Kein kurzer Prozess für General Radislav Krstić
Von CAROLINE FETSCHER *
Jeder Mensch hat ein Recht auf Verteidigung, auch ein angeklagter Massenmörder und Kriegsverbrecher. Auch Radislav Krstić, der am 2. Dezember 1998 von Soldaten der SFOR-Truppen festgenommen worden war. Tags darauf saß er im Flugzeug nach Den Haag. Dort findet er sich als Untersuchungshäftling des 1993 gegründeten International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY)1 , zusammen mit 38 anderen Angeklagten. Das Sondergefängnis nahe dem Badeort Scheveningen wurde erst an diesem 29. Juni 2001, als im Schutz der Nacht der Angeklagte Slobodan Milošević mit dem Hubschrauber abgesetzt wurde, in aller Welt zu einem politischen Topos. Doch während es um Milošević laut wurde, blieb es still um den „Srebrenica“-Prozess gegen General Radislav Krstić, den bisher gravierendsten Fall, der vor dem ICTY verhandelt wurde. Vom 26. bis 29. Juni hielten Anklage und Verteidigung ihre Schlussplädoyers.
Auf dem Deckblatt der Anklageschrift IT-98-3332 gegen Krstic steht ein lakonischer Untertitel: „Srebrenica“. Das Wort bedeutet „Silberstadt“. Vor dem Bosnienkrieg lebten hier etwa 9 000 Menschen, zu 70 Prozent Muslime. Im Zentrum der Altstadt stand eine Moschee. Als im April 1992 die jugoslawische Armee und paramilitärische serbische Kämpfer angriffen, konnten sich die Muslime zunächst erfolgreich behaupten. Es fanden auch viele Menschen aus der Umgebung Zuflucht, die Enklave wuchs auf 60 000 Bewohner. Als bosnische Serben mit Panzern und Artillerie vorrückten, erklärte ein französischer UN-General die Enklave Mitte März zum Schutzgebiet unter UNO-Flagge. Eine UN-Resolution erklärte Srebrenica, Žepa und Goražde zu „safe areas“. 1995 war ein niederländisches Bataillon in Srebrenica stationiert. Doch der Schutz der UN versagte. Seitdem steht der Name des Ortes auch für eines der dunkelsten Kapitel der UNO-Geschichte.
Am 6. Juli 1995 begann die bosnisch-serbische Armee ihre „Operation Krivaja“. 15 000 Muslime versuchten zu fliehen. Tausende von ihnen ergaben sich am 11. Juli. Weitere 25 000 bis 35 000 Muslime blieben in Potocari und in den Wäldern der Umgebung, meist Frauen, Kinder und ältere Männer. Am 12. Juli 1995 begann die serbische Armee, unterstützt von paramilitärischen Einheiten, die Muslime der gesamten Region in Bussen und Lastwagen zu deportieren. Das serbische Militär lockte die umherirrenden Flüchtenden aus den Wäldern, indem sie gestohlene UN-Fahrzeuge, UN-Uniformen und Blauhelme einsetzten oder Gefangene zwangen, den anderen zuzurufen, sie sollten herauskommen, es drohe keine Gefahr.
Der logistische Aufwand muss enorm gewesen sein: Tausende versprengter, verängstigter Menschen mussten in Fahrzeuge gezwungen und dann in große Räume eingesperrt werden, um sie schließlich – in Gruppen von fünf oder zehn aufgeteilt – zu erschießen oder sogar zu enthaupten. Alle Orte, an denen diese Verbrechen geschahen, liegen in der Region Srebrenica: der UN-Stützpunkt Potocari, das Warenlager in Kravica, Schulhäuser in Bratunac, eine Wiese bei Tisca, der Grbavci-Schulkomplex bei Orahovac/Lazete, der so genannte Damm in der Nähe von Petkovi, das Čerska-Tal, Schule und Kulturzentrum von Pilica, das Militärgelände von Branjevo, ein abgelegenes Feld bei Kozluk.
Die Anklage konnte nachweisen, dass die Exekutionen von Einheiten des Drina-Corps durchgeführt wurden. Am Abend des 13. Juli, so die Anklage, ging das Kommando des Drina-Corps von Milenko Zivanović auf General Radislav Krstić über. Die Übergabe fand im Hauptquartier der Einheit in Vlasenica statt. Offiziell bestätigt wird der Wechsel durch eine dem Gericht vorliegende Order von Präsident Karadžić vom 14. Juli 1995. Krstić’ Rolle in dem Mordplan wurde laut Anklage auf einer Nachtsitzung im Hotel Fontana in Bratunac beschlossen, wo Krstić mit Mladić gesehen wurde. Das Treffen wird durch Videos, Zeugen und Rechnungen belegt. Krstić selbst sagte unter Eid aus, er sei erst am 20. oder 21. Juli in seiner Position bestätigt worden. Er konnte dafür jedoch keinen Zeugen präsentieren.
Am 12. Juli begannen Soldaten, Paramilitärs und Polizisten, die Flüchtenden in der Region Srebrenica zusammenzutreiben und die Männer von den Frauen zu trennen. Frauen und kleinere Kinder karrten sie an die Grenze des Niemandslandes, wo das von Muslimen gehaltene Gebiet begann, und ließen sie laufen. Einzelne Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt und getötet. Die Männer und männlichen Jugendlichen wurden an Sammelplätzen abgeliefert, in Sporthallen, Schulen, Hangars oder Stadien.
Zwischen dem 12. und dem 20. Juli 1995 wurden 7 500 Menschen systematisch ermordet. Diese Zahl ist eine konservative Schätzung der Ermittler, meint Ankläger Mark Harmond: „Es könnten auch bis zu 2 500 Tote mehr sein.“ An den Sammelplätzen häuften sich Berge von Bündeln, Kleidern, Pässen, Ferienfotos und Reisetaschen, wie Müll. „Das werden die nicht mehr brauchen“, meinte ein bosnischer Serbe vor Ort nach Aussage eines niederländischen UNO-Soldaten.
Die „Operation Krivaja 95“ nahm um den 12. Juli 1995 herum die Form eines Mordplanes an. Und dieser verlangt eine ausgeklügelte Logistik. Bei der Durchführung des Mordplans habe General Radislav Krstić, so die Anklage, als Kommandeur des Drina-Corps eine zentrale Rolle gespielt. Weder er noch General Mladić oder Karadžić haben damit gerechnet, dass ihre Unterschriften Jahre später vergrößert auf den Bildschirmen eines Gerichtssaales im friedlichen Den Haag erscheinen würden.
Laut Anklageschrift soll Krstic vom 11. Juli 1995 bis zum 1. November 1995 in Srebrenica und Umgebung schwerste Kriegsverbrechen begangen haben. Elf Monate nach seinem Haftantritt, am 25. November 1999, plädierte der Angeklagte in allen Anklagepunkten „not guilty“. Nicht schuldig des Genozids und der Mittäterschaft am Genozid, des Massenmordes und des Mordes, der Verfolgung und der Deportation, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Krstić sagte aus, er sei nicht für Srebrenica zuständig gewesen, habe erst Monate später von den Morden erfahren und auch von den Deportationen keine Kenntnis gehabt.
Der Angeklagte ist heute 53 Jahre alt. Vor Gericht wirkt er mit seinem angegrauten Haar und der stets gedrückten Körperhaltung deutlich älter. Achtmal lebenslänglich fordert Ankläger Mark Harmon. Die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Der Prozess gegen Krstić begann am 13. April 2000, knapp fünf Jahre nach den Ereignissen von Srebrenica. Fünfzehn Monate lang war „General Krstić“, wie ihn alle vor Gericht ansprechen, mit den Aussagen Überlebender, mit schriftlichen Dokumenten, mit Fotos und Filmen konfrontiert.
Von den Überlebenden ist bis heute keine einzige Person nach Srebrencia zurückgekehrt. Wie die bosnische Sozialarbeiterin Teufika Ibrahamefendić als Zeugin der Anklage schildert, leben sie als Flüchtlinge meist in elenden Verhältnissen und sind ungewöhnlich stark traumatisiert. Eine der Frauen hat durch das Massaker 56 männliche Angehörige verloren. Teufika Ibrahamefendić hat an der Columbia University eine Ausbildung zur Spezialistin für Kriegstraumata absolviert. Vor dem Tribunal schilderte sie ein „Srebrenica-Syndrom“, das sie bei den Überlebenden ausgemacht hat und das sich erheblich von anderen Kriegstraumata unterscheide. Es mache die Menschen unfähig, sich aus der Vergangenheit zu lösen, solange die Jungen und Männer verschwunden bleiben. Das Tribunal sei für viele die eine große Hoffnung auf Anerkennung ihrer Leiden und auf eine gerechte Strafe für die Täter. Das Urteil des Tribunals unter Vorsitz des portugiesischen Richters Almiro Rodrigues soll bis Anfang August ergehen.
Als „aberwitzig“ empfindet Julia Bogoeva von der Belgrader Nachrichtenagentur Beta die Diskrepanz zwischen dem Medieninteresse an der Auslieferung von Milošević und der geringen Aufmerksamkeit für den Prozess gegen Krstić: „Gerade ihr in Deutschland müsstet euch doch für ein Tribunal interessieren, das seit Nürnberg das erste in Europa ist.“ Bogoeva berichtet seit drei Jahren aus Den Haag. Sie gehört zu den wenigen beim ICTY akkreditierten Journalisten, die in den Presseräumen des Gebäudes am Churchillplein einen Schreibtisch haben.
Unbehelligt vom Medienwahn um Milošević ging der letzte Prozesstag im Fall Kristić seinen ruhigen, fast rituellen Gang. Auch jetzt waren im hochgesicherten Verhandlungssaal des ICTY nur die wenigen vertrauten Pressevertreter anwesend. Verbrecher wie Krstić verdienten keine Verteidigung, bekommen die Anwälte der Angeklagten oft zu hören, sondern „kurzen Prozess“. Doch das ICTY sorgt für lange Prozesse, und es verkündet lange Haftstrafen (sieht man von den bisherigen beiden Freisprüchen ab). Verbüßt werden diese Strafen nicht in Den Haag, sondern in anderen UN-Mitgliedsländern, derzeit in Finnland, Norwegen, Spanien und Deutschland. Vier Angeklagte wurden bereits rechtskräftig verurteilt, fünfzehn befinden sich noch auf freiem Fuß – darunter Ratko Mladić und Radovan Karadžić, in deren Anklageschriften3 ebenfalls der Name Srebrenica auftaucht.
Lang sind die Prozesse, weil die Beweiswege verschlungen sind. „Kriminelle führen im Allgemeinen kein Tagebuch“, bemerkt Ankläger Mark Harmon. Die Beweisführung ist das Zusammenfügen eines großen Mosaiks aus sehr kleinen Steinchen. Dennoch gibt es Worte, Texte, die leitmotivisch auf die Taten verweisen. Im März 1995 hatte Radovan Karadžić, Oberbefehlshaber der Armee der Republika Srpska (VRA) die „Direktive 7“ erteilt. Darin wies er insbesondere das Drina-Corps an, „mittels geplanter und durchdachter Kampfhandlungen eine unerträgliche Lage völliger Unsicherheit und ohne Hoffnung auf Überleben oder Leben bei den Bewohnern von Srebrenica und Žepa herbeizuführen.“ Als „Exhibit 425“ liegt die Direktive den Richtern vor. Karadžić befiehlt darin außerdem, die Eingeschlossenen von der Hilfe der Unprofor-Einheiten abzuschneiden.
„Operation Krivaja 95“ war die unmittelbare Umsetzung dieser Direktive, und Srebrenica lag in der Zuständigkeitszone des Drina-Corps, abgekürzt DCAOR (Drina Corps Area of Responsibility). Aber Mark Harmon muss für die Anklage, für das Office of the Prosecutor (OTP) nachweisen, dass Krstić die Vorgänge persönlich gekannt, gebilligt, unterstützt und sich aktiv an ihnen beteiligt hat.
Das fehlende Tagebuch bleibt eine Leerstelle in der Mitte des Mosaiks – doch das Bild drumherum wird immer schärfer. Es zeigt, neben Mladić, den Angeklagten. Die Anklage musste das ganze komplexe Material ermitteln und analysieren: die Kommandostruktur der serbischen Armee-Einheiten, die Befehle selbst, und zumal den in verschlüsselten Botschaften dokumentierten Plan, die männlichen Muslime durch eine Serie von Massenexekutionen auszulöschen. Sie muss Krstić „individuelle, strafrechtlich relevante Verantwortung“4 für sein Handeln und die Taten seiner Untergebenen nachweisen. Was sie zutage gefördert hat, ist für General Krstić ziemlich niederschmetternd. „Ich weiß nichts von der Ankunft von Bussen“, hatte Krstić dem Anklagevertreter McCloskey geantwortet, „in keiner Weise hatte ich damit zu tun, Busse zu besorgen.“ Mark Harmon hält ihm ein abgehörtes Telefongespräch mit dem für Transportmittel zuständigen Soldaten Krsmanović vor, dem Krstić aufträgt, fünfzig Busse in den Ort Bratunac zu schicken: „Stellen Sie sicher, dass das passiert. Dies ist ein Befehl!“
Mit trockenem Nachdruck weist Harmon die Richter immer wieder darauf hin: „Er hat Sie unter Eid belogen.“ Auch die Behauptung des Angeklagten, er sei an den Tagen der Exekutionen nicht in Potocari gewesen, kann die Anklage widerlegen. Harmon führt ein gefilmtes Interview vor, in dem Krstić einem Journalisten in Potocari erklärt: „Wir garantieren für die Sicherheit dieser Flüchtlinge.“ Im Hintergrund sind die Busse und Lastwagen zu sehen. Zur selben Zeit lagen schon die Tausende von Augenbinden und Handfesseln bereit, die forensische Teams des ICTY später in den Gräbern gefunden haben. Die Fotos dieser Beweismittel wirken eher archäologisch als kriminologisch. Sie erscheinen auch auf dem Bildschirm vor Krstić, der es sich nicht leisten kann, davor die Augen zu verschließen.
Das Gesicht von Krstić zeigt während der Schlussplädoyers abwechselnd Apathie und Angst. Reue, sagt der Ankläger, habe Krstić in diesen Monaten nicht gezeigt. Aber einmal, als im Schlussplädoyer das Video die Zeugenaussage einer Mutter zeigt, die nicht verstehen kann, dass ihr der Mann und beide Söhne entrissen wurden, wird Krstić nervös. Seine Lider zucken. Er scheint flüchten zu wollen.
„Ich kann nicht glauben, dass Menschen solche Dinge tun“, sagt die Frau. „Ich sehe die Hände meines kleinen Sohnes, wie er Erdbeeren pflückt. Und wie er Bücher liest. Am Morgen verdecke ich meine Augen, um nicht die anderen Kinder zu sehen, wie sie zur Schule laufen, und die Ehemänner, wie sie zur Arbeit gehen.“ Sie weint. Der Richter unterbricht und sagt: „Nehmen Sie sich Zeit. Wir sind hier. Wir hören Ihnen zu.“ Sie fängt sich wieder. Und als gebe es für sie immer noch den Glauben an seine Autorität, fleht sie Krstić an: „Ich appelliere an Sie, Herr Krstić, sagen Sie mir, gibt es nicht wenigstens Hoffnung für meinen kleineren Jungen?“ Das lässt niemanden im Saal unberührt, offenkundig auch Krstić nicht.
Viele der Männer und Jungen von Srebrenica werden verschollen bleiben. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass in der Nähe von Zvornik ein weiteres Massengrab mit 250 Toten gefunden wurde. Nie wird das Office of the Prosecutor alle Morde aufdecken und alle Toten identifizieren können. Dafür fehlen auch die Mittel und das Personal. Es wäre in Jahrzehnten nicht zu leisten.
Umso wichtiger sind einzelne Zeugen wie Drazen Erdemović. Das Drina-Corps bestand aus etwa 15 000 Soldaten der Infanteriebrigaden Zvornik, Milici und Bratunac, die von zahlreichen Zeugen an den Tatorten gesehen wurden. Beteiligt waren auch örtliche Polizeiformationen und die 10. Sabotage-Einheit. Der bosnische Kroate Drazen Erdemović von dieser Einheit, im Zivilberuf Schlosser, bekannte sich am 14. Januar 1998 schuldig. Am 22. Mai 2000 sagte er aus, in Branjevo an den Erschießungen von mindestens 1 000 Männern teilgenommen zu haben. Es würden Busse mit Zivilisten aus Srebrenica kommen, hatte ihm ein Kamerad gesagt, die sollten sie erschießen. Als er vor den Männern stand, die ihm den Rücken zukehrten, habe er sich weigern wollen: Er sei „keine Killer-Maschine“. Man habe ihm geantwortet: „Wenn du es nicht tun willst, stell dich zu denen.“ Die Soldaten zwangen sogar alle Busfahrer, wenigstens einmal zu schießen. Alle sollten Mittäter sein.
Der Kronzeuge Erdemović ist heute wieder frei. „Am bewegendsten ist es, wenn sich Angeklagte schuldig bekennen“, sagt der Journalist Mirko Klarin. Der Chefredakteur der jugoslawischen Nachrichtenagentur Sense und Mitarbeiter des Institute for War and Peace Reporting (IWPR) gilt als einer der Initiatoren des ICTY. Klarin hat den Prozess permanent verfolgt: „Fünfmal hintereinander sagte Erdemović, unter Tränen: ,Ich bin schuldig, schuldig . . .` Solche Momente sind nicht nur emotional bedeutsam. Sie sind entscheidend. Niemand kann mehr leugnen, was geschehen ist.“5
Von Paketen, die es zu verschicken gilt
DRAZEN ERDEMOVIĆ’ Aussage war kostbar, weil uncodiert. Vieles hingegen, was die Ankläger vorfanden, mussten sie entschlüsseln. Von „parcels“, Paketen, ist in den abgehörten Telefongesprächen und Funkmeldungen die Rede. „Parcels“, die es zu verschicken gilt. Harmon schließt aus einem Versprecher – „the people, I mean, the parcels . . .“ –, dass damit Menschen, Muslime, gemeint waren. Und wenn in Zeiten der Benzin-Knappheit ein Untergebener ohne Angabe von Gründen 500 Liter Treibstoff bewilligt bekommt, zieht Harmon den Schluss, dass das Benzin für die Busse verwendet wurde, die Verschleppte an die Stätten ihrer Exekution brachten.
Der „Konvoi-Terror“, wie ein holländischer Duchtbat-Zeuge6 es nannte, herrschte in diesem Juli 1995 in der ganzen Region. Über das ungeheuerliche Geschehen konnten bis heute – außer den Planern und Tätern selbst – nur die Anklagevertreter und die Zuhörer des Haager Prozesses einen genauen Überblick gewinnen, jedenfalls einen genaueren als die holländischen Blauhelme, die in Srebrenica dabei waren: „Es gelang der bosnisch-serbischen Armee, den Holländern Augen und Ohren zu stehlen“, erklärt Ankläger Harmon, dem zuweilen der persönliche Abscheu über die Taten anzumerken ist. Bis ins kleinste Glied der Befehlskette hat die Anklage die Mosaiksteinchen auf die Landkarte der Region platziert. Kristić’ Anwälte versuchen, einzelne Steine wieder aus dem Mosaik zu entfernen. Krstić sei nicht an den Tatorten gewesen, als die Morde geschahen, behaupten sie, sondern in seinem Hauptquartier in Žepa. Er habe nichts gesehen, gewusst, getan. Doch gegen Harmons Beweise haben sie es schwer.
Am Ende unternehmen die Verteidiger den verzweifelten Versuch, zumindest die schwerste Anklage zu entkräften: Genozid. Wenn das Gericht schon nicht glaube, dass Krstić ein Unbeteiligter war, dann könne man die Sache doch so sehen: Gewiss seien hier schreckliche Morde im Rahmen eines Kriegsgeschehens geschehen. Aber das Töten waffenfähiger Männer sei nicht Völkermord, also Genozid. Verteidiger Tomislav Visnjić argumentiert, „Genozid“ sei das Vorhaben, die „gesamte Bevölkerung“ einer ethnisch oder religiös definierten Gruppe auszulöschen, „wie in Auschwitz und Ruanda“. Hier, in Srebrenica, seien die Kinder und Frauen in der Mehrheit entkommen. Mark Harmon hält dagegen, dass es um die Zerstörung des „sozialen Gewebes“ der Gruppe ginge, die patriarchal strukturiert ist. Nimmt man einer solchen Gesellschaft die Männer, hat man ihr Rückgrat gebrochen. Gerade Krstić, der in einer muslimischen Nachbarschaft groß wurde, sei das vollkommen bewusst. Harmon verweist auch auf die rassistische Sprache vieler Dokumente, in denen etwa von „Türken“ statt von muslimischen Bosniern die Rede ist.
Harte, polemische Worte seien im Krieg nichts Neues, kontert die Verteidigung. Zum Beweis führen die Anwälte dem Gericht zwei historische Filmausschnitte vor: Eine Rede Churchills gegen Hitler, und ein Äußerung des Nato-Oberbefehlshabers im Kosovokrieg, Wesley Clark, über Milošević. Beide sprechen vom „Eliminieren“ der Gegner. Die Analogie bleibt wenig überzeugend – beide Feldherren erwähnen einen klar benannten, individuellen Feind, nicht eine rassisch definierte Gruppe.
„Die Anklage und wir kämpfen mit ungleichen Waffen“, klagt Verteidiger Visnjić im Gespräch. Zwar seien die prozeduralen Abläufe seit etwa einem Jahr besser geworden. Aber „davor bekamen wir Beweismaterial vom OTP oft nicht rechtzeitig vorgelegt, um uns vorbereiten zu können. Zudem sind wir nur zwei Verteidiger, die Teams der Anklage bestehen aus drei Juristen und zwei Case-Managern.“
Visnjić, ein Mann um die vierzig, arbeitet in einer Belgrader Kanzlei. „Wie kann einer das tun?“, hört man oft. „Wie kann er diesen Massenmörder verteidigen?“ Am ICTY aber werden gute Verteidiger von Richtern wie Anklägern durchaus respektiert und geschätzt. „Es belastet mich nicht, Verteidiger von Krstić zu sein“, erklärt Tomislav Visnjić. Er versuche ja nur, seine Arbeit im Sinne des Mandanten zu leisten, so gut er kann. Von Srebrenica wusste Visnjić „kaum die Hälfte“. Jetzt, fügt er mit leiser Trauer hinzu, „weiß ich mehr, als ich je wissen wollte“.
Aber was aus Menschen Mörder macht, warum und wie das geschieht, darauf habe er keine Antwort gefunden: „Ich weiß nicht, wo der entscheidende Hebel ist, warum manche sagen: Halt, da mache ich nicht mit. Und andere sagen das nicht.“ Aber emotional abgehärteter sei er geworden, mit der Zeit. Wahrscheinlich geht es ihm in dieser Hinsicht wie vielen am ICTY. Und doch gab es einen Zeugen, dessen Bericht er sich nicht entziehen konnte: „Zeuge O. Er war jung. Ein Überlebender des Massakers am Damm.“
Zeuge O gab Auskunft von etwas, das die Täter für immer zu verbergen hofften. Den Gerichtssaal betrat er anonym. Zu Beginn seiner Vernehmung musste er seinen Namen auf einem Blatt Papier identifizieren. „Das ist mein Name“, sagte er. Der Angeklagte und seine Anwälte konnten ihn sehen, aber sie werden dem Mann kaum jemals wieder begegnen. Der Zeuge O, Jahrgang 1978, ging in Srebrenica zur Schule, ehe der Terror einsetzte. Die Fernsehmonitore, die alle Verfahren aufzeichnen und an jedem Platz im Saal installiert sind, zeigten sein Gesicht wie hinter einem Schleier. Vor der Glaswand, die den Zuschauerraum abtrennt, gingen die beigen Sichtblenden nieder.
Gäbe es niemanden wie den Zeugen O, wüsste kein anderer, was an den Tagen am „Damm“ bei Petkovi passierte. Über tausend Männer und Jungen wurden dorthin gekarrt und erschossen. Die Aussage des Zeugen vom 13. April 20007 klingt wie ein Protokoll aus der Hölle. Er berichtet zuerst von der Deportation in einem Lastwagen.
„Wir fielen übereinander. Es herrschte Chaos. [...] Als wir nach Bratunac kamen, jedenfalls denke ich, dass es Bratunac war, weil ich Lichter in Wohnungen sah, hielt der Lastwagen irgendwo im Ort. Die Leute riefen nach Wasser, sie schrien: Gebt uns etwas Wasser! Wir lagen, lehnten dicht aneinander. Mein Körper war taub. Ich fühlte nichts mehr. Als die Leute nach Wasser riefen, schlug jemand, wahrscheinlich einer der Soldaten, aber es war dunkel und ich konnte ihn nicht sehen, von außen an den Lastwagen, wahrscheinlich mit einem Gewehrkolben, und sagte: Was wollt ihr, ihr Balijas?8 Dann verfluchten sie unsere Balija-Mütter und sagten noch andere Sachen. Ich habe nicht auf alles achten können. Wir verbrachten die ganze Nacht im Lastwagen. Ich glaube, ich bin irgendwann eingeschlafen.“
Anderntags wurden die Männer in dem Lastwagen weitergefahren, durch ein Loch in der Stoffplane des Wagens sah Zeuge O nach draußen: „Ich sah (...), dass da Leute waren, Kinder auf Fahrrädern und Frauen. [...] Ich sah einige Menschen in der Drina baden, unter der Brücke. Leute liefen an dem Lastwagen vorüber, und von Zeit zu Zeit verfluchten manche unsere Balija-Mütter. [...] Wir fuhren durch Zvornik und gelangten nach Karakaj. Ich wusste, dass es eine Straße nach Bijeljina und Tuzla gab, und ich nahm an, [...] dass man uns in ein Lager in Bijeljina oder Batković brachte. Denn wenn sie die Leute töten wollten, hätten sie sie nicht transportiert.“
Bald wurde ihnen klar, dass das nicht stimmte. Sie wurden in ein Sammellager in Petkovici gebracht, dort waren sie so durstig, dass sie den eigenen Urin tranken. Das Sammellager war eine Schule. Jeder, der den Bus verließ, wurde mit einem Gewehrkolben geschlagen: „Als wir das Schulgebäude betraten, ging das Schlagen weiter. Wer geschlagen wurde, ging hinein. [...] Es waren ein paar Soldaten dort, aber ich weiß nicht wie viele. Einer von ihnen fragte: Wessen Land ist das hier? Und er antwortete selbst: Das ist serbisches Land. Das war es immer und wird es immer sein. Und er sagte: Sprecht mir nach, Balija“, und wir mussten wiederholen: „Das ist serbisches Land. Das war es immer und wird es immer sein.“
An dieser Stelle unterbricht die Anklage die Befragung des erschöpften Zeugen. Der berichtet später weiter, in der Schule habe es weder Essen noch Wasser, noch Toiletten gegeben, noch genug Luft zum Atmen, und wenn jemand versuchte, ein Fenster zu öffnen, sei er von außen beschossen worden. Der Raum war voller Exkremente. Den Männern und Jungen wurden die Hände auf den Rücken gebunden. Bei Dunkelheit wurden sie abtransportiert, zum Exekutionsort, einem Feld bei Petkovci.
„Wir waren sehr durstig. [...] Einige Leute riefen: Gebt uns Wasser, bevor ihr uns erschießt. Es tat mir sehr leid, dass ich durstig sterben würde, und ich versuchte mich zwischen den anderen zu verstecken, so lange ich konnte, wie alle andern es taten. Ich wollte einfach noch eine oder zwei Sekunden leben. Als ich drankam, sprang ich heraus [aus dem Lastwagen], ich glaube mit vier anderen. Ich fühlte Steine unter meinen Füßen. Es tat weh. [...] Ich sah Reihen von ermordeten Menschen. Es sah aus, als ob sie Reihe um Reihe hingelegt worden wären. (...) Jemand sagte: Legt euch hin. Und als die Ersten hinfielen, begann das Schießen. Ich fiel und weiß nicht, was geschah. Ich dachte nichts. Ich hatte mir nicht vorgenommen, zuerst hinzufallen um zu überleben. Ich dachte nur, das ist das Ende.“
Zeuge O berichtet ruhig und gefasst. Er überlebte wie durch ein Wunder. Bis heute hat er Munitionssplitter im Körper. Einen anderen Überlebenden, der ihm zu entkommen half, will er nicht beim Namen nennen. Er berichtet: „Als sie aufgehört hatten, hörte ich jemanden sagen, alle Toten sollten inspiziert werden. Ich glaube, der Name, der genannt wurde, war Jovo. Es wurde gesagt, dass alle Toten inspiziert werden sollten, und es wurde ihnen gesagt, wenn sie einen warmen Körper finden, sollen sie noch eine Kugel in den Kopf schießen. Und dieser Mann, ich weiß nicht, ob es Jovo war oder ein anderer, der sagte: ‚Ich glaube, all die Motherfuckers sind tot.‘ [...] Ich weiß nicht, wohin die Soldaten gingen, aber sie lachten. Manchmal hörte man einen Schuss. Sie erschossen Menschen. [...] Vielleicht zehn Minuten später oder fünfzehn Minuten später, aber es kam mir eher lang vor, fing ich an, mich ein wenig umzudrehen. Das kann mir etwas Kraft gegeben haben [...] und ich begriff, dass ich vielleicht weggehen könnte. Dass ich vielleicht laufen könnte. Und ich rollte mich über die Toten. Ich tat das viele Male, bis ich einen Mann fand, der noch lebte.“ Mit ihren Zähnen lösten die beiden Überlebenden sich gegenseitig die Fesseln. Sie schleppten sich durch einen Wald, der andere trug den Zeugen O, fand Wasser für ihn. Ohne ihn hätte er nicht überlebt.
Das Transkript der Aussage des Zeugen O umfasst achtzig Seiten. Auf alle Fragen antwortet er im gleichen Duktus. Er räumt stets ein, wo er etwas nicht genau gesehen hat oder sich nicht erinnert, etwa an die Uniformen und die Rangabzeichen der Soldaten. Das Zeugnis des Mannes weist weit über Srebrenica hinaus. Es löscht den Ruf nach Rache, indem es nur ein Entsetzen ohne Echo hervorruft.
Richter Rodrigues bedankte sich bei dem Zeugen mit ungewöhnlichen Worten: „Danke, Zeuge. Sie haben Ihre Aussage beendet. Sie haben noch viele Jahre Leben vor sich . . . Es gibt starke, sehr starke Gründe für Sie, weiterzuleben und das Beste aus Ihrem Leben zu machen, und der Welt, allen Menschen mitzuteilen, dass sich solche Ereignisse nie wiederholen dürfen.“
Das ICTY versteht sich auch als eine ethische Institution, die der Rache vorbeugt.9 Allein schon, dass sie als Zeugen gebraucht werden, gibt den Betroffenen eine reale Existenz und ist ein Schritt zur Versöhnung. Die Journalistin Julija Bogoeva war immer wieder beeindruckt von der Würde der Zeugen. „Selten sind sie bitter, und meistens sehr gefasst.“
Als „Zeuge O“ am Ende seiner Aussage von Richter Rodrigues gefragt wurde, ob es noch etwas hinzufügen möchte, sagte er: „Nach allem, was ich hier gesagt habe und was ich gesehen habe, konnte ich zu dem Schluss kommen, dass es extrem gut organisiert war. Es war systematisches Morden. Und die das organisiert haben, verdienen nicht, in Freiheit zu leben. Und wenn ich das Recht und den Mut hätte, im Namen der Unschuldigen und der Opfer zu sprechen, würde ich den Tätern verzeihen, die die Exekutionen ausführten, denn sie waren in die Irre geleitet.“10
* Freie Publizistin, Berlin.