13.07.2001

Spur der Steine

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Spur der Steine

Von STÉPHANE BEAUD und MICHEL PIALOUX *

MONTBELIARD, 12. Juli 2000: Im südlichen Stadtteil „Petite Hollande“, eine jener „Zonen prioritärer Stadtentwicklung“ (ZUP), die als „soziale Brennpunkte“ in der Presse immer wieder von sich reden machen, herrscht Aufruhr. Ungefähr dreihundert Jugendliche aus dem Viertel, die meisten maghrebinischer Abstammung, stellen sich mit Gewalt den Bereitschaftspolizisten der CRS (Compagnie républicaine de sécurité) und anderen Polizeibeamten entgegen, als diese einen jungen Mann namens Momo festnehmen wollen, der in der Woche zuvor mehrere Banken überfallen hat. Der als Schwerverbrecher einschlägig bekannte Fünfundzwanzigjährige, der schon einige Jahren aus dem Viertel verschwunden ist, ist bewaffnet und täuscht eine Geiselnahme vor. Um ihn zu verhaften, hat die Polizei zur Verstärkung aus Straßburg ein Einsatzkommando der GIPN (Groupe d’intervention de la police nationale) angefordert. Das Viertel ist abgeriegelt, niemand kann hinein. Jede Viertelstunde berichtet der lokale Radiosender über die Entwicklung der Ereignisse.

Der massive Polizeieinsatz, der sich länger als vorgesehen hinzieht, sorgt für Aufregung unter den jugendlichen Bewohnern des Viertels, langsam steigt die Spannung, und die verrücktesten Gerüchte machen die Runde. Die Handys laufen auf Hochtouren, denn die Jugendlichen aus der ZUP, die im Peugeot-Zweigwerk von Sochaux (nahe Montbéliard) und in mittelständischen Betrieben der Region arbeiten, werden ständig über die Entwicklung der Situation auf dem Laufenden gehalten. Manche Bewohner des Stadtteils versuchen, die Jugendlichen zu beruhigen. Von Zeit zu Zeit feuert Momo – inzwischen angetrunken – kurze Maschinengewehrsalven in die Luft, worauf die Jugendlichen ihm zurufen, er solle „mehr schießen“. „Er ist einer von uns, er ist unser Kumpel, wegen ihm sind wir da. Wir haben die Schnauze voll von den Bullen, von den Kontrollen, von allem hier“, so die Worte eines Jugendlichen.

Schließlich gibt Momo auf. Bei der Festnahme bombardieren einige besonders aufgebrachte Jugendliche aus Wut über die Niederlage ihres „Eintagshelden“ und über den Sieg der Ordnungskräfte die Polizisten, die den jungen Bankräuber abführen, mit Flaschen, Steinen und anderen Wurfgeschossen. Ein Polizist wird dabei durch Glassplitter am Knie verletzt. Im Lauf des Abends und bis in die späte Nacht hinein provozieren Gruppen von Jugendlichen, darunter auch Zehn- bis Vierzehnjährige, angeführt von etwa dreißig „Rädelsführern“, Prügeleien mit den Bereitschaftspolizisten und attackieren Einrichtungen, die für sie symbolischen Charakter haben: Justizgebäude, Sparkasse, einige Läden des Einkaufszentrums. Unbeeindruckt von Aufrufen zur Ruhe setzen sie ihr Zerstörungswerk fort, wobei sie in kleinen, äußerst beweglichen und schlagkräftigen Gruppen vorgehen.

Mehrere Polizisten und Feuerwehrleute werden verletzt, zwei CRS-Kompanien müssen intervenieren, zahlreiche Gebäude gehen in Flammen auf, Geschäfte werden geplündert. Das Collège und die Grundschulen bleiben hingegen verschont.

Am nächsten Morgen steht das ganze Viertel unter dem Schock dieser Ereignisse, die tagelang die Titelseiten der beiden Lokalzeitungen beherrschen werden. Die Bewohner der Siedlung überzeugen sich von den Schäden, auch der Bürgermeister, der dem neogaullistischen RPR (Rassemblement pour la République) angehört, sowie der wichtigste Vertreter der Opposition (PS, Parti Socialiste) sind vor Ort und sammeln die Beschwerden der Anwohner; beide fordern exemplarische Sanktionen. In erregten Gesprächen schimpft man auf die „petits immigrés“, die Kinder der Einwanderer, und in den Briefkästen findet sich ein Flugblatt des rechtsextremen Mouvement National Républicain (MNR). Eine Demonstration, die von Mitgliedern lokaler Vereine zur Ehrenrettung des Viertels organisiert wird, findet wenig Zuspruch. Die Mehrheit der Jugendlichen schaut dem Demonstrationszug nur aus der Ferne zu, sie wollen sich nicht auf die Seite der moralisierenden Besserwisser schlagen.

Ausführungen über diese Art städtischer Gewalt beginnen für gewöhnlich damit, dass die Beteiligten als „Aufwiegler“, „Randalierer“ oder „Ganoven“ bezeichnet werden, die man allesamt einsperren müsse. Dann ist die Rede von Grüppchen, die es zu isolieren gelte, um die Ruhe wiederherzustellen. Dieses Ordnungsdenken verstellt jedoch den Blick auf die Entstehungsgeschichte jener Gruppen und Verhaltensweisen, die den gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen. Die Jugendlichen werden einfach in zwei gegensätzliche Gruppen eingeteilt: hier der harte Kern junger Gewalttäter, unbelehrbar und nicht zu retten, dort die jungen Leute, die man vor der Ansteckung durch die anderen schützen müsse.

Und doch kann auch ein angeblich „unproblematischer“ Jugendlicher ein Potenzial an Gewalt und Bereitschaft zur Revolte in sich tragen. Der Misserfolg der Demonstration zwei Tage nach der Revolte zeigt, dass viele sich nicht an der sich bereits ankündigenden Hetze gegen die Jugendlichen beteiligen wollten. In ihren Augen war es zu billig, sich lauthals über die Jugend zu entrüsten und dabei über die anderen Probleme des Viertels zu schweigen – etwa den Verfall der Wohnblocks, die allgegenwärtige polizeiliche Überwachung, die ständigen Ausweiskontrollen, die vorzugsweise Leute mit fremdländischem Aussehen betreffen und oft von Handgreiflichkeiten begleitet sind.

Es geht hier nicht darum, für das Verhalten dieser jungen Leute „soziologische Entschuldigungen“ zu finden, wie es der französische Premierminister Lionel Jospin besonders unglücklich formuliert hat. Vielmehr soll versucht werden, die soziale Entstehungsgeschichte dieser Verhaltensweisen nachzuvollziehen und das Einzelereignis einer städtischen Revolte in den größeren Zusammenhang der Krise zu stellen, unter der die Arbeiterschaft und im weiteren Sinne die ärmeren Bevölkerungsschichten seit zwanzig Jahren leiden. Warum bricht dieser Aufruhr gerade in einer Periode deutlicher Erholung des Arbeitsmarktes aus? Und warum gerade in diesem Stadtteil von Montbéliard, der keineswegs zu den sozial schwächsten Siedlungen der Region gehört? Wie lässt es sich erklären, dass sich so viele junge Leute mit diesem „Bankräuber“ solidarisieren?

Die „städtische Revolte“ von Montbéliard fällt tatsächlich in eine Periode kräftigen wirtschaftlichen Aufschwungs: Zwischen 1999 und 2000 sinkt die Arbeitslosenrate von zehn auf sieben Prozent, die Nachfrage nach Arbeitskräften steigt explosionsartig, Peugeot muss Aushilfskräfte aus Nord- und Zentralfrankreich anwerben. „Heute nehmen sie jeden“, hört man innerhalb und außerhalb der Firma. Doch im Stadtteil Petite Hollande hat der rapide Konjunkturaufschwung nicht automatisch einen Rückgang der Kriminalität bewirkt. Die Gegenwart trägt noch die Lasten einer von der Krise geprägten Vergangenheit, denn Verhaltensweisen und Vorstellungen ändern sich nicht von heute auf morgen.

Vom Beginn der Achtzigerjahre bis 1996/97 waren gerade Jugendliche aus „Problemvierteln“ – ohne Schulabschluss oder beruflich gering qualifiziert – besonders von der Massenarbeitslosigkeit betroffen. (Die Arbeitslosenrate in der Region stieg zeitweise auf 30 oder gar 40 Prozent). Jahrelang beschränkte sich ihr Horizont auf die „mission locale“ (Anlaufstelle für Jugendliche zur sozialen und beruflichen Eingliederung), auf Berufspraktika und kleine Aushilfsjobs. Konnte ein Jugendlicher nicht mehr im Schulsystem gehalten werden, weil man ihn als „zu alt“ oder als „nicht schulfähig“ einstufte oder weil er aus irgendeinem Grund vom Schulbesuch ausgeschlossen wurde, so lautete das Urteil der Lehrerkonferenz unwiderruflich: „Vie active“ – Berufsleben. In vielen Fällen aber war dieses Diktum fast gleichbedeutend mit einer Verurteilung zum sozialen Tod. „Man sagt zwar vie active“, so eine Schülerin mit Berufsschulabschluss, „aber in Wirklichkeit bedeutet das Arbeitslosigkeit.“

Seit Mitte der Neunzigerjahre stellten die Zulieferbetriebe der Autoindustrie, die sich im Industriegebiet Technoland von Etupes (nahe Montbéliard) niedergelassen hatten, in größeren Schüben technische Hilfskräfte ein, die zum Mindestlohn bezahlt wurden und sehr harte Arbeitsbedingungen akzeptieren mussten. Die Auswahlkriterien bei der Einstellung waren unerbittlich, denn auf eine offene Stelle kamen 40 bis 50 Bewerbungen von jungen Leuten. Abgewiesen wurden natürlich die am wenigsten qualifizierten, am wenigsten sozialisierten und all jene, die als „unverwendbar“ eingestuft wurden. Dazu gehörten insbesondere die so genannten jeunes des quartiers, die Jugendlichen aus Einwandererfamilien, die man schon an ihrer sozialen Uniform erkannte: Schirmmütze, Markenkleidung, abrasierte oder sehr kurz geschnittene Haare, eine bestimmte Ausdrucksweise, die für die – „Cités“ genannten – Vorstädte charakteristisch ist. Immer wenn es um Einstellungen geht, spüren diese Jugendlichen besonders deutlich, dass sie Opfer einer diffusen gesellschaftlichen Ächtung sind, manchmal wird die Diskriminierung von Bewerbern maghrebinischer Abstammung auch ganz offenkundig.

An der Seite der älteren Brüder

IN all den Jahren der Krise hingen die Jugendlichen, die durch kleine Gelegenheitsjobs nicht ausgelastet waren und sich tödlich langweilten, untätig in den Vierteln herum. Diese soziale Erfahrung ließ, in Familien und unter den Freunden, die in ähnlicher Lage waren, ein Gefühl der Nutzlosigkeit entstehen und ein dumpfes Aufbegehren gegen die öffentliche Ordnung, gegen alles, wofür die Institutionen standen. Die Zukunft erschien düster und ohne Perspektiven. Viele junge Männer aus Einwandererfamilien mussten mit ihren Eltern zusammenleben und mit der Familie zurechtkommen – den Vätern gefiel die Dauerarbeitslosigkeit der Söhne überhaupt nicht.1 Die Erfahrung der Arbeitslosigkeit übertrug sich von den älteren auf die jüngeren Brüder, nicht einmal ein höherer Schulabschluss bewahrte damals vor der Arbeitslosigkeit. Diese dunklen Jahre, in denen es zahlreiche Selbstmorde in den quartiers gab, waren geprägt von einer Hoffnungslosigkeit, die vor allem die Kinder der Einwandererfamilien erfasste. Die „Randalierer“ von heute sind an der Seite ihrer älteren Brüder aufgewachsen und haben erlebt, wie diese zu Opfern der Krise wurden – viele machten ihre persönliche „Katastrophe“ durch verschiedene Formen selbstzerstörerischen Verhaltens offenkundig.

„Für uns ist hier kein Platz“: diese Grundstimmung vieler Jugendlicher aus Einwandererfamilien hat eine Bitterkeit genährt, die immer wieder und bis zum Überdruss zum Ausdruck gebracht wird.2 Lehrer, die an den Grundschulen und Collèges der so genannten Zones d’éducation prioritaires (ZEP, Gebiete mit vorrangigem Erziehungsbedarf) unterrichten, haben häufig darauf hingewiesen, dass sie in den Neunzigerjahre eine Art Wende erlebten: Seit damals sank der Anteil an Schülern, denen noch etwas am schulischen Erfolg lag – das Gefühl „Wozu das Ganze?“ machte sich breit. Diese Jahre haben eine ganze Generation von Jugendlichen hervorgebracht, die eine ungeheure Wut in sich tragen.

Die „Vollbeschäftigung“, von der seit vergangenem Jahr die Rede ist, hat wenig zu tun mit der Vollbeschäftigung der Trente glorieuses, jener nahezu dreißig „glorreichen“ Jahre wirtschaftlichen Aufschwungs vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis etwa 1974. Heute manifestiert sich der Aufschwung vor allem in einer enormen Zunahme der Zeitarbeitsverträge. Bei Peugeot in Sochaux zum Beispiel kamen im April dieses Jahres 4 700 Arbeiter mit Zeitvertrag auf 18 000 fest Angestellte. In der Region schließen die Firmen zunehmend mehrere befristete Arbeitsverträge hintereinander ab und kumulieren diese bis zur gesetzlich erlaubten Dauer von 18 Monaten, bevor sie eine Entscheidung für oder gegen eine Einstellung treffen. Im Betrieb werden die Zeitarbeiter als Reservekräfte betrachtet, die von den Vorarbeitern vorzugsweise für besonders harte Arbeiten eingesetzt werden, die von den älteren Arbeitern nur mehr schlecht geleistet werden können. Man lässt gewissermaßen die Alten, die der Frühverrentung entkommen sind, ihr Arbeitsleben auf weniger exponierten Posten beenden, während die Arbeitskraft der Jungen, die sich – durch den Hinweis auf eine mögliche spätere Festanstellung – für einen Zeitvertrag ködern ließen, schonungslos ausgebeutet wird.

Man stiehlt uns die Zeit

IMMER wieder kommt es vor, dass ein junger Zeitarbeiter, der sich – in der Hoffnung auf eine Anstellung – monatelang um vorbildliches Verhalten bemüht hat, einen Tag vor Ablauf des Vertrages erfährt, dass er nicht weiter beschäftigt werden kann.3 So beginnt er wieder von vorne, legt seine Bewerbungsunterlagen bei den Zeitarbeitsagenturen vor und hofft auf einen weiteren Vertrag für 18 Monate. Das Gefühl, hereingelegt worden zu sein, erzeugt bei manchen Wut und die Bereitschaft zur Revolte; die Atmosphäre zwischen den jugendlichen Bewerbern und den Angestellten der Agenturen wird immer angespannter. „Man stiehlt uns die Zeit“, beklagen sich manche, und Ahmed, ein 19-jähriger Zeitarbeiter, der das BEP (brevet d’études professionnelles, Berufsschulzeugnis nach zweijährigem Besuch der Berufsschule) für die verarbeitende Industrie hat, nimmt die Zeitarbeitsfirma Manpower aufs Korn, wenn er sagt: „Wir nennen die nicht Manpower, sondern Manvoleurs“, was so viel wie „Menschendiebe“ bedeutet.

Nach Aussage eines Polizeiexperten gibt es im Großraum Montbéliard eine „flottierende Bevölkerung“ – es klingt wie ein Marx-Zitat – von etwa 10 000 ehemaligen Zeitarbeitern. Nicht wenige von ihnen haben – oft in einer plötzlichen Anwandlung – den Betrieb bereits nach ein paar Arbeitstagen verlassen. Manche leben mit anderen zusammen in einer Mietwohnung, andere sind in Arbeiterheimen untergebracht, wieder andere mussten sich notdürftig behelfen, in ihren Autos schlafen, leer stehende Wohnungen besetzen.

Diese jungen Leute werden von den anderen als Belastung empfunden, man beschuldigt sie, „Dummheiten zu machen“: Gibt es Diebstähle in Umkleideräumen einer Fabrik, werden diese oft automatisch diesen jungen Einwandererkindern zur Last gelegt. Ihre prekäre Lage ist der verschärfte Ausdruck eines Statusverlusts der Arbeiterschaft in der französischen Gesellschaft, sie selbst sehen sich als Opfer einer Politik der Diskriminierung innerhalb der Arbeitswelt. Mag die soziale Barriere – durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit – auch um eine Stufe niedriger liegen als zuvor, so ist sie doch nicht verschwunden, sondern hat sich nur ins Innere des Betriebes verlagert.

Einerseits kann man wohl von einer Öffnung der Betriebe sprechen oder, in der Diktion der Zeitarbeitsagenturen, von der „Chance, die den jungen Leuten geboten wird“, sich in der Produktion zu bewähren. Andererseits führen die Vertragsunsicherheiten und die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen dazu, dass diese Öffnung nicht unmittelbar eine andere Stimmung unter den Jugendlichen bewirkt. In manchen Fällen wird die Wut durch diese Arbeitserfahrungen sogar noch vergrößert und hält die jungen Leute davon ab, den Übergang in ein geordnetes Arbeitsleben an der Seite altgedienter, angepasster Arbeiter überhaupt anzustreben.

Am Tag der Revolte in Montbéliard beteiligten sich auch einige der jungen Zeitarbeiter an den Zerstörungen, als hätten sie einer seit langer Zeit aufgestauten Wut freien Lauf lassen wollen. Gerade jetzt, wo die Spannung auf dem Arbeitsmarkt nachlässt und der Würgegriff der Arbeitslosigkeit sich lockert, beginnen viele den Hass hinauszuschreien, den sie jahrelang in sich hineingefressen haben.

Die ZUP von Montbéliard entspricht bei weitem nicht dem Bild einer grauen, tristen, heruntergekommenen Schlafstadt. Man könnte sie sogar als positives Beispiel darstellen, zumal ihre Bevölkerungsstruktur, mit einem Einwanderer-Anteil von rund dreißig Prozent, als relativ ausgewogen anzusehen ist. Petite Hollande unterscheidet sich also deutlich von den schwarzen Ghettos in den USA. Bis Ende der Achtzigerjahre gab es in dem Viertel keinerlei besondere Probleme, sodass sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf andere Sozialsiedlungen der Region konzentrierte, wo der Bevölkerungsanteil an Einwanderern weitaus höher lag und die Kriminalität grassierte.

Die „städtische Revolte“ aber – als Ausdruck eines diffusen und dennoch deutlich wahrnehmbaren Unbehagens, das zugenommen hatte – machte die schleichende Verschlechterung der sozialen Beziehungen in der ZUP von Montbéliard mit einem Schlag offenbar. Wenn man die Rubrik der vermischten Nachrichten in der Lokalpresse verfolgt, so stößt man auf viele Zwischenfälle, die dem negativen Gerede über das Viertel Nahrung geben: Immer öfter werden Autos in Brand gesetzt (hier hatte wohl das Beispiel jener Silvesternacht in Straßburg Schule gemacht, als etwa sechzig Autos in Flammen aufgingen), Busse, die in andere, „feindliche“ Viertel fahren, werden mit Steinen beworfen, die Prügeleien zwischen den Banden werden häufiger und die Kleinkriminalität nimmt zu.

Mit dem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit ist der Stadtteil nach und nach zur Problemsiedlung der Region geworden. Schwierige Familien, „des familles lourdes“, wie es in der Sprache der französischen Sozialarbeiter heißt – zogen zu. Da es keine wohnungspolitischen Konzepte der „sozialen Mischung“ gab, nahm die Ghettoisierung zu: Der Anteil an Einwandererfamilien und „Sozialfällen“ stieg, was die so genannten ehrbaren Familien dazu veranlasste, aus dem Viertel wegzuziehen. Das „bizness“ – der Drogenhandel – florierte, die Zwischenfälle mehrten sich, Angst machte sich unter den alteingesessenen Bewohnern der Wohnblocks breit und setzte einen Mechanismus unheilvoller Wechselwirkungen in Gang: Die Angst der Alten wurde mit weiteren Provokationen der Jungen beantwortet, Erstere verlangten mehr Sicherheit durch die Polizei, Letztere protestierten gegen die Polizeieinsätze, usw.

Die Jugendlichen, die sich in großen Gruppen zusammenfinden und so den Eingang der Wohnhäuser blockieren, sind nicht eigentlich bedrohlich. Aber ihre ständige Gegenwart „da draußen“ und ihr Auftreten in Gruppen verbreiten eine Atmosphäre, in der das vorgefasste Misstrauen der anderen Hausbewohner mit einer dumpfen Feindseligkeit der Jugendlichen gegen die sie umgebende Welt aufeinander treffen. Ob sie sich in der Fußgängerzone von Montbéliard bewegen oder zwischen den Wohnblocks ihrer Siedlung: überall spürt man bei ihnen das fieberhafte Bestreben, durch Lautstärke und auffallendes Benehmen Raum einzunehmen, als müssten sie öffentlich zeigen, dass sie Recht auf einen Platz haben. Dieses übertrieben „raumgreifende“ Verhalten ist eine Kompensation ihres sozialen Minderwertigkeitsgefühls.

Die Jugendbetreuer des Viertels hatten zunehmend Schwierigkeiten, jene Jugendlichen bei der Stange zu halten. Immer wieder verglichen die jungen Leute die Gelder, die ins Stadtzentrum investiert wurden, mit den mangelhaften Einrichtungen in der ZUP, und die Nachricht, dass das Polizeikommissariat um einen Anbau erweitert werden sollte, empfanden sie nachgerade als Provokation.

Mittlerweile hat die Polizei das Viertel stärker in den Griff genommen. Da es beschlossene Sache ist, dass die ZUP nicht zu einer „rechtsfreien Zone“ verkommen darf, wurden die Patrouillen verstärkt. Doch jede Ausweiskontrolle, die nicht glatt abläuft, jeder Übergriff bei einer Festnahme führt zu einem plötzlichen Anstieg der Spannungen. Im Februar 2001, einen Monat vor den Kommunalwahlen, brennen in einem ruhigen Teil der Siedlung zwölf Autos; vier Busse der Bereitschaftspolizei stehen zwei Tage lang in der Nähe des Einkaufszentrums, was die Wut der jungen Leute am Kochen hält; die Polizeikontrollen werden häufiger. Die Jugendlichen reagieren darauf, indem sie einen Kleinkrieg gegen die Polizisten führen, ihnen den Stinkefinger zeigen, die Beamten angreifen, die als Vermittler eingesetzt wurden.

Die Heftigkeit der städtischen Revolte drückt den oft selbstzerstörerischen Hass von Jugendlichen aus, die einer bestimmten soziokulturellen Gruppe angehören: Es handelt sich meist um Kinder von Einwanderern, die entweder sehr früh ihre schulische Laufbahn abbrechen mussten oder in die „dreckigen“, d. h. besonders schlecht angesehenen Berufsschulen (Lycées d’enseignement professionnels, LEP) der Region geschickt wurden, und die das Gefühl haben, ihrem Schicksal als „loser“ nicht entgehen zu können. Diese jungen Leute, die mit der Institution Schule nur negative Erfahrungen gemacht haben, die keinen Halt mehr in der Familie finden oder mit der Familie gebrochen haben, sind oft frühzeitig verhärtet durch die Prüfungen des Lebens – häufig kommen sie aus sehr armen Familien oder sind nur mit einem Elternteil aufgewachsen – und rebellieren seit der Grundschule gegen die meisten Formen institutioneller Autorität. Sie können den Institutionen kaum eine Legitimität zugestehen. Ihr Hass hat seine Wurzeln sowohl in der gesellschaftlichen Ordnung als auch in der Struktur des Viertels, in der Familie, in der Geschichte.

Die Geschichte der Väter darf in der Tat nicht unerwähnt bleiben. Zwischen 1960 und 1970 hatte Peugeot sie aus den ländlichen Regionen Marokkos oder der Türkei geholt. Damals waren sie junge Leute auf der Höhe ihrer körperlichen Kraft, viele unter ihnen Analphabeten. Die Kinder wissen, dass ihre Eltern sich immer auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Leiter befanden. Ob in der Fabrik oder außerhalb, ob in den Sozialbausiedlungen, wo sie in den schäbigsten Wohnblocks mit vielen ihresgleichen untergebracht wurden, oder im gesellschaftlichen Leben: überall wurden die Einwanderer behandelt wie rechtlose Wesen, wie Figuren, die auf dem Spielfeld politischer Manipulation hin- und hergeschoben wurden.

Die soziale Ehre der Eltern wiederherstellen

WAS sich in den Gesprächen mit den Kindern sofort zeigt, ist deren Weigerung, das Lebensmuster ihrer Eltern zu wiederholen, dieser in höchstem Maß ausgebeuteten, von der Gesellschaft übel behandelten Menschen, die hier und anderswo (in der arabischen Welt und weltweit) immer zu den Beherrschten gehören und sich immer in ihr Schicksal ergeben, ohne sich zu wehren. Den Jugendlichen graut es vor der Perspektive eines solchen Lebens, und ihre Revolte entspringt auch der Absicht, auf die eine oder andere Art Rache zu nehmen, die soziale Ehre ihrer Eltern wiederherzustellen, die allzu lange von den „Weißen“ – wie manche die Franzosen nennen – mit Füßen getreten wurde.

Beispielhaft für die Ablehnung eines solchen Arbeiterlebens ist der Fall des Schülers Malik, von dem ein Berufsschullehrer berichtet: „Malik war ein guter Schüler. In der Vierten hatte er in Mathe im Schnitt 164 , in Französisch ebenso. In der dritten Klasse waren die Ergebnisse ähnlich. Dann starb sein Vater. Er kommt in die nächste Jahrgangsstufe und damit ins Gymnasium, wo bei ihm die Sicherungen durchbrennen. Er setzt Autos in Brand und wird infolgedessen natürlich eingelocht. Danach wird er in allen Schulen der Gegend abgewiesen. Schließlich landet er bei uns. Hier verhielt er sich einwandfrei. Warum also gab es seinetwegen eine Disziplinarkonferenz? Er hatte sich geweigert, in die Werkstatt zu gehen! Er dachte wohl: Nur ja nicht die Laufbahn eines steuer- und beitragspflichtigen Arbeiters einschlagen! Es war uns nicht möglich, ihn unter diesen Umständen bei uns zu behalten.“

Manche Jugendliche aus Einwandererfamilien sind wie besessen davon, ihre soziale Ehre bis ins Letzte zu verteidigen, was dazu führen kann, dass sie bei der Arbeit im Betrieb nicht den geringsten Tadel vonseiten ihrer Chefs vertragen können. Ihre Wahrnehmungsstrukturen sind geprägt von der ganzen Geschichte sozialer Beziehungen im Kontext der Immigration, von dem „Hass“, den die heftigsten unter ihnen dem „Gastland“ und seinen Institutionen entgegenzubringen entschlossen sind. Die kleinste negative Bemerkung über sie wird als „rassistisch“ kritisiert. Manche von ihnen sind derart verletzlich, dass der Umgang mit ihnen fast unmöglich wird; ihre krankhafte Empfindlichkeit macht ihre Gesprächspartner bisweilen völlig ratlos. Sie empfinden das „Opfer“ ihrer Eltern als derart schmerzhaft, dass in ihren Augen die Schuld des französischen Staates und der Franzosen durch nichts wieder gutzumachen ist.

Dank des wirtschaftlichen Aufschwungs gelingt es derzeit manchen dieser Jugendlichen, sich beruflich und sozial zu stabilisieren, doch paradoxerweise intensivieren sich derzeit die Mechanismen der Ablehnung. Mit bissigen Bemerkungen reagieren viele auf den Konsum, den sich manche der jungen Cité-Bewohner nunmehr leisten können – den sie im Übrigen oft so auffällig zur Schau stellen, als wollten sie sich für all die Jahre des Elends revanchieren. Die Jungen, die sich in ihrem Viertel am Steuer starker deutscher Autos (BMW, Mercedes) produzieren, werden beschuldigt, Dealer zu sein, denn – so sagen die Leute – „mit einem Arbeitergehalt kann man sich solche Schlitten nicht leisten“. Die Jungen verteidigen sich: Diese Autos, die in Deutschland nicht die Kontrolle durch den TÜV bestehen würden, seien in Freiburger Kfz-Werkstätten aufgekauft, dann hergerichtet und schließlich auf den französischen Markt gebracht worden. Die tägliche Parade solcher Fahrzeuge, die oft tatsächlich nicht mehr als 40 000 Francs gekostet haben, verschärft dennoch die aggressive Stimmung gegen die „petits immigrés“.

Ein Teil der Bevölkerung in der Region zeigt offen ihre Feindseligkeit gegen alles, was maghrebinisch aussieht. In manchen Kneipen des Stadtzentrums und in diversen Nachtclubs wird „jungen Arabern“ der Eintritt verwehrt, während sie in den Lokalen der nahe gelegenen Schweiz Einlass finden. Gerade jetzt, da wieder mehr Jugendliche Beschäftigung haben, machen die Jugendlichen täglich die Erfahrung des Ausgeschlossenseins, der Ablehnung, was vor allem in den Reihen der Polizei zu beobachten ist, obwohl Hilfspolizisten auch unter den Jugendlichen aus Einwandererfamilien rekrutiert wurden. Als „Araber“ abgelehnt zu werden erscheint den Betroffenen umso unerträglicher, als viele von ihnen sich schon seit einiger Zeit am Arbeitsplatz bewähren.

Die „Einwandererfrage“ hat die Kommunalwahlen von 2001 stark mitgeprägt. In Montbéliard erreichte eine Liste des rechtsextremen MNR (Mouvement National Républicain), die von einem 22-jährigen Kandidaten angeführt wurde und sich vor allem aus Arbeitern und Angestellten zusammensetzte, beim ersten Durchgang zwölf Prozent der Stimmen. Manche Wähler bekundeten zwar ihre Sympathie für den Kandidaten der trotzkistischen „Lutte Ouvrière“ (LO), zeigten aber auch deutlich ihr Misstrauen, weil dieser sich mehrere Male zugunsten der Einwanderer geäußert hatte.5 Wider Erwarten musste auch ein Bürgermeister aus der Region, der der „Bürgerbewegung“ (MDC) angehört, in seiner Stadt eine Niederlage hinnehmen: Man warf ihm vor, er sei ein „Kandidat der Araber“, er habe dem Bau einer „prächtigen“ Moschee zugestimmt, den „Einwandererkindern“ auf seiner Liste zu viel Platz eingeräumt und die alteingesessenen Bürger im Stich gelassen. Die Tatsache, dass die extreme Rechte weiterhin Stimmen zulegt und Schaden anrichten kann, zeigt, dass die Einwandererfrage keineswegs geregelt ist.

Ganz besonders in den so genannten sensiblen Vierteln, dort, wo die Lebensqualität offensichtlich alles andere als gut ist, wird eines deutlich: Das traditionelle, einst kohärente soziopolitische System, das auf der Kultur einer politisierten Arbeiterschaft beruhte und sowohl in den Fabriken wie in den Arbeitervierteln fest verankert war, ist im Verschwinden begriffen, was nicht zuletzt an den verschiedenen Auswirkungen der Krise liegt: Verarmung, wachsender Druck bei der Arbeit, Flucht der am wenigsten von der Krise betroffenen Arbeiter in die Einfamilienhäuser der besseren Wohnviertel. Im Augenblick scheint nichts diese verloren gegangene Kultur ersetzen zu können. Sollte man nicht, statt sich in eine kostspielige „Sicherheitspolitik“ zu stürzen, deren Erfolg zudem zweifelhaft ist, besser jene wirkungsvollen Schutzmechanismen – bei der Arbeit, in den Wohnvierteln – wiederbeleben und zu stärken suchen, die sich die Arbeiterschaft einst selbst geschaffen hatte und die im Laufe der letzten Jahre immer mehr abgebröckelt sind? Im Klartext: Wäre es nicht sinnvoller, die Existenzbedingungen dieser Bevölkerungsgruppen zu stabilisieren, sie „sicherer“ und verlässlicher zu machen und auf diesem Wege der Arbeiterschaft wieder ihre Würde zurückzugeben? Die Politiker müssten dann allerdings nicht nur knapp vor oder nach einer Wahl Interesse an ihnen zeigen.

dt. Dorothea Schlink-Zykan

* Autoren von „Retour sur la condition ouvrière. Enquêtes aux usines Peugeot de Sochaux-Montbéliard“, Paris (Fayard) 1999.

Fußnoten: 1 Exemplarisch wird dieses Problem verdeutlicht in dem Text von Abdelmalek Sayad über den Gastarbeiter Abbas, in: Pierre Bourdieu et al., „Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnose alltäglichen Leidens an der Gesellschaft“, Konstanz 1997. 2 In der Region haben sich nur wenige von ihnen dem Rap zugewandt, um ihre Wut auszudrücken – im Gegensatz zu den Jugendlichen aus den Vorstädten von Paris, Lyon und Marseille, die schon früher von der Krise der Industrie betroffen waren. 3 Im Jahr 2000 gab es in Sochaux nur 220 Neueinstellungen von Arbeitern. 4 Die vierte Klasse in Frankreich entspricht der deutschen Jahrgangsstufe 8, die dritte Klasse der Jahrgangsstufe 9, etc. Die Notenskala geht von 1 bis 20, wobei 20 die beste Note ist. 5 Bei der Auszählung fand man auf einem der Wahlzettel eine an die Adresse des Kandidaten von Lutte Ouvrière gerichtete handgeschriebene Botschaft: „Schade, dass du die Araber verteidigst.“

Le Monde diplomatique vom 13.07.2001, von STÉPHANE BEAUDMICHEL PIALOUX