Ein Kabinett des Kalten Kriegs
Von PHILIP S. GOLUB *
Vor fünf Jahren verkündete US-Senator Jesse Helms, Vorsitzender des einflussreichen Senatsausschusses für auswärtige Angelegenheiten: „Wir sind das Zentrum, und wir müssen es bleiben. [...] Die Vereinigten Staaten müssen als leuchtendes Beispiel vorangehen und als moralische, politische und militärische Führungsmacht die Fackel von Recht und Ordnung in die Welt tragen.“1 Ebenso anmaßend verkündete Ende 1999 der neokonservative Publizist Charles Krauthammer: „Amerika überragt die Welt wie ein Koloss [...]. Seit Rom Karthago zerstörte, hat keine andere Großmacht solche Höhen erklommen wie wir.“2 Krauthammer prophezeite, dass die Phase eines unipolaren Weltsystems noch „mindestens eine Generation lang andauern“ werde. Noch weiter in die Zukunft wagte sich ein anderer Autor mit seinen Prognosen. Mortimer Zuckerman schrieb 1998: „Das siebzehnte Jahrhundert gehörte Frankreich, das neunzehnte Großbritannien, das zwanzigste den Vereinigten Staaten. Das kommende Jahrhundert wird erneut den Vereinigten Staaten gehören.“3 Diese Hymnen an die Macht dokumentieren das Ausmaß weltherrschaftlicher Euphorie, von dem die US-amerikanische Rechte seit dem Ende des Kalten Kriegs ergriffen ist. Und sie zeigen, wie weit die Achtzigerjahre schon zurückliegen, als Theoretiker wie Paul Kennedy strukturelle Anzeichen für das nahende Ende der US-amerikanischen Vormachtstellung zu erkennen glaubten.
Davon kann heute keine mehr Rede sein. Seit 1991 ist die politische Dominanz der Vereinigten Staaten unangefochten – eine Situation, die in der neueren Geschichte ihresgleichen sucht. Während das britische Empire am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem aufstrebenden Deutschen Reich einen ernst zu nehmenden Rivalen bekam, haben die Vereinigten Staaten in absehbarer Zeit mit keinem strategischen Gegner zu rechnen, der in der Lage wäre, das globale Kräftegleichgewicht in Frage zu stellen. Ihre ökonomischen Hauptkonkurrenten Europa und Japan sind in eine strategische Allianz eingebunden. Ihre politische Einflusssphäre und ihr Handlungsspielraum haben sich deutlich ausgeweitet, und auf ökonomischer Ebene bestimmen sie nach wie vor die Regeln, Normen und Zwänge der internationalen Wirtschaftsordnung.4
Seit 1991 verfolgt die US-Außenpolitik einzig und allein das Ziel, diesen vorteilhaften Status quo aufrechtzuerhalten. Und lediglich die Frage, ob dieses Ziel mittels kooperativem Handeln oder unmittelbarem Druck besser durchsetzbar ist, wurde im Laufe der Jahre unterschiedlich beantwortet. Während die Clinton-Administration eher auf Wirtschaftsdiplomatie setzte und bis zu einem gewissen Grad auch eine multilaterale Kooperation anstrebte, scheint die neue US-Regierung der Versuchung zu erliegen, die US-Vorherrschaft durch demonstrative Stärke und unilaterales Handeln auszubauen.
In ihrer kaum sechsmonatigen Amtszeit hat die Bush-Regierung bereits einige Kostproben ihres Verständnisses von Außenpolitik geliefert. In den bilateralen Beziehungen zu China schlug sie einen deutlich härteren Ton an, sie machte das ABM-Abkommen von 1972 mit ihrer Entscheidung für ein Raketenabwehrsystem (NMD) zur Makulatur, sie hat angekündigt, den Weltraum zu militarisieren, sie hat das Klimaschutzabkommen von Kioto verworfen und die OECD-Initiative gegen Steueroasen sabotiert, und sie gibt zu erkennen, dass sie im Streit mit der EU über die steuerliche Offshore-Subventionierung von US-Exporten nicht bereit sein wird, etwaige Sanktionen durch das WTO-Schlichtungsorgan hinzunehmen.5
Außerdem hintertreibt die Bush-Administration die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs, nachdem sich die Clinton-Administration am Ende doch noch zu einem Ja durchgerungen hatte.6 Die Liste dieser „Zündeleien“, wie Harvard-Professor Stanley Hoffman plastisch formulierte, wird von Tag zu Tag länger. Sie macht deutlich, dass die USA entschlossen sind, künftig auf unilaterales Handeln zu setzen und sich ihre Souveränität auch nicht ansatzweise durch multilaterale Verträge und völkerrechtliche Normen beschränken zu lassen. Über John Bolton – von Colin Powell jüngst ins Außenministerium berufen (unter George Bush sen. war er als stellvertretender Außenminister für „internationale Organisationen“ zuständig) – wird erzählt, dass er im privaten Kreis erklärt habe: „Das Völkerrecht ist nicht existent.“
Ein Blick zurück in die jüngste Geschichte mag die Hintergründe dieser neuerlichen Hinwendung zum Unilateralismus erhellen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion boten sich den Vereinigten Staaten mehrere strategische Optionen, die sich vereinfacht auf drei Hauptlinien reduzieren lassen. Da war erstens die Möglichkeit der multilateralen Zusammenarbeit, mit dem Ziel, das entstehende multipolare Staatensystem im friedlichen Einvernehmen mit allen maßgeblichen Ländern zu regulieren. Da war zweitens der klassische Balance-of-Power-Ansatz, vergleichbar der Politik, die Großbritannien im 19. Jahrhundert in Kontinentaleuropa verfolgte. Und da war drittens die „Strategie der Vorherrschaft“, wie sie US-Senator Helms und seine Freunde verfechten, um das unipolare Staatensystem fortzuschreiben. Die beiden ersten Optionen eröffneten vielfältige Kombinationsmöglichkeiten, wie der fein dosierte Mix aus Kooperationsangeboten und Pressionen veranschaulicht, der seit 1989 die bilateralen Beziehungen zu China prägte. Doch am Ende behielt die dritte Option die Oberhand, also die Grammatik der demonstrativen Stärke und der Ausübung direkten Drucks.
Die so genannte strategy of predominance (Strategie der Vorherrschaft) wurde 1992 in einem vertraulichen Pentagon-Bericht mit dem Titel „Defense Policy Guidance 1992–1994“ formuliert. Verantwortlich zeichneten der jetzige Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz und I. Lewis Libby, der heute US-Vizepräsident Dick Cheney als Stabschef und Berater in Fragen der Nationalen Sicherheit dient. Die Leitlinien empfahlen, „jede feindliche Macht daran zu hindern, Regionen unter ihre Kontrolle zu bringen, deren Ressourcen es ihr erlauben würden, den Status einer Großmacht zu erlangen“. Etwaige „Versuche der hochentwickelten Industrieländer, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen oder die bestehende politische und wirtschaftliche Ordnung umzustürzen“, seien ebenso zu unterlaufen wie der „Aufstieg eines künftigen globalen Konkurrenten“7 . Dass diese Empfehlungen aus der Hochzeit der unipolaren Weltordnung kurz nach dem Golfkrieg und dem Zerfall der Sowjetunion stammen, ist insofern nicht unwichtig, als der Golfkrieg für die Remobilisierung der US-Streitkräfte eine entscheidende Rolle spielte. Er rechtfertigte die Fortschreibung hoher Verteidigungsaufwendungen und legitimierte die Beibehaltung des weltweiten Netzes von US-Militärstützpunkten. Letztere waren fortan gegen die „Schurkenstaaten“ gerichtet, denen man zutraute, das strategische Gleichgewicht in ihrer Region zu kippen. Bereits im Februar 1991 betrachtete Dick Cheney, damals US-Verteidigungsminister, den Golfkrieg als „typisches Konfliktszenario der neuen Ära. [...] Neben Südostasien haben wir wichtige Interessen in Europa, in Asien, im Pazifik und in Mittel- und Südamerika. Wir müssen unsere Politik und unsere Streitkräfte darauf ausrichten, dass sie ähnliche regionale Bedrohungen in Zukunft verhindern oder in kurzer Zeit niederschlagen können.“8
Restauration des nationalen Sicherheitsstaates
LETZTENDLICH rettete der Golfkrieg das Pentagon und den militärisch-industriellen Komplex vor einem umfassenden Demobilisierungsprogramm, das mit dem Verschwinden der Sowjetunion bevorzustehen schien. Indem der Golfkrieg zeigte, „dass militärische Macht in den zwischenstaatlichen Beziehungen immer noch dieselbe Bedeutung hat“, wurde er in den Vereinigten Staaten aber auch als „barscher, wenn nicht entscheidender Schlag gegen die Vision einer multipolaren Welt wahrgenommen“. Die ansatzweise autonom handelnden Konkurrenten Deutschland und Japan zeigten sich während des Kriegs „abhängiger denn je von der Militärmacht der USA“9 .
Unter der Präsidentschaft von Bill Clinton wurde die Strategie der Vorherrschaft vorübergehend auf Eis gelegt. Clinton suchte die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten eher im Rahmen multilateraler Institutionen wahrzunehmen – wo im Übrigen die USA ja ebenfalls den Ton angaben. Seine internationalistische Strategie der ökonomischen Liberalisierung und Globalisierung machte sich durchaus bezahlt, wenn man die erzielten Resultate beurteilt.
Von Harry Truman bis George Bush sen. waren sämtliche Staatschefs der Vereinigten Staaten nach 1945 „Kriegspräsidenten“, um ein Wort des Historikers Ronald Steel aufzugreifen. Clinton hatte die Gelegenheit, diese Tradition zu brechen. Unter seiner Präsidentschaft verschob sich das Gravitationszentrum der Macht ein wenig vom nationalen Sicherheitsapparat zum Finanzministerium und dem neu gegründeten, vom Präsidenten einberufenen Rat für wirtschaftliche Sicherheit. Wirtschaftsführer wie der Investmentbanker und zeitweilige Finanzminister Robert Rubin wurden für die Umsetzung der Außenpolitik herangezogen, als Krisenmanager und als Dirigenten der Globalisierung. Im Übrigen hatte Clinton noch vor seiner Amtseinführung im Jahre 1992 erklärt, die amerikanische Diplomatie werde künftig verstärkt auf die Mittel der wirtschaftlichen Liberalisierung und der Handelspolitik setzen. Diese Strategie konkretisierte sich dann im Freihandelsabkommen mit Mexiko und Kanada 1993, mit der Ratifizierung der WTO-Verträge 1994, der Liberalisierung der ostasiatischen Finanzmärkte und der Einbindungspolitik gegenüber China und Russland.
Dass die Militär- nun durch die Wirtschaftsstrategie abgelöst werden sollte, klang ganz logisch: Die bipolare Konfrontation hatte vierzig Jahre lang eine militärische Mobilisierung gerechtfertigt, also bot ihr Ende die Möglichkeit für einen Prioritätenwechsel. Um von der Öffnung Chinas, dem demokratischen Übergang in Mittelosteuropa und dem kometenhaften Aufstieg der südostasiatischen Schwellenländer profitieren zu können, mussten die USA andere Formen staatlicher Intervention entwickeln. Der nationale Sicherheitsstaat hatte gewissermaßen dem „Globalisierungsstaat“ zu weichen. Mit diesem Prioritätenwechsel, so der Leiter des „Japan Policy Research Institute“ Steve Clemons, stellte Clinton die „Raison d’être des Pentagon und der aus dem Kalten Krieg stammenden nationalen Sicherheitsstruktur in Frage“. Da er eine substanzielle Verminderung der Rüstungsanstrengungen befürwortete, „waren seine Beziehungen zu den Generälen von Anfang an denkbar schlecht“. So ließ er 1993 durch seinen Verteidigungsminister Les Aspin verkünden, dass er zwei Schlüsselelemente der Verteidigungspolitik seiner Vorgänger ad acta zu legen gedenke: die „Base Force“-Doktrin von Colin Powell, das heißt die Fähigkeit, zwei große regionale Kriege gleichzeitig zu führen, und die Strategische Verteidigungsinitiative, die Ronald Reagan auf den Weg gebracht hatte. Die „Ära des Kriegs der Sterne“ sei zu Ende, hatte Aspin damals erklärt.
Doch Clinton konnte seine Vorschläge nicht durchsetzen. Angesichts des erbitterten Widerstands des militärisch-industriellen Komplexes, der ihm von vornherein feindlich gesinnt war, knickte Clinton wenige Monate später ein. Aufgrund politischer wie persönlicher Schwäche endeten seine beiden ersten Kraftproben mit dem Pentagon mit Niederlagen: Sein Vorschlag, die Armee für Homosexuelle zu öffnen, wurde begraben, hingegen die Base-Force-Doktrin fortgeschrieben. „Von diesem Augenblick an“, so Lawrence Korb vom Council for Foreign Relations (CFR), „beschloss Clinton, auf Schmusekurs mit dem Pentagon zu gehen.“ Mit 280 Milliarden Dollar entsprach das Verteidigungsbudget des Jahres 1994 nur 88 Prozent der durchschnittlichen Verteidigungsausgaben während der Periode des „zweiten Kalten Krieges“ 1975-1989.
Dann aber wurde das Budget 1998, unter dem Druck der republikanischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses, um 112 Milliarden Dollar (für den Zeitraum von sechs Jahren) aufgestockt. Seitdem hat sich Clinton zu immer neuen Zugeständnissen bereit gefunden und dem Pentagon so gut wie jeden Wunsch erfüllt. Das hinderte die republikanischen „Militärexperten“ freilich nicht, Clintons Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufs Heftigste zu attackieren. In einer ebenso gehässigen wie heuchlerischen Kampagne warfen sie dem Präsidenten vor, die „nationale Sicherheit“ zu untergraben. Condoleeza Rice zum Beispiel, die inzwischen zur nationalen Sicherheitsberaterin von Präsident Bush avanciert ist, verstieg sich zu der absurden Behauptung, Clinton habe die amerikanischen Streitkräfte in eine Truppe von Sozialarbeitern verwandelt und ihre Einsatzbereitschaft auf das Niveau von 1940 abgesenkt.10 Beunruhigend ist auch die Tatsache, dass die Lewinsky-Affäre – in den Augen von Hillary Clinton eine „rechtsextreme Verschwörung“ – von einer Mitarbeiterin des Pentagon namens Linda Tripp losgetreten wurde.
Während Clinton das Pentagon also nicht im Zaum halten konnte oder wollte, tut George W. Bush alles, um den nationalen Sicherheitsstaat zu rehabilitieren. Im Gegensatz zur Clinton-Administration besetzte Bush sämtliche wichtigen Posten mit Militärs und – zivilen oder militärischen – strategischen Experten. Ob Vizepräsident Dick Cheney, Außenminister Colin Powell, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz oder Vizeaußenminister Richard Armitage, ob James Kelley (Vizeaußenminister für Ostasien und die Pazifikregion), I. Lewis Libby (Cheneys Stabschef und Nationaler Sicherheitsberater) oder John Negroponte (designierter UN-Botschafter): sie und viele andere bekleideten während des Kalten Kriegs und/oder in der Zeit des Golfkriegs und des Zerfalls der Sowjetunion höchste Ämter im Sicherheitsapparat oder in einem der Nachrichtendienste. John Negroponte zum Beispiel war eine der Schlüsselfiguren der „geheimen“ Kriegsführung gegen die Sandinisten in Nicaragua. James Kelley arbeitete im Führungsstab der US-Navy, Richard Armitage im Verteidigungsministerium. Paul Wolfowitz und I. Lewis Libby erarbeiteten unter Präsident Bush sen. die Theorie der Unipolarität. Donald Rumsfeld schließlich leitete den „zweiten Kalten Krieg“ der Jahre 1975-1989, strich das Wort „Entspannung“ aus dem offiziellen Vokabular und rührte in den Achtzigerjahren die Werbetrommel für den „Krieg der Sterne“ und gegen die Sicherheitspolitik der Demokraten.
Kurzum: Die Bush-Administration ist eine Regierung des Kalten Kriegs ohne Kalten Krieg. Ihre Zusammensetzung wie ihre Aktionen stehen für ein Weltbild und für eine Handlungsmaxime: für die Idee, dass allein die Kräfteverhältnisse das Weltsystem strukturieren, und für die Maxime, auf die Maximierung von Reichtum und Macht hinzuarbeiten, wobei beide Kategorien nach einem sehr engen Verständnis von nationalem Interesse definiert sind.
Wie gestern der Irak dient heute die „chinesische Bedrohung“ als Vorwand für die Entwicklung und Aufstellung von High-Tech-Waffensystemen. Mit voraussichtlichen Verteidigungsausgaben von jährlich 320 Milliarden Dollar würden die USA mehr Geld für ihre Sicherheit aufwenden als all ihre potenziellen „Gegner“ zusammen, während die übrigen Haushaltsposten, zumal die Sozialausgaben, ständig weiter schrumpfen. Aber China wäre, selbst wenn es darauf aus wäre, keinesfalls in der Lage, das Kräftegleichgewicht in Ostasien oder gar im globalen Maßstab zu seinen Gunsten zu verändern. Das heißt natürlich nicht, dass ein aggressiver chinesischer Nationalismus die künftige Lage in Asien nicht destabilisieren könnte. Aber darum geht es nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass Bush die Realität, die zu beschreiben er vorgibt, überhaupt erst herbeiredet, wenn er China im Wahlkampf als „strategischen Gegner“ und nach seiner Amtseinführung als „strategischen Konkurrenten“ bezeichnet.
Am 1. Mai 2001 verkündete der Präsident seinen Beschluss, den Bau eines Raketenabwehrsystems beschleunigt voranzutreiben. Eine Woche später kündigte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eine erhebliche Erhöhung der Ausgaben für weltraumgestützte Waffensysteme an, ohne genaue Zahlen zu nennen. Der erdnahe Weltraum werde in den strategischen Planungen der USA künftig einen hohen Stellenwert einnehmen. Dass diese Erklärung wörtlich zu verstehen ist, erhellt aus dem Untersuchungsbericht einer Kommission, die Rumsfeld höchstpersönlich geleitet hat, bevor er zum Verteidigungsminister ernannt wurde. Der am 11. Januar veröffentlichte Rumsfeld-Bericht spricht von einer „wachsenden Gefährdung der Vereinigten Staaten“ durch ein künftiges „Weltraum-Pearl Harbor“ und empfiehlt als Abhilfe, „dem Präsidenten die Option an die Hand zu geben, Waffen im Weltraum zu stationieren, um mögliche Bedrohungen abzuschrecken und die amerikanischen Interessen nötigenfalls gegen Angriffe verteidigen zu können“. Pearl Harbor? Wachsende Gefährung? Was Donald Rumsfeld und Condoleeza Rice hier konstruieren, ist eine verkehrte Welt. Wer sollte derzeit in der Lage sein, die Vereinigten Staaten im Weltraum oder in der Tiefsee herauszufordern? Etwa Russland, das reiche US-Touristen rekrutiert, um seine Weltraumflüge finanzieren zu können? Oder China, das wahrscheinlich noch zwanzig Friedensjahre braucht, um die wirtschaftliche und soziale Lage im Innern zu stabilisieren? Europa? Wer also? Ohne Angst, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, behauptete die Rumsfeld-Kommission, die Bedrohung gehe von „Leuten wie Ussama Bin Laden aus, die eventuell Satellitenkapazitäten erwerben könnten“. Indes hielt es Rumsfeld nicht für angezeigt, diese klägliche Rechtfertigung am 8. Mai erneut aufs Tapet zu bringen. Doch andere Gründe ist er schuldig geblieben – es gibt einfach keine.
Dass hinter diesen Initiativen der Drang nach wissenschaftlich-technologischen Modernisierungsprojekten steht, liegt auf der Hand. Andrew Marshall, der im Pentagon mit der Ausarbeitung der neuen Militärstrategie betraut ist, träumt von Stratosphären-Flugzeugen, gigantischen U-Booten, weltraumgestützten Laserwaffen und neuartigen Distanzwaffen. Das ist natürlich eine wunderbare Botschaft für Unternehmen wie Lockheed, Raytheon und Boeing. Nach Seymour Melman, dem langjährigen Kritiker des militärisch-industriellen Komplexes, zielen diese Bemühungen auf die Aufrechterhaltung der alten globalen Vormachtstellung: „Dahinter steckt eine Arithmetik der Macht.“
Ob der Bush-Administration in den kommenden Jahren genügend Handlungsspielraum bleibt, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen, bleibt abzuwarten. Ihre Popularität beim amerikanischen Wähler verhält sich jedenfalls umgekehrt proportional zu ihrer Arroganz. Ende Mai verloren die Republikaner die Mehrheit im Senat, und bei den Parlamentswahlen 2002 könnte ihnen dasselbe im Repräsentantenhaus passieren. Das aber könnte Bushs Remilitarisierungsprogramm entscheidend bremsen – vorausgesetzt, die Demokraten zeigen Profil. Einstweilen wird sich die Welt jedoch auf den neuen Nationalismus der USA einstellen müssen. Die ersten Reaktion aus Europa und Asien lassen erkennen, dass die Pentagon-Strategie der Vorherrschaft auf wenig Gegenliebe stößt. Auch wenn die Bush-Administration es nicht wahrhaben will: Hegemonialstrategien auf der Grundlage demonstrativer Stärke haben insofern etwas Paradoxes, als sie unweigerlich Gegenkräfte auf den Plan rufen. Und so könnte das Streben nach ungeteilter Vorherrschaft am Ende nur die Entwicklung zu einer multipolaren Welt beschleunigen.
dt. Bodo Schulze
* Journalist und Dozent am Institut für europäische Studien an der Université Paris-VIII.