Kamikaze-Neurologen
Von MARIANO SIGMAN *
1963 äußerte sich Sydney Brenner in einem Brief an Max Perutz über den Stand der Wissenschaften. Max Perutz gehörte zu den Koryphäen der Kristallographie, einer Wissenschaft, deren Erkenntnisse Francis Crick maßgeblich geholfen hatten, die Doppelhelixstruktur des Desoxyribonukleinsäuremoleküls DNA zu entdecken.1 Brenner und Crick, die für das berühmte, von Max Perutz geleitete Labor der Molekularbiologie in Cambridge arbeiteten, hatten zusammen den genetischen Code entziffert. In seinem Brief zog Brenner eine wissenschaftliche Bilanz der vorangegangenen Jahrzehnte und kam zu dem für ihn unerfreulichen Schluss, dass die Molekularbiologie ihre Höhepunkt überschritten habe. Als neues Feld der Grundlagenforschung schlug er daher die Neurowissenschaften vor.2
Damit lag er seinerzeit durchaus nicht falsch. Die wesentlichen Grundsatzfragen der Molekularbiologie hatten Jacques Monod und François Jacob in Frankreich und James D. Watson, Francis Crick und Sydney Brenner in England beantwortet. Die Molekularbiologie begann, von der Industrie vereinnahmt zu werden, und die Forscher suchten nach neuen Herausforderungen. Inzwischen ist die Molekularbiologie durchgehend industrialisiert, und die Phantasmen, die sie hervorruft, sind eher dem Tatbestand ihrer Industrialisierung als konzeptionellen Neuerungen geschuldet.
Als im Februar 1997 Ian Wilmut der Weltöffentlichkeit das erfolgreiche Klonen des Schafes Dolly im schottischen Edinburgh melden konnte,3 löste er damit eine heftige Debatte in den Medien aus. Dabei ist das Klonen eigentlich nicht neu. Vor etwa fünfzig Jahren hatte bereits John Gurdon (heute Cambridge) Kröten geklont, und zwar mit derselben Technik, die auch Ian Wilmut benutzte. Sie wird heute beim Klonen von Rindern, Schafen, Ziegen und Mäusen angewendet und könnte in naher Zukunft für das Klonen von Menschen herangezogen werden.4
Weniger bekannt ist, dass auch in Japan auf dem Gebiet des Klonens beachtliche Forschungen im Gang sind. Japan hat sich stets dann als unschlagbar erwiesen, wenn die Beherrschung der Technik wichtiger ist als konzeptionelle Neuerungen. Die Japaner sind bei der Entwicklung herausragender Technologien höchst erfolgreich, haben dagegen auf rein wissenschaftlichem Felde nur wenige originelle Ideen hervorgebracht. Dies zeigt sich auch daran, dass bislang nur fünf wissenschaftliche Nobelpreise nach Japan gegangen sind, dagegen 191 in die USA und 152 nachFrankreich, Großbritannien und Deutschland. Was das Klonen betrifft, so haben japanische Forscher bereits Rinder5 und Mäuse6 vervielfältigt. Anfang 2000 gelang es ihnen zum ersten Mal, einen Stier zu klonen, der selbst ein geklontes Tier war, also das Klonen eines Klons. Mit diesen Experimenten wollte man verstehen lernen, wie ein Klon altert, der von einem schon älteren Organismus abstammt.7
Die Praxis des Klonens ist also nichts Neues mehr. Der Wissenschaftsbereich, auf dem sich gerade eine noch größere Revolution ankündigt, ist die Neurobiologie: die Erforschung des menschlichen Gehirns, der kognitiven Prozesse und des Bewusstseins, des Gedächtnisses und des Denkens, der Einbildungskraft und der Träume. Dies alles hat Brenner bereits in dem zitierten Brief angekündigt. Aber er hat auch das wesentliche Hindernis für den Fortschritt der Neurobiologie vorausgesehen: „Eine der Hauptschwierigkeiten scheint mir darin zu liegen, dass es unmöglich ist, eine einzelne (isolierte) Gedankenlinie für einen gegebenen Prozess auszumachen.“
Die Mechanismen von Verstand und Gefühl
DIE Molekularbiologie konnte bei der Analyse der genetischen Mechanismen immer weitere Fortschritte erzielen, weil die Genetiker von der Vorstellung „ein Gen = ein Enzym“ ausgingen. Und weil die Gen-Expression der Augenfarbe oder der Flügellänge sich auf einfache, leicht zu analysierende Einheiten reduzieren ließ. Der Umstand, dass in einer Gruppe von unterschiedlichen Individuen die kognitiven Prozesse nicht einheitlich verlaufen, hindert die Neurobiologie bislang daran, den großen Sprung nach vorn zu machen. Gleichwohl könnte ein solcher Riesenschritt schon in unmittelbarer Reichweite liegen. Das letzte Jahrzehnt, auch das Jahrzehnt des Gehirns genannt, hat die ursprünglich gehegten Hoffnungen nicht ganz erfüllt, doch immerhin tat sich bei den Neurowissenschaften doch sehr viel, allerdings vor allem in puncto Datengewinn und Technik und nicht so sehr in konzeptioneller Hinsicht.
Die Neurobiologie befindet sich heute in einem Stadium, das mit dem der Molekularbiologie am Ende der 1950er-Jahre oder mit dem der Physik Anfang des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist, das heißt im Stadium der Grundlagenforschung. Neu dabei ist, dass sich Japan mit einem ungeheuer ehrgeizigen Programm an dem Wettlauf beteiligt. Die japanischen Anstrengungen haben einen Namen: das Hirnforschungsinstitut Riken (der Name kommt von Rikagaku kenkyujo, was etwa heißt: Institut für chemische und physikalische Forschung), das 1917 als privates Institut in Tokio gegründet wurde. Seit etwa fünfzig Jahren finanziert es sich aus privaten wie aus öffentlichen Geldern.
Nach den Worten seines Präsidenten Shun-ichi Kobayashi zeichnet sich das Institut vor allem dadurch aus, dass es ein Ziel, ein Forschungsprogramm und einen titanischen Ehrgeiz hat. „So wie ein Mensch ohne Ehrgeiz einem treibenden Kahn gleicht, so wird auch ein Forschungsprogramm, wenn es kein großes Ziel verfolgt, im Sturm und in den Wellen des unaufhörlichen wissenschaftlichen Fortschritts untergehen.“8
Das Institut befindet sich in Wako, etwa eine halbe Stunde mit dem Zug von Tokio entfernt. Das imposante Gebäude mit seiner spröden Ästhetik dient ganz allein der neurowissenschaftlichen Forschung. Die Forscher des Riken-Instituts, das man durchaus als aufgehende Sonne der Neurobiologie bezeichnen könnte, haben sich drei zentrale Ziele vorgenommen: das Gehirn verstehen, das Gehirn schützen, das Gehirn erschaffen. Dafür haben sie die notwendigen Strukturen etabliert: enge Partnerschaft mit dem MIT (Massachusetts Institute of Technology in den USA), um weltweit vorn zu liegen; Aufbau eines Technologiezentrums, das mit Forschungsgruppen zusammenarbeitet, die die erforderlichen Technologien liefern; Schaffung eines Informationszentrums, das die Verarbeitung der riesigen Datenmengen aus aller Welt gewährleistet. Für jedes der Ziele – das Gehirn verstehen, schützen, erschaffen – gibt es im Riken einen Plan, der die Perspektiven und Resultate für die nächsten fünf, zehn, fünfzehn und zwanzig Jahre festlegt.9
Für das erste Ziel (das Gehirn verstehen lernen) hoffen die japanischen Forscher in fünf Jahren die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses und des Wissenserwerbs enträtselt sowie die Sprachrepräsentation aufgedeckt zu haben. Binnen zehn Jahren wollen sie diejenigen Mechanismen entschlüsselt haben, die unsere Empfindungen, die Emotionen und unterschiedlichen Verhaltensweisen hervorrufen; auch wollen sie die biologischen Rhythmen und das Zeitempfinden verstehen lernen und die Art, wie sich Wörter und Sprache ins Gehirn einschreiben. Das ehrgeizige Programm sieht vor, innerhalb von fünfzehn Jahren alle Fragen vollständig zu beantworten, die mit den Mechanismen der Wahrnehmung und des Denkens sowie dem Spracherwerb zusammenhängen. In zwanzig Jahren schließlich will man in der Lage sein, die Funktionsweisen des sozialen wie des individuellen Bewusstseins zu enträtseln.
Das zweite Vorhaben des Riken-Instituts – das Gehirn schützen – soll mit ähnlich riesigen Schritten vorankommen. In fünf Jahren dürfte man die Gene kennen, die an der Entwicklung des Gehirns beteiligt sind oder – gegebenenfalls – psychische Erkrankungen und funktionale Störungen auslösen können. In zehn Jahren dürfte man wissen, wie eine normale Entwicklung des Tiergehirns zu regulieren, wie der Alterungsprozess von in Kultur gezüchteten Neuronen zu kontrollieren ist, und man will in der Lage sein, Transplantationen von Nervengewebe vorzunehmen.
Um das Jahr 2015 sollen sich dann die Methoden, die eine normale Entwicklung des Tiergehirns gewährleisten, auf den Menschen anwenden lassen. Man wird den Alterungsprozess der Neuronen in einem Tiergehirn vollkommen beherrschen und beträchtliche Fortschritte in der Gentherapie bei psychischen und neurologischen Erkrankungen gemacht haben.
In zwanzig Jahren möchte man den Alterungsprozess beim Menschen kontrollieren, künstliches Nerven- und Muskelgewebe züchten und die psychischen und neurologischen Erkrankungen ausgemerzt haben.
Bedrückend eindrucksvoll ist vollends die Planung für das dritte Fernziel, die Fabrikation des Gehirns. Die Forscher am Riken geben sich fünf Jahre, um elektronische Chips zur Objekterkennung zu entwickeln und Gedächtnissysteme herzustellen, die denen des menschlichen Gehirns nachempfunden sind. 2010 möchte man Strukturen hergestellt haben, die imstande sind, zu denken (wohlgemerkt: dafür müsste zunächst das Denken selbst wirklich verstanden sein), man will Apparate mit Gedächtnisfunktion herstellen können, die sich selbst programmieren, die zu intuitivem Denken und logischem Argumentieren befähigt sein sollen. In fünfzehn Jahren wird man Rechner mit intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten bauen, die also Gefühle und Begierden äußern können. In zwanzig Jahren wird man Supercomputer erdacht haben, die freundschaftliche Kontakte mit der Menschengesellschaft anknüpfen werden. Die Forscher werden dann tatsächlich eine symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Computer aufgebaut haben. Und bis dahin soll es auch Roboter geben, die an den intellektuellen Auseinandersetzungen der Menschen teilhaben können.
Wer sich ausmalt, wie die Welt in zwanzig Jahren aussehen mag, dem könnte angesichts der beeindruckenden Ansammlung von talentierten Wissenschaftlern, die sich am Riken-Institut tummeln, schwindlig werden. Und man erkennt mit Schrecken, dass die Wissenschaft hier offenbar noch über Sciencefiction-Fantasien hinaus zielt. Falls sich die Ziele von Riken realisieren lassen, falls diese Forschungen unsere Zukunft bestimmen, werden wir im Jahr 2020 das Mysterium des menschlichen Gehirns und Denkens aufgedeckt haben. Wir werden das Gehirn unsterblich gemacht haben, wir werden ihm technische Hilfsmittel liefern können, mit deren Hilfe es über jede Verfallszeit hinaus existieren und sich ausdrücken kann. Und die Japaner werden das Rennen gemacht haben. Vor allem deshalb, weil die Leiter des Projekts sich im Bereich der Information und der Elektronik stark gemacht und so den Rest der Welt überflügelt haben. Sie sind zurzeit die Einzigen, die Professor Kawatos Roboter so weit verfeinert haben, dass sie Volkstänze aus Okinawa mit geradezu menschlicher Anmut tanzen können.10
Die wissenschaftlichen Fortschritte, die sich die japanischen Forscher für die kommenden zwanzig Jahre vorstellen, sind womöglich nicht nur ein Traum oder ein Albtraum. Sie bedeuten weit ungewöhnlichere Entwicklungen als die der Genomforschung, des Internets oder der Klonierung. Sie stellen den größten je unternommenen Angriff auf die menschliche Identität dar. Und sie drohen den Menschen in einer „posthumanen“ Epoche zum Verschwinden zu bringen.
dt. Dirk Höfer
* Neurowissenschaftler an der Rockefeller University, New York.