in einer Polizeiwache – die Straßen beherrschen, erhielt sie Anweisung, sich unauffällig zu verhalten. Ihre Kasernen werden inzwischen von den CNS geschützt, einer Spezialeinheit der Polizei zur Aufstandsbekämpfung, die sich auf den Einsatz von Tränengas beschränkt.
Der zweite Machtpol hat seinen Ort jenseits der Kasernen, auf den Straßen. Dort kämpfen die Aufständischen, eine zornige, wutentbrannte Jugend, deren Kraft viele Einwohner aus ihrer Bequemlichkeit aufgerüttelt hat. Die mit Eisenstangen bewaffneten jungen Leute, die sich mittlerweile im Bau von Barrikaden und der Herstellung von Molotowcocktails auskennen, wollen vor allem eines erreichen: den Abzug der Gendarmerie. Aus ihrer Sicht ist die Gewalt zum legitimen Mittel der Selbstverteidigung geworden. „Ulach smah, ulach!“, skandieren sie: „Wir kennen kein Pardon!“ Darin klingt der Wunsch nach Rache an den Ordnungskräften an, aber ebenso die Ablehnung aller Organisationsformen, die sich dem Rechtsverständnis der herrschenden Machthaber unterordnen.
Der dritte Pol in diesem Machtdreieck ist jene Generation, die aus dem „Frühling der Berber“, der Protestbewegung der Achtzigerjahre, hervorgegangen ist. Er besteht aus den Aktivisten zweier Parteien, des Front des Forces Socialistes (FFS) und des Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD), die sich als Vermittler zwischen den Kräften des Aufstands und den Ordnungsmächten zu etablieren versuchen. Sie möchten vor allem verhindern, dass der Riss zwischen beiden Lagern „irreparabel“ wird. Es ist eine Generation, die sich ihr politisches Scheitern eingestehen muss, aber sie hat in der lokalen Kultur Repräsentationsformen für sich wiederentdeckt, die an den traditionellen Dorfrat (ârch) anknüpfen. Der ârch basiert vor allem auf Blutsverwandtschaft und bildet sich als ein Klan um einen angesehenen Gründungsvater. Aufgrund der Verwaltungsgrenzen im modernen Algerien können einem solchen Rat heute auch Familien aus verschiedenen Gemeinden angehören.
„Nach dem Tod von Massinissa Guermah haben wir Formen der Kooperation gesucht, die über Partei- und Verwaltungsgrenzen hinweg funktionierten“, erklärt Haçène Salah, „deshalb der Rückgriff auf die Dorfräte, die seit unvordenklichen Zeiten demokratische und moralische Autorität besitzen.“ Der 45-jährige Arzneimittelhändler, der aus der Berberbewegung kommt und sich später dem FFS angeschlossen hat, wurde nach dem Kooptationsprinzip zum Vertreter des ârch der Aït Djennad im Verband der urusch (der Räte) von Tizi-Ouzou bestimmt.
Der ârch der Aït Djennad stellt eine Art Großfamilie dar, die auf drei Gemeinden verteilt lebt, die wiederum zu drei verschiedenen daïra (Unterpräfekturen) gehören. Insgesamt bestehen die drei Gemeinden Freha, Aghribs und Timizart aus 57 Dörfern, die nach dem Konsensprinzip, also nicht durch Wahl, je zwei Delegierte in den Rat entsenden. Unter den 114 Mitgliedern des Rats werden sechs Vertreter ausgewählt, die in den Verband auf der Ebene des wilaya (Präfektur) von Tizi-Ouzou geschickt werden.
Auf diese Weise haben sich in allen großen berbersprachigen wilayas solche uruschs als Vertretung der Landbevölkerung gebildet. Ein entsprechendes Gremium sind in den neuen Städten die Stadtviertel- oder Bezirkskomitees. Um dem Aufstand eine politische Richtung zu geben, versammelten sich alle Delegierten dieser Institutionen am 11. Juni 2001 in El Kseur und riefen zu einem friedlichen Marsch nach Algier auf, der für den 14. Juni geplant war. Unterzeichnet war der Aufruf von Vertretern der wilayas von Sétif, Bordj Bou Aréridj, Bouira, Boumerdes, Bejaïa, Tizi-Ouzou und Algier (durchweg Regionen der Kabylei oder Gebiete, in denen viele Kabylen leben) sowie vom Vertretungsorgan der Universitäten von Algier.
In dieser Organisationsstruktur, die auf dem Konsensprinzip beruht, äußert sich zum einen die Furcht vor einer Spaltung und zum anderen das Bemühen, den Mythos der Einheit aller Kabylen gegenüber der Zentralmacht neu zu begründen. Nach Ansicht der meisten Mitglieder der uruschs haben die beiden „Berberparteien“ – der FFS mit dem größten Wähleranhang und der RCD, dessen Gefolgschaft aufgrund seiner Regierungsbeteiligung geschrumpft ist1 – nur zur Spaltung beigetragen. „Die Jugend will keine Partei“ versichert Salah, „sie fühlt sich von den Dorfräten vertreten.“ Keine Parteien, keine Wahlen, keine Frauen – ein merkwürdiges Ergebnis in einer Region, die sich zu andern Zeiten als Avantgarde eines republikanischen oder demokratischen Algerien verstanden hat.
Die Elite der vormaligen Protestgeneration begnügt sich also damit, aus der einzigen Forderung, die die jugendlichen Rebellen klar formuliert haben („Weg mit der Gendarmerie!“), einen lediglich regionalistischen Anspruch mit kultureller Begründung abzuleiten. Der Sänger Ferhat Mehenni, eine Symbolfigur der Generation der Achtzigerjahre und Sänger ihrer Protesthymne, formuliert diese Haltung ganz offen: „Die algerische Kultur ist grundsätzlich regionalistisch und tribal orientiert. Wir erleben heute das Scheitern des Nationalismus, weil die Leute, die seit der Unabhängigkeit von 1962 an der Macht sind, weder willens noch fähig waren, den Aufbau einer Nation weiterzuführen. Ohne die Rückkehr zu den regionalen Grundlagen lässt sich überhaupt nichts aufbauen.“ Mehenni tritt dafür ein, mit einem Tabu zu brechen und die regionale Autonomie einzuführen: „Unter Autonomie verstehen wir, dass sämtliche staatlichen Hoheitsrechte auf die gewählten Institutionen der Region übergehen – ausgenommen nur die Landesverteidigung, die Münze, die Außenpolitik und die symbolische Vertretung der Republik. Die regionale Autonomie bedeutet den Beginn einer institutionellen Entkolonialisierung.“
Die Marginalisierten bilden die Mehrheit
EINE „elitäre Haltung“, meint Daho Djerbal, Historiker und Herausgeber von Naqd, einer der wenigen Zeitschriften, die den Mut haben, sich mit dem Algerien von heute auseinander zu setzen. In seinen Augen hat sich die alte Führungsriege der Region auf eine fragwürdige Position zurückgezogen. Sie vertrete den Standpunkt, so Djerbal, die Kabylei sei in stärkerem Maße Opfer der Zentralmacht als das übrige Algerien. Als Beleg diene ihr die „Verweigerung der Identität“, da die Machthaber die Berbersprache Amazigh nicht als eine der offiziellen Landessprachen anerkennen.
Vor dem Hotel Belloua, in dem wir uns unterhalten, ist der Straßenkampf voll im Gange. „Komm doch her“, ruft ein Jugendlicher einem CNS-Polizisten zu, „komm her, wenn du ein Mann bist, du Bastard, du Sohn der tchipa [Korruption]!“ Der CNS-Mann brüllt zurück: „Hör zu, du Kabyle, aus eurem Amazigh wird nichts, du Sohn von Chirac!“
Es waren diese Jugendlichen, die den Sänger Ferhat Mehenni mit Spottversen empfangen hatten, dem Haçène Salah anschließend in aller Freundschaft riet: „Das nächste Mal solltest du nicht im Anzug auftreten.“ In der Revolte offenbart sich auch ein Bruch zwischen den alten Eliten der Berberbewegung und den Jugendlichen, die ohne jede Perspektive dastehen.
Nach Ansicht von Daho Djerbal drücken sich diejenigen, die die Anerkennung ihrer Sprache fordern, vor einem wichtigen Problem: „Die Basis spricht Kabylisch und Arabisch, die Elterngeneration dagegen Kabylisch und Französisch. Die Jugendlichen können kaum noch Französisch. Und der traditionellen Führung fällt zur Auflösung dieses Widerspruchs nur Partikularismus und Regionalismus ein.“ Alle sind sich jedoch darin einig, dass die Jugendlichen der Kabylei den engen Rahmen der kulturellen Forderungen verlassen und ein Problem von nationaler Tragweite auf die Tagesordnung gesetzt haben: ihr Verhältnis zum Staat.
Ouarmar, 27, Arabischlehrer in seinem Heimatdorf, sagt es auf seine Weise. Wie Zehntausende anderer junger Leute hatte er die Bergregion verlassen, um sich am 14. Juni am Marsch nach Algier zu beteiligen. In der Hauptstadt angekommen, fand er sich in einer Situation wieder, die mittlerweile klassisch ist: Auf die Repression reagierten die Jugendlichen mit Gewalt. Ouarmar wurde verletzt und landete mit Dutzenden anderen Demonstranten im Mustafa-Krankenhaus. Nach den üblichen Ausfällen gegen das „System“ erklärt er: „Ich will, dass das hak, dass Recht und Gesetz respektiert werden, es muss Schluss sein mit den Begünstigungen und Sonderrechten.“ Und dann meint er, als spräche er von sich selbst. „Wer arm ist, hat gar nichts. Man lebt in den Bergen, und das war’s. Aber die mit dem Geld aus dem Ausland, das sind harki [Kollaborateure der Franzosen]. Und wenn du dich neben sie setzt, rücken sie weg, weil du arm bist.“
Die Kluft zwischen Arm und Reich verläuft durch ganz Algerien, auch durch die Kabylei. Auf die Straße gehen, wie im Oktober 1988, die Menschen, die sozial ausgegrenzt sind. Und dies nicht nur in der Kabylei. Inzwischen hat sich die Revolte auf Khenchela, Annaba, Batna und andere Orte ausgeweitet. Um besser zu verstehen, was in Algerien geschieht, kann man immer noch auf die Einsichten zurückgreifen, die der Soziologe Saïd Chikhi nach der Rebellion von 1988 veröffentlicht hat: „Den Oktober nur durch Verweis auf die Arbeitslosigkeit und die Wohnungsnot erklären zu wollen bedeutet, Ursache und Wirkung zu verwechseln und vor allem die Komplexität der sozialen Beziehungen zu reduzieren. Denn man lässt damit außer Acht, was heute in Algerien eine entscheidende Rolle spielt: das Feld der Marginalisierung.“2 Dieses Feld hat sich mittlerweile zu einem eigenen Kontinent ausgewachsen, auf dem etwa 12 Millionen Algerier leben.
Zur Arbeitslosigkeit kommt der Ausschluss aus dem Bildungssystem. „Die Schule“, schrieb Saïd Chikhi damals, „ist nicht mehr ein Mittel der gesellschaftlichen Integration, das den ‚Kindern aus dem Volk‘ die Chance eines gesellschaftlichen Aufstiegs bietet. Heute funktioniert sie als Selektionsinstrument, und die meisten scheitern an diesem Test: Von hundert eingeschulten Kindern erreichen nur vier die Universität.“ Die übrigen finden sich in die seelenlosen Schlafstädte verbannt, wo sie keine Orientierung finden und keinen sozialen Status gewinnen können.
Diese „Randständigen“, die inzwischen eine Mehrheit bilden, schlagen sich in der Schattenwirtschaft durch, wo vor allem Cleverness, Tricks und kriminelle Methoden weiterhelfen, wie es Saïd Chikhi schon 1988 beschrieb: „Sie folgen einem anderen Ehrenkodex, Mutproben und körperliche Aggression sind ihre Mittel, die eigenen Fähigkeiten zu erproben. Und sie folgen einer anderen Logik des Handelns: Die Erfahrung, immer wieder auf der Polizeiwache verprügelt zu werden, das Gefühl, in einem verrotteten System zu leben und nur als Masse, nicht als Kollektiv zu existieren – all das führt zu Aufbegehren und Protest. Aber sie finden keinen Raum, sich auszudrücken, und keinen Rahmen für ihren Protest.“ Es sei denn auf der Straße, so wie heute.
Seit dieser Diagnose sind über zehn Jahre vergangen. Auch die Führungsschichten und der Mittelstand, denen die Aufgabe der „Demokratisierung“ des Landes mit Hilfe von Gewerkschaften, Parlament und staatlichen Einrichtungen zugedacht war, haben ausgespielt. Erstmals wurden jetzt in der Kabylei auch Büros der „Berberparteien“ verwüstet. Hat Daho Djerbal Recht mit seiner Behauptung, der Berberbewegung fehle es an Lösungen, sie sei historisch gesehen „im Begriff, die Partie zu verlieren“, und biete, wie zuvor die Islamisten, keine Alternative zum herrschenden System, „weil sie mit ihrer Orientierung an Identität und Regionalismus die gesellschaftliche Bewegung auf ideologische Abwege bringt“?
Algerien hat nicht nur die Zerrüttung durch den Bürgerkrieg auszuhalten, auch der radikale wirtschaftliche Wandel hat das Land schwer erschüttert. Unter dem Druck der internationalen Finanzinstitutionen und wegen der Auflagen, die sich aus den Umschuldungsvereinbarungen ergeben, musste der Staat seine einstige wirtschaftliche Rolle innerhalb von zehn Jahren vollständig aufgeben. Die Privatisierung führte zum Bankrott von Staatsunternehmen, mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer wurde auf die Straße gesetzt. Gleichzeitig entstand eine Schicht von Neureichen, vor allem nach dem Ende des staatlichen Außenhandelsmonopols. Und der Wandel vom Staatsmonopol zum privatwirtschaftlichen Monopol im Bereich der Mineralölförderung hatte eine weitere Einkommensumverteilung zur Folge.
Es handelt sich also um eine Art von New Deal zwischen alten und neuen Machstrukturen, an dem die große Mehrheit der Bevölkerung nicht beteiligt ist. Alles wird neu ausgehandelt: der Zugang zu Grundbesitz und Krediten, der Einfluss auf Entscheidungen der Gerichte und des Parlaments, der Zugang zu bestimmten Schlüsselpositionen. Die entscheidende Frage ist dabei, welche politischen und wirtschaftlichen Kräfte in diesem Wandlungsprozess bestimmend sind und die Macht übernehmen könnten. Was tatsächlich vorgeht, wird man kaum begreifen können, wenn man immer nur auf die Auseinandersetzungen verschiedener Klans starrt, die sich zwischen Präsident Abdelaziz Bouteflika und den „wahren Machthabern“ im Militär abspielen. Auch das Militär hat sich bereits erheblich gewandelt, und die neuen Reichen aus dem privatwirtschaftlichen Sektor versuchen, alle Institutionen des Landes ihren Interessen gefügig zu machen.
Unterdessen sind die Straßenkämpfer dabei, alles zu zerschlagen, was von den öffentlichen Einrichtungen noch übrig ist: Finanzämter und Versicherungen, Postämter und Pensionskassen. Indem sich ihr Zorn gegen alles wendet, was den Staat, der sie im Stich gelassen hat, materiell repräsentiert, trägt die Masse der Opfer dieser Entwicklung tragischerweise dazu bei, sich selbst zu schwächen. Aber vielleicht kann das Algerien der Vielen, der Armen, der Millionen von Ausgegrenzten nur auf diese Weise, durch Wut und Empörung und Steinewerfen, seine Forderung nach einem neuen Gesellschaftsvertrag artikulieren.
dt. Edgar Peinelt
* Journalistin, Algier.