13.07.2001

Schneller, höher, weiter

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Schneller, höher, weiter

Von MICHAEL T. KLARE *

ALS George W. Bush nach seiner Wahl zum Präsidenten Donald Rumsfeld als seinen Verteidigungsminister vorstellte, erklärte er, dessen Hauptaufgabe werde darin bestehen, „den im Pentagon herrschenden Status quo in Frage zu stellen [und] eine Strategie zu entwickeln, die notwendig ist, um über eine für den Krieg im 21. Jahrhundert ausgerüstete Streitmacht zu verfügen“1 . Diese Strategie ist im Detail zwar noch nicht bekannt, doch ihre großen Linien sind bereits auszumachen.

Die neue Architektur der amerikanischen Verteidigung wird auf drei Pfeilern beruhen: erstens Amerikazentrismus, also die Doktrin, wonach Streitkräfte im Ausland – auch bei gemeinsamen Operationen mit Verbündeten – ausschließlich im Interesse der USA einzusetzen sind; zweitens globale Intervention, also die Fähigkeit, an allen Punkten der Erde, jederzeit und unter allen erdenklichen Bedingungen militärisch präsent zu sein; und schließlich dauerhafte Vorherrschaft, das heißt, Einsatz von Wissenschaft, Technik und Kapital mit dem Ziel, die Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte und Waffensysteme über die aller anderen Staaten zu sichern.

Diese Vorstellungen sind natürlich nicht völlig neu. Auch andere US-Regierungen haben sich – mal mehr, mal weniger – auf das eine oder andere dieser Prinzipien gestützt. Die noch nie dagewesene Konsequenz und Kompromisslosigkeit allerdings, mit der sie heute vertreten werden, markieren eine Wende im strategischen Denken der Vereinigten Staaten.

Die Militärdoktrin ist stets von der Voraussetzung ausgegangen, dass ein Einsatz von US-Streitkräften im Ausland den vitalen Sicherheitsbedürfnissen des Landes zu dienen habe (was übrigens auch für alle anderen Staaten gilt). Doch mit diesen Interessen sollten immer auch noblere Ziele verfolgt werden – Verteidigung der Demokratie, Kampf gegen den Totalitarismus, Zusammenhalt der westlichen Allianz, Erhaltung des Friedens. Diese Ziele sind nun zwar nicht völlig verschwunden, aber sie werden beiseite gedrängt, insofern die Verfolgung nationaler Interessen eine ausdrückliche Priorität erlangt.

Da der Westen heute keiner globalen Bedrohung mehr ausgesetzt ist, gibt es aus der Sicht der US-Politiker keinen zwingenden Grund, warum die USA ihre nationalen Interessen der gemeinsamen Verteidigung unterordnen sollten. Schon 1999 hatte Bush erklärt: „Amerika muss in der Welt präsent sein. Das heißt aber nicht, dass unser Militär dazu da wäre, auf jede schwierige außenpolitische Situation zu reagieren.“ Gewaltanwendung lasse sich nur mit „dauerhaften nationalen Interessen“ rechtfertigen.2 Mit anderen Worten, jedes Engagement der USA hat den wichtigsten Zielen des Landes zu dienen: Sicherung der Erdölzufuhr aus dem Arabischen Golf, Gewährleistung der Sicherheit Israels und Taiwans, Eindämmung des Drogenhandels in Lateinamerika usw.

Die Priorität ausschließlich nationaler Interessen wirkt sich auch auf die Bereitschaft Washingtons aus, an multilateralen Friedensmissionen teilzunehmen: „Das Über-Engagement unserer Streitkräfte bei solchen Operationen hat ein gravierendes Problem für die Moral der Truppe geschaffen.“3 In Wirklichkeit sorgt sich das Weiße Haus weniger um die Moral der Truppe als um die Tatsache, dass diese Operationen „den dauerhaften nationalen Interessen“ offenbar nicht recht förderlich sind.

Diese Sorge äußerte auch Vizepräsident Dick Cheney im August 2000 während des Wahlkampfs: „Die Schwierigkeit liegt darin, zu entscheiden, was in unserem strategischen Interesse liegt, was also für uns bedeutsam genug ist, um den Einsatz unserer Ressourcen und den möglichen Verlust amerikanischer Menschenleben zu rechtfertigen.“4 Was Cheney sagen will, liegt auf der Hand: Viele von der Clinton-Regierung unternommene Friedensmissionen wurden dieser Definition nicht gerecht. Weshalb er auch die Beteiligung an der multinationalen Friedenstruppe auf dem Balkan in Frage stellte.

Eine ähnliche Sicht bestimmt die Haltung der Regierung hinsichtlich des NMD-Raketenabwehrsystems. Auch wenn Bush wiederholt betont hat, ein solches Abwehrsystem käme nicht nur den USA, sondern auch deren Alliierten zugute, so geht es offensichtlich um eine ganz andere Logik: „Die Verteidigung Amerikas wird im neuen Jahrhundert eine vorrangige Rolle spielen“, erklärte Bush 1999, deshalb werde die Stationierung des NMD-Systems „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ erfolgen.5 Nach offizieller Lesart soll dieses System dazu dienen, das Territorium der USA gegen so genannte Schurkenstaaten zu schützen, also gegen Angriffe von Ländern wie Nordkorea oder Iran. Dies sei nichts anderes als eine defensive Vorsichtsmaßnahme der USA gegenüber der Unberechenbarkeit anderer Staaten.

Aus den offiziellen Verlautbarungen wird jedoch deutlich, dass das NMD-Programm einen wesentlichen Bestandteil der aktiven, offensiven Strategie der USA ausmacht. Seine Realisierung würde feindliche Raketen neutralisieren, ein zukünftiger amerikanischer Präsident könnte ungehemmt „Schurkenstaaten“ angreifen, ohne Vergeltungsschläge durch Raketen mit nuklearen oder chemischen Sprengköpfen fürchten zu müssen.

All das wird nicht eindeutig und explizit gesagt, ergibt sich aber implizit aus Erklärungen wie der von Verteidigungsminister Rumsfeld bei seinem Berufungshearing im US-Kongress: Demnach hätten die USA 1991 die Operation „Wüstensturm“ gegen den Irak womöglich nicht begonnen, wenn sie gewusst hätten, dass Saddam Hussein interkontinentale Raketen mit Atomsprengköpfen besitzt. Ohne ein eigenes Raketenabwehrsystem, so Rumsfeld, bestehe die große Gefahr, dass die USA in einer möglichen Konfrontation mit einem über Raketen verfügenden Schurkenstaat nachgeben würden, dass „wir unsere Interessen anders sehen und uns anders verhalten, als wir es ansonsten getan hätten“.6

Jederzeit interventionsbereit

DER zweite Pfeiler der neuen Strategie ist die Absicht, das weltweite Interventionspotenzial der Vereinigten Staaten zu erhöhen. Die Strategie der USA hatte stets auf die globale Entsendung der Streitkräfte gesetzt. Ihre Militärs sahen den Kalten Krieg als einen globalen Kampf, bei dem die USA in der Lage sein mussten, sich gegen feindliche Streitkräfte in allen Regionen der Erde zu behaupten. Als entscheidender Kriegsschauplatz war dabei jedoch der europäische Kontinent vorgesehen. Die US-Streitkräfte waren also für einen großen Landkrieg in den Ebenen Mitteleuropas strukturiert, dafür brauchten sie eine große Zahl an Panzern, schwerer Artillerie usw. Der Transport dieses schweren Militärgerätes stellte seinerzeit kein Problem dar, da es in den US-Stützpunkten in Europa gelagert werden konnte.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs entfielen diese Voraussetzungen. Die US-Strategen gehen heute nicht mehr davon aus, dass sie einen massiven, lang andauernden Krieg in Mitteleuropa oder anderswo führen müssen. Vielmehr rechnen sie mit kurzen, aber intensiven Feldzügen an weit auseinander liegenden Orten des Planeten. Da sich Waffen und Soldaten nicht überall stationieren lassen (und auch nur wenige Länder damit einverstanden wären), müssen die USA in der Lage sein, ihre Streitkräfte und Ausrüstungen von Stützpunkten im eigenen Land aus zügig in entfernte Kampfzonen zu transportieren. Allerdings sind die meisten US-Waffen, die ja während des Kalten Kriegs entwickelt und produziert wurden, nur schwer transportierbar. Dieses Problem stellte sich beispielweise im Kosovokrieg, als die US-Streitkräfte erhebliche Schwierigkeiten hatten, ihr schweres Gerät umzusetzen, was vielen US-Strategen große Kopfschmerzen bereitete.7

Wenn der Kongress die entsprechenden Mittel bewilligt, wird die Priorität der Bush-Regierung darin liegen, flexible und leicht stationierbare Streitkräfte aufzustellen und auszustatten. Für das Heer bedeutet dies, die großen gepanzerten Einheiten durch kleinere mobile Formationen abzulösen und sie mit Waffensystemen auszustatten, die Präzisionsmunition (Precision-guided munitions, PGM) abschießen können. Bei der Marine wird das Pentagon nicht mehr so sehr auf große Kriegsschiffe wie Flugzeugträger setzen, sondern eher auf kleine, schwierig zu ortende „Munitions-Schiffe“, die mit verschiedensten Raketentypen bestückt sind.

Am wenigsten Veränderungen wird die Luftwaffe vornehmen müssen, die ohnehin schon über große Transportkapazitäten verfügt, jedoch zusätzliche Langstreckentransporter und Tankflugzeuge für die Luftbetankung bekommen wird.

Die künftigen Ziele der neuen US-Administration hat Präsident Bush in einer Rede am 13. Februar 2001 umrissen: Die Landstreitkräfte sollen „leichter und tödlicher“ werden, die Luftstreitkräfte werden „in der Lage sein, weltweit mit großer Zielgenauigkeit zuzuschlagen“, während die Seestreitkräfte, gestützt auf eine Kombination von Informationen und Waffensystemen, die Fähigkeit maximieren sollen, das US-Machtpotenzial „zu Lande zur Geltung zu bringen“.8 Dieser Aufwand wird erhebliche Veränderungen im Ausgabenprogramm des Pentagon bedeuten, was für gewisse etablierte Kreise in Militär und Industrie ein Gräuel sein dürfte. Mit Widerstand ist also zu rechnen. Doch die neue Administration ist fest entschlossen, die Streitkräfte zu erneuern und sie waffentechnisch zu befähigen, sich überall erfolgreich zu schlagen, vor allem in Ostasien.

Das dritte wichtige Element dieser Strategie ist der Wille, die militärische Vorherrschaft langfristig zu behaupten. Zwar besitzen die Vereinigten Staaten bereits eine erdrückende Überlegenheit, die auch in den kommenden Jahrzehnten von keiner Macht in Frage gestellt werden kann. Doch die Bush-Administration hat eine weitreichendere Vision. Sie will dafür sorgen, dass die USA auf unabsehbare Zeit die herrschende Militärmacht bleiben. „Eines unserer Hauptziele wird darin bestehen, den friedlichen Einfluss Amerikas auf der ganzen Welt und auf Dauer zu erweitern“, erklärte Bush 1999.9 Die USA müssten sich eine „Position der Stärke“ verschaffen, damit kein Land und keine Koalition von Großmächten die Stabilität – vor allem in Asien – gefährden könne. Erstmals formuliert wurden diese Überlegungen 1992 in einem vertraulichen Bericht des Pentagon mit dem Titel „Defense Planning Guidelines 1992–1994“ (siehe hierzu den Artikel von Philip S. Golub).

Um diese Position der Stärke zu behaupten, will Bush das wissenschaftliche und technische Potenzial des Landes ausnutzen. Damit soll gewährleistet sein, dass die Offensiv- und die Defensivwaffen der USA gegenüber jedem denkbaren Gegner immer eine oder zwei Generationen Entwicklungsvorsprung haben. So wie es die Theoretiker der so genannten „militärischen Revolution in militärischen Angelegenheiten“ fordern, die für eine Neudefinition des Krieges eintreten, dessen Hauptmerkmale die neuen High-Tech-Systeme sind: automatische Lenkwaffen, Satelliten und technisch hoch entwickeltes Gerät zur Luftaufklärung, Vollautomatisierung, Nuklearwaffen mit schwacher Sprengwirkung und eben das berühmte NMD-Raketenabwehrsystem.

Mit Hilfe dieses Systems sollen die US-Streitkräfte, wie wir gesehen haben, in die Lage versetzt werden, feindliche Länder zum Zeitpunkt und in der Region eigener Wahl anzugreifen, und zwar bei minimalem Risiko eines Gegenangriffs. Im Konflikt mit einem Gegner, der über Langstreckenraketen verfügt, erfordert dies die Bewegung von Raketenabwehrsystemen (Theater Missile Defense, TMD) im Operationsgebiet wie auch ein Raketenabwehrschild über den Vereinigten Staaten selbst. Dies ist der Grund, warum Bush und Partner in dem NMD-System das Schlüsselprojekt sehen, das die dominierende Rolle der US-Militärmacht garantiert, und zwar „nicht nur überall in der Welt, sondern auch auf lange Zeit“.

Der Plan der Bush-Administration hat also immense Auswirkungen auf Europa und die ganze Welt. Der Wunsch der Europäischen Union, in Fragen der Sicherheit als gleichberechtigter Partner mit den USA zu kommunizieren, wird immer wieder auf den Widerstand der Kräfte in Washington stoßen, die den nationalen Prioritäten der Amerikaner den Vorrang zuweisen. Auch alle Bemühungen, die Beziehungen der USA zu Russland und China zu verbessern, werden von diesen Ländern verständlicherweise beargwöhnt, da sie fürchten müssen, zu zweitrangigen Mächten degradiert zu werden.

Bush hat sich damit auf ein riskantes Spiel eingelassen. Immer wenn in der Vergangenheit eine dominante Großmacht versuchte, ihre Vorherrschaft unbegrenzt auszuweiten, haben die aufstrebenden Mächte entsprechend reagiert. Das Ergebnis war noch immer ein Rüstungswettlauf – oder größere Kriege.

dt. Matthias Wolf

* Professor am Hampshire College, Amherst, Massachusetts, Autor von „Resource Wars: The New Landscape of Global Conflict“, New York (Metropolitan Books) 2001.

Fußnoten: 1 New York Times, 29. Dezember 2000. 2 Rede am 23. September 1999 in Charleston, South Carolina. 3 Rede am 14. February 2001 in Charleston, West Virginia. 4 New York Times, 1. September 2000. 5 Zitierte Rede vom 23. September 1999. 6 Aussage vor dem Verteidigungsausschuss des Senats, 11. Januar 2001. 7 The Economist, London, 11. November 2000, S. 29–33, und The Wall Street Journal, 4. Mai 2001. 8 Rede am 13. Februar 2001 in Norfolk, Virginia. 9 Zitierte Rede vom 23. September 1999.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2001, von MICHAEL T. KLARE