10.08.2001

Astrologie, die Linke und die Wahrheit

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Astrologie, die Linke und die Wahrheit

Von JEAN BRICMONT UND DIANA JOHNSTONE *

Um die Implikationen der „Affäre Teissier“ zu verstehen, wollen wir sie mit der „Affäre Sokal“ vergleichen, die die Gemüter im Jahr 1996 bewegte. Damals war es dem Physiker Alan Sokal gelungen, in der US-amerikanischen kulturwissenschaftlichen Zeitschrift Social Text einen Aufsatz unterzubringen, der unter dem Titel „Grenzüberschreitungen: Beitrag zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation“ bewusst mit wissenschaftlichen und philosophischen Absurditäten gespickt war.1 Dass Elizabeth Teissier für ihre Arbeit über die „Epistemologische Lage der Astrologie im Spiegel des ambivalenten Verhältnisses von Faszination und Ablehnung in den postmodernen Gesellschaften“ nun gar die Doktorwürde erhielt, wirft abermals ein bezeichnendes Licht auf die geistige Verfassung unserer Zeit. Denn in diesem Fall geht es nicht um die Unfähigkeit einiger Zeitschriftenherausgeber, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, sondern um die Verleihung eines wichtigen akademischen Titels durch eine angesehene Universität.

Elizabeth Teissier verfolgt zwar ganz andere Absichten als Sokal, aber ihr Vorgehen ist praktisch dasselbe. So wie Sokal mit wirren Zitaten und großen Namen hantierte und seinen Herausgebern systematisch Honig um den Bart schmierte, so fährt Teissier eine illustre Gesellschaft modischer Autoren auf und gibt ihrem Doktorvater Maffesoli dabei einen Ehrenplatz. Vor allem aber beruft sie sich auf das relativistische Postulat, die „offizielle“ Wissenschaft sei nur eine von vielen möglichen Darstellungsweisen und reiche keinesfalls an die umfassendere „Königswissenschaft der Sterne“ heran.

Angesichts des zweideutigen oder vielmehr konfusen Gebrauchs des Begriffs „Wissenschaft“ meint der Soziologe Alain Touraine die Astrologin Teissier von dem Vorwurf freisprechen zu müssen, sie habe „behauptet, die Astrologie sei eine Wissenschaft“. Touraine schließt mit der Auskunft, Teissier habe sich in ihrer Doktorarbeit nicht – wie allseits behauptet – einer Pseudowissenschaft gewidmet, sondern einzig und allein „mit sich selbst beschäftigt“2 .

Nun stimmt es zwar, dass Teissier in ihrer Dissertation im Wesentlichen ihren persönlichen Werdegang ausbreitet, ihre Auseinandersetzungen mit den Medien, ihre „Enthüllungen“, ihre Beziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten und vor allem ihre subjektive Einschätzung, weshalb die Astrologie fasziniert beziehungsweise abstößt. Doch im Laufe ihrer 900-seitigen Lebensbeschreibung lässt die Autorin keinen Zweifel daran, dass sie die „Königswissenschaft der Sterne“ an den französischen Universitäten wieder als Lehrfach zu etablieren wünscht. Anders als Touraine zu erkennen meint, wird Teissier nicht müde, die Astrologie als wissenschaftliche Disziplin zu verkaufen. So schreibt sie auf Seite 765: „Die astrologischen Theorien müssten daher als wissenschaftlich anerkannt werden, denn sie sind durch Beobachtung und statistische Verfahren falsifizierbar.“ Nun bezieht sich Teissier zwar mehrfach auf die statistische Untersuchung von Michel Gauquelin, der einen Zusammenhang zwischen dem Planeten Mars und dem Werdegang von Spitzensportlern zu beweisen suchte, mit keinem Wort jedoch erwähnt sie die detaillierte Widerlegung mittels einer auch von Gauquelin akzeptierten Methode.3 Dass Teissier empirischen Beweisen keine allzu große Bedeutung beimisst, wird offensichtlich, wenn man auf Seite 127 das Horoskop liest, das sie André Malraux stellt: Er habe seine besondere Begabung „wahrscheinlich aus früheren Leben ererbt“. Mehr noch als eine Wissenschaft unter anderen sei die Astrologie eine Art Wissenschaft vom Ganzen, die in der Lage sei, die verschiedenen philosophischen und religiösen Systeme zu erklären. So stünden zum Beispiel „der Marxismus, der Spinozismus, der Lutheranismus und die Freud’sche und Jung’sche Psychoanalyse [. . .] in Korrespondenz zur Persönlichkeit ihrer Autoren“. Folglich, so lesen wir auf Seite 11, „erklärt die Astrologie als charakterologische Wissenschaft par excellence die Unterschiede und die Verschiedenartigkeit der einzelnen Menschen“.4

Wer nicht die Gelegenheit hatte, einen Blick in Teissiers Dissertation zu werfen – ein Plädoyer für die Astrologie, das ohne jeden Versuch einer systematischen Argumentation auskommt –, wird das Ausmaß des Skandals vielleicht nicht richtig einschätzen können. Unter dem hochgestochenen Anspruch einer Epistemologie von Fasziniertsein und Ablehnung beschränkt sich Teissier auf die subjektive Erörterung beider Haltungen, während sie die Astrologie als solche als völlig unumstritten voraussetzt. Methodik und Systematik sucht man hier ebenso vergebens wie eine objektivierende Distanz zu ihrem Gegenstand.

Antiintellektualismus und Denkfaulheit

SELBST die Mindestvoraussetzungen wissenschaftlichen Arbeitens – genaues Zitieren und präzise bibliografische Angaben – werden geflissentlich missachtet. Das einführende Einstein-Zitat zugunsten der Astrologie kommt ohne Quellenangabe aus und dürfte frei erfunden sein. Maffesoli bewundert im Gutachten die „umfangreiche Bibliografie mit über 600 Titeln“ – er hätte besser hinsehen sollen.

Wer der Ansicht ist, geistige Arbeit habe durch ein besseres Verständnis der Welt zu deren Veränderung beizutragen, wird erkennen, dass die „Affäre Teissier“ durchaus grundsätzliche Probleme aufwirft. Da ist zunächst das Verhältnis zu Objektivität und Wahrheit. Ein gesundes Misstrauen gegenüber technologischen Exzessen, Autoritäten und Hierarchien, das sich unter den linken Intellektuellen in den vergangenen Jahrzehnten ausgebreitet hat, begünstigt zugleich eine zunehmende Rationalitäts- und Wissenschaftsfeindlichkeit. Objektive Wahrheit wird umstandslos der „Macht“ zugeschlagen. Dieser Antiintellektualismus mündet nur allzu oft in die Weigerung, zwischen Vernunft und Unvernunft, Sinn und Unsinn, Wahrheitssuche und wirrem Gerede zu unterscheiden.6

Wenn Alan Sokal im postmodernen Jargon darlegt, die Wissenschaft könne „gegenüber den gegenhegemonialen Erzählungen von Dissidenten- und Randgruppen nicht den Anspruch auf höhere epistemologische Dignität erheben“, so artikuliert er damit nur die ebenfalls postmoderne Vorstellung, jede Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft gehe auf einen bloßen „Machteffekt“ zurück. Und genau hier liegt der Hund begraben: Die so genannte offizielle Wissenschaft lehnt die Astrologie nicht per Dekret oder aufgrund materialistischer Voreingenommenheit ab, sondern weil die Astrologen keine soliden empirischen Beweise für ihre Theorie beibringen können – und zwar obwohl die „Königswissenschaft“ schon seit vielen Jahrhunderten existiert und zumindest in der Vergangenheit von zahlreichen Gelehrten wohlwollend überprüft wurde. Nur in einem geistigen Umfeld, das den Objektivitätsbegriff ad acta gelegt hat und jede kritische Haltung gegenüber pseudowissenschaftlichen Elaboraten vermissen lässt, konnte eine Dissertation wie die von Elizabeth Teissier angenommen werden.

Solch lässige Gleichgültigkeit ist insbesondere für die Linke eine selbstmörderische Haltung. Denn nur eine objektive Analyse, die es wagt, „hinter die Erscheinungen“ zu blicken, ist in der Lage, radikale Gesellschaftskritik wissenschaftlich zu fundieren. Das gilt für die unterschiedlichsten Fragen: für die Analyse der sozialen Folgeerscheinungen der Marktwirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion ebenso wie für die Kritik an den Auswirkungen des Neoliberalismus auf das weltweite Wirtschaftswachstum und das Realeinkommen der Armen in den reichen Ländern,7 es gilt für die Analyse des Zusammenhangs zwischen Schuldknechtschaft und mangelnder Gesundheitsversorgung in den armen Ländern wie der Rolle Deutschlands und der USA bei der Zerstückelung Jugoslawiens oder der Embargopolitik gegenüber dem Irak.

Begnügt man sich jedoch damit, die Weltsicht der verschiedenen „sozialen Akteure“ zu registrieren, so wird man in einer Gesellschaft, in der sich die Informations- oder vielmehr Desinformationsmittel in der Hand der Mächtigen konzentrieren, unweigerlich zum Gefangenen von Illusionen, die der Macht gut ins Konzept passen. Zwischen Millionen von Subjektivitäten wird sich notwendigerweise eine Hierarchie herausbilden, und wenn dabei die wissenschaftlichen Methoden nicht die Oberhand behalten, werden eben Faktoren wie „Beziehungen“ und Geld, Mode und Medien den Ausschlag geben. Und womöglich auch die Universitäten von morgen, die ihre Doktortitel an Leute verleihen, nur weil sie alle anderen Attribute der Macht schon besitzen und zum Rigorosum ihren Pressesprecher mitbringen.

Das zweite Problem, das die Affäre Teissier aufwirft, betrifft den öffentlichen Dienst und das Bildungswesen. Die fortschrittlichen Kräfte sollten sich nicht nur dauernd über die durchaus reale Gefahr der Privatisierung aufregen, sondern auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass es innerhalb des öffentlichen Bildungswesens eine ganze Reihe Herrschaften gibt, die nur ihre persönlichen Marotten pflegen und den Neoliberalen die besten Argumente für eine Privatisierung liefern. In der Affäre Teissier hätte es der Anspruch des öffentlichen Diensts erfordert, dass zur Prüfungskommission eine Person gehört, die sich die Dissertation kritisch vornimmt, oder dass man einen Astronomen oder wissenschaftlichen Astrologiekenner8 als Außengutachter hinzuzieht.

Dass Teissiers Doktorarbeit, wie hier und da behauptet wird, im Namen des Pluralismus der Lehre zu verteidigen sei, zeugt von bemerkenswerter Konfusion. Die linke Kritik an der Elite-Uni, die das Studium auf einen erbarmungslosen Wettlauf ums Diplom reduziert, ist durchaus gerechtfertigt – nur darf der Widerstand gegen diesen Wettlauf nicht zur Akzeptanz jedes noch so großen Unfugs verkommen.

Zum demokratischen Bildungsideal passt weder das erbarmungslose Aussieben der „Verlierer“ noch die demagogische Weigerung, zwischen Wahr und Falsch zu unterscheiden. Entscheidend ist vielmehr, dass jeder ungeachtet seiner Herkunft die Möglichkeit haben muss, seine Fähigkeiten wunschgemäß auszubilden. Von der Verwirklichung dieses Ideals sind wir noch meilenweit entfernt, und keine auf den Bildungssektor beschränkte Veränderung wird dieses Ideal je erreichen. Nur Veränderungen, die mit Hilfe der Bildungseinrichtungen Wissen und kritischen Geist verbreiten, können langfristig positive Wirkungen zeitigen – vorausgesetzt, man verwechselt nicht allgemeinen Wissenszugang mit Entwertung der Hochschulabschlüsse.

Aber vielleicht wird die akademische Welt durch die „Affäre Teissier“ auch aus ihrer Lethargie erwachen und die Promotion der Astrologin anfechten. Dann hätten sie und ihr Doktorvater Maffesoli am Ende sowohl der Wissenschaft als auch der Vernunft einen großen Dienst erwiesen.

dt. Bodo Schulze

* Jean Bricmont ist Präsident der Association Française pour l’Information Scientifique (AFIS), Diana Johnston ist Journalistin.

Fußnoten: 1 Siehe die Website von Alan Sokal: www.physics.nyu. edu/faculty/sokal/#comments. 2 Le Monde, 22. Mai 2001. 3 Dazu C. Benski u. a., „The Mars effect, a French test over 1 000 sports champions“, New York (Prometheus, Amherst) 1996, sowie Jean-Paul Krivine, „Mars ne s’intéresse pas aux sportifs“, Les Cahiers Rationalistes, Paris, Januar 1999, S. 6–12. 4 Weitere Auszüge aus der Dissertation finden sich auf der Website der Association Française pour l’Information Scientifique: http://site.afis.free.fr/. 5 Der Bericht der Prüfungskommission steht auf der Website persoweb.francenet.fr/%7Ecibois. 6 Eine Kritik der subjektivistischen Fehlentwicklung in der Soziologie findet sich bei Bernard Lahire, „Les limbes du constructivisme“, Contretemps 1 (Paris). 7 Dazu Robin Hahnel, „La Panique aux commandes“, Marseilles (Agone) 2001, v. a. das Schaubild auf Seite 14. 8 Zum Beispiel Henri Broch, Verfasser einer hervorragenden Kritik der Pseudowissenschaften: „Au coeur de l’extraordinaire“, Bordeaux (L’Horizon chimérique) 1992. Auf seiner Website findet sich eine detaillierte, teils auch immanente Kritik der Dissertation von Teissier (www.unice.fr/zetetique/).

Le Monde diplomatique vom 10.08.2001, von JEAN BRICMONT und DIANA JOHNSTONE