Die optische Täuschung des Fortschritts
Von PAUL VIRILIO *
„Ihr Fortschritt läuft ja wie am Schnürchen“, erklärt Tom Smallways, der Held des Romans „The War in the Air“ von H. G. Wells, „fragt sich nur, wie lange er so läuft.“1 Hundert Jahre später fragt man sich noch immer, wie das alles weitergehen soll. War es nicht das Paradoxon der wissenschaftlichen Entwicklung – die sich am Beispiel der Zauberkunst orientierte, der sie so viel verdankt –, dass sie eine von Hypertrophie befallene, gefährliche Horde von Zwergen an manipulierte Erscheinungen, Taschenspielertricks, ja mitunter an Absurditäten glauben ließ?
In dem Abschnitt des 20. Jahrhunderts, der durch das atomare Patt gekennzeichnet war, gewann der wissenschaftlich-technische Fortschritt insofern eine ganz besondere Gestalt, als er im Bereich der reinen Militärstrategie zur Kunst der Fälschung im Dienst der Kunst der Lüge wurde.2 Sprach man damals von „Ereignisgesellschaft“, „Politspektakel“ oder „Entfremdung der Massen“, meinte man eigentlich „Wissenschaft als Großspektakel“. Es ging um eine spektakuläre Revolution im militärisch-informationellen und wissenschaftlichen Komplex, der binnen weniger Jahrzehnte von einer totalitären zu einer planetaren Bedrohung geworden war – dank der zügigen Installation von Beobachtungssatelliten, das heißt einer „Großoptik“ mit dem erklärten Ziel, unseren Planeten in einen einzigen gigantischen Aufnahme- und Vorführsaal zu verwandeln.
Seither können die verblüfften Erdbewohner auf ihren Bildschirmen immer neue, immer sagenhaftere Wundertaten bestaunen und von neuen Perspektiven auf dem Felde der Medizin, der Gentechnik und des Hochleistungssports träumen.
Am 4. Oktober 1957 erreichte der Sputnik I seine Erdumlaufbahn und provozierte den Westen mit seinem öffentlichkeitswirksamen „piep!, piep, piep!“. Dann wurde der Weltraum mit einem regelrechten Zoo bevölkert, und das verdutzte Publikum bangte um das Schicksal der Hündin Laika, die im Dienst der Wissenschaft ihr Leben lassen musste, bevor am 12. April 1961 der sowjetische Übermensch Juri Gagarin auf den Weg zu den Gestirnen geschickt wurde und acht Jahre später, am 21. Juli 1969, der amerikanische Superman Neil Armstrong live im Zirkus Luna herumhopste und Steinchen vom Mondboden aufklaubte.
Der Filmemacher Orson Welles, ein mit allen Wassern gewaschener homme de spectacle, sagte damals über das Fernsehen und seine synthetische Bilderwelt: „Wir haben ein Wunder vollbracht, und alle rufen: ‚Phantastisch!‘ Aber wer wird sich noch für die zweite Mondfahrt interessieren? Kein Mensch.“ Es kam nun freilich überhaupt nicht darauf an, dem kosmischen Spektakel Dauer zu verleihen. Vielmehr sollte die gesamte Weltöffentlichkeit an der Nase herumgeführt werden, während schon jener künftige „Krieg der Sterne“ Gestalt annahm, den ein anderer homme de spectacle, der ehemalige Hollywoodschauspieler und US-Präsident Ronald Reagan, seit 1984 versprochen hatte.3
1973 wurden die kostspieligen Ausflugsreisen des Menschen zum Mond ziemlich jäh unterbrochen. Aus Cap Kennedy wurde wieder Cap Canaveral, und 1977 starb einer der Hauptanstifter des interstellaren Großspektakels, der ehemalige Nazi Wernher von Braun, der in seiner Jugend davon geträumt hatte, Sciencefiction-Autor zu werden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahre 1991, das Ende der politischen Blöcke und der Beginn der wirtschaftlichen Globalisierung erzwangen eine zügige Revision der Wissenschaft als Großspektakel, wie bei H. G. Wells: „Dreihundert Jahre Diastole, dann, wie bei einer sich schließenden Faust, die plötzliche, unerwartete Systole.“4
Nachdem der Feind von gestern von der Bildfläche verschwunden war, musste man einer abgestumpften Öffentlichkeit den Fortschrittsfeind von morgen präsentieren – den Unhold, der die Menschheit an ihrem „Weiterkommen“ hinderte.
Der Schuldige war schnell gefunden: Es war der Mensch selbst (siehe den Artikel von Jean-Claude Guillebaud auf S. 13). Man brauchte sich nur, mittels der alten Spekulationen der Kybernetiker und Eugeniker, erneut an dem Geheimnis der Adamskinder zu versuchen. Man fragte also wieder einmal nach den physiologischen Strukturen des Menschen, die sich seit der Jungsteinzeit kaum geändert haben – im Gegensatz zu den Gesellschaftssystemen und vor allem zu den Maschinen, die eine ständig fortschreitende Entwicklung durchlaufen haben.5 Aber wissen wir denn, was der Mensch ist? Es gibt wohl eine Menschheit – aber Menschen? Lauter unproportionierte lebende Organismen, zu groß und gleichzeitig doch zu klein, „gefangen im Weltall wie in einem Kerker“, wie uns Blaise Pascal bestätigt.
Der Soziologe Alain Ehrenberg veranschaulicht in seinem Buch über den „Überdruss, man selbst zu sein“6 , einen Satz Flauberts („Die tiefgründigste Art, etwas zu empfinden, ist, daran zu leiden“), indem er die Schäden aufzählt, die der Rhythmus des Fortschritts und dessen neue Propaganda anrichten: „Die Depression, in den 1950er-Jahren für den Psychiater kaum noch von Interesse, ist zur weltweit häufigsten seelischen Störung geworden. [. . .] Die Neurose ist die Tragödie der Schuld; die Depression das Drama des Ungenügens. Sie entsteht dann, wenn sich der Mensch nach der Liberalisierung der Sitten in den 1960er-Jahren nicht mehr fragt: ‚Was ist mir erlaubt?‘, sondern: ‚Was ist mir möglich?‘ “
Der Versuch des Menschen, seiner angeborenen Unvollkommenkeit, seiner strukturellen Unzufriedenheit mit sich selbst zu entkommen, vollzog sich offenbar nicht mehr auf dem Umweg über die „verbotene Seelenkunde“ des Psychoanalytikers oder den Abbau religiöser Tabus und moralischer Verbote. Dagegen formuliert E. M. Cioran7 mit seinem Satz „Leben heißt die Augen verschließen vor den eigenen Dimensionen“ besser als jeder andere die durch die technische Beschleunigung gegebene Antwort auf ein übersinnliches, zeitloses Problem, das schon Luther etwas pathetisch so ausdrückt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“
Zu wissen, wie die Dinge erscheinen, ist für den gewöhnlichen Sterblichen die geringste Sorge, und es interessiert ihn wenig, ob die Erscheinungen der Welt nichts als flüchtige optische Täuschungen sind, solange ihn nur die Windschutzscheibe seines Autos oder der Bildschirm seines Computers über das ganze kümmerliche Ausmaß seiner Kleinheit hinwegtäuscht. Nicht von ungefähr beobachten wir seit Jahren eine Korrumpierung der nützlichen Funktionen von High-Tech-Geräten und deren Umfunktionierung zu sektiererischen, synkretistischen, paraphilosophischen, transpolitischen oder New-Age-Zwecken.
Der Broker und die Voodoo-Priesterin
DIE Geschwindigkeit, die Allgegenwart und die Allwissenheit der Monitoren und Computerterminals wie auch der häuslichen Fernsehapparate treten Schritt für Schritt an die Stelle jener uralten Methoden, die dem Menschen seine Abhängigkeit von dem zeigen, was ihn „außer sich“ geraten lässt und in seltenen Augenblicken den Körper durchlässig zu machen scheint: Traum, Trance, Orgasmus, Hypnose, Alkohol, Drogen und Aufputschmittel. Zu den Techniken der Desavouierung des Selbst gehören auch die Bilder, die Wörter, diese „unerbittlichen Mächte“, wie Afred Döblin8 sagt, die uns davon abhalten können, dort zu leben, wo unser Platz ist.
Und so konnte man jüngst in einer französischen Zeitung eine Todesanzeige lesen, in der das buddhistische „Gefährt“ mit dem der Raumfahrt oder der Fernsehserie Star Trek verschmilzt: „N. N., unser kleiner Kosmonaut, hat beschlossen, seine Mission zu ändern, und sein Gesicht sagt uns, dass er zu seinem Buddhawesen erwacht ist und unter besseren Umständen wiedergeboren werden kann.“
Übrigens wollten die ersten Informatiker ihren Rechner in bester rabbinischer Tradition „Golem“ taufen, während die Börsenhändler von der Wall Street, noch traumatisiert von der Plötzlichkeit des jüngsten Krachs am Neuen Markt, sich der Dienste von Voodoo-Priesterinnen versichern, „um ihren Arbeitsplatz von unheilvollen Kräften zu reinigen“. Und während gewisse Fundamentalisten den sterblichen Überresten von Internetbenutzern die letzte Ruhe auf ihren Friedhöfen verweigern, entstehen Trauer-Websites, die es den Hinterbliebenen von verstorbenen Internauten erlauben, an den Gräbern ihrer Lieben zu verweilen, ohne sich dabei von der Stelle zu bewegen.
Auch die Mitglieder der amerikanischen Cybersekte „Heaven’s Gate“ glaubten, sich ohne Ortsveränderung durch kollektiven Selbstmord auf der Stelle und mit Sack und Pack vor die Pforten des Paradieses, ins Jenseits ihrer Computerbildschirme, versetzen zu können.
Was aber in diesen Jahrzehnten des rasanten Fortschritts vor allem Fortschritte gemacht hat, sind die Ideologien, die Utopien, die Verführungen, die Abwege und Tricks aller Art, die heute die verlorenen Illusionen ersetzen müssen. Denn nunmehr herrscht der Schwindel der Unmittelbarkeit, den in einer tragischen Zeit Dietrich Bonhoeffer9 aufgedeckt hat: die technische Aufbereitung der falschen Nähe. Was der Fortschritt zugunsten des von Kafka angeprangerten „Verkenne dich selbst“ zerstört hat, ist die bescheidene Bevorzugung des Nahen und des Nächsten, jenes „Wissen, man selbst zu sein“, das uns Montaigne einst als etwas sehr Großes nahe brachte.
Seither gibt es „Simulatoren der Nähe“, so wie es Flug-, Fahr- oder Schießsimulatoren gibt. Die Wissenschaft als Großspektakel hat aufgehört, in die Sterne zu gucken, um sich ein für allemal mit der Realityshow gemein zu machen, die auf den Schwindel der Unmittelbarkeit, auf die falsche Nähe des Nahen und des Nächsten setzt. Schon die „naive Kamera“ der Brüder Lumière, der Dokumentarismus und das neorealistische Kino, später die Paparazzi und der Gossenjournalismus haben zunächst die falsche Nähe zu den Stars geschaffen, um sie am Ende zu zerstören.
Diese Umstände sind heute wieder aktuell, nicht zuletzt dank der unerhörten Publizität, die Fernsehserien wie Loft Story10 und Big Brother genießen. Die eigentlichen Versuchspersonen bei derartigen Sendungen sind nicht die Freiwilligen, die sich in der erzwungenen Nähe des Loft einsperren lassen, sondern die Millionen Fernsehzuschauer, die heimlichen Akteure, die, ohne es zu wissen, an den ersten Folgen eines schaurigen globalen Rollenspiels mitwirken, an einer Revolution der Biosphäre, bei der die Menschheit alle Kräfte aufbietet, um jene andere Welt, die der Mensch ist, zu erforschen und virtuell zu vernichten. Man kann sich bereits ausmalen, zu welcher Brutalität es die nächsten Serien dieses Reality-TV bringen werden. Machen wir uns nichts vor: Die „Modernität“ von Big Brother und seinen Klonen schließt unmittelbar an die des Golfkriegs und des Kosovokonflikts an.
„Nullsummenspiel, politische Verirrung“, sagte man nach 1989 über den Krieg. So alt wie die Welt selbst, schien er nichts mehr einzubringen, sondern zerstörte im Gegenteil nationale Gesamtheiten, ruinierte traditionelle Armeen, zerriss wirtschaftliche Verflechtungen. Der höchst medienerfahrene Tony Blair hatte uns schon 1999, zu Beginn des Kosovokrieges, gewarnt: „Es handelt sich um einen Krieg neuen Typs, einen Krieg nicht um Gebiete, sondern um universelle Werte.“ Dieser Krieg war kein spezifisch militärischer mehr, er war einfach nur die erste Andeutung der künftigen Weltraumkriege.
Im Laufe des Kosovokrieges sind die zwei erklärten Gegner – Serbien und die Nato – nirgends wirklich aufeinander geprallt. Das macht deutlich, dass das herkömmliche Schlachtfeld, wie es im Golfkrieg zumindest in verdeckter Form noch existiert hatte, inzwischen verschwunden ist. Der „humanitäre“ Krieg im Kosovo, ermöglicht durch spektakuläre wissenschaftliche „Fortschritte“, beraubte den Krieg jedes Sinnes. Indem er das Schlachtfeld von ehedem eliminierte, eliminierte er gleichzeitig jede reale Nähe, jede Unmittelbarkeit – und jede Gefahr einer möglichen Verbrüderung unter den Menschen.
dt. Holger Fliessbach
* Philosoph, Autor u. a. von „La Bombe informatique“, Paris (Gallimard) 1998, und „La Procédure silence“, Paris (Gallimard) 2000. Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus seinem voraussichtlich im Januar 2002 erscheinenden Buch „Ce qui arrive“. Auf Deutsch ist u. a. lieferbar: „Rasender Stillstand. Über Zeit und Raum in der Epoche der Telekommunikation“ sowie „Revolutionen der Geschwindigkeit“, beide Frankfurt (Fischer Taschenbuch Verlag).