Fassaden der Moderne
Von RUDOLF EL-KAREH *
Der Wiederaufbau des Stadtzentrums von Beirut war das Kernstück des libanesischen Neubeginns. Ursprünglich hatte man sich ein Paradebeispiel für moderne Architektur zurechtfantasiert, doch der Druck der Grundstücksspekulation – und der Widerstand dagegen – ergab ein Resultat, das der Architekturkritiker Jad Tabet so charakterisiert: „In dem neuen Stadtprojekt äußert sich ein Urbanisierungsdenken, das alles ausschließen will, was abweichend oder anormal sein könnte. Ziel ist ein idealer Raum ohne Unordnung und irritierende Gegensätze [. . .], der räumliche Ausdruck einer normalisierten, geordneten und disziplinierten Gesellschaft, aus der ein ungezügelter Neoliberalismus erwachsen soll.“
Die Zeichen der angestrebten „Modernität“ sind allenthalben sichtbar und akzentuieren die Paradoxien einer Stadt, die sich wie das Land insgesamt noch auf der Suche nach sich selbst befindet. Das Flughafengebäude entspricht den unpersönlichen internationalen Standards. Dafür verlaufen die Start-und-Lande-Bahnen durch ein Dünengelände, in dem sich zugleich die billigen Wohnblocks der südlichen Vorstädte aneinander reihen. Mit den verschiedenen Flüchtlingswellen haben sich in dieser Gegend immer mehr Bewohner angesiedelt. Diese Vorstädte wurden zu quälenden Engpässen für den täglichen Verkehr auf den Schnellstraßen, die die Stadt durchschneiden. Öffentliche Verkehrsmittel sind im Libanon, wo auf zwei Einwohner ein Kraftfahrzeug kommt, nicht sehr beliebt. Die Geschäftszentren mit ihren zahllosen Freiluftcafés kommen so schnell aus der Mode, wie sie entstanden sind.
An einer der südlichen Einfallstraßen, zwischen Luxushotels und teuren Apartmenthäusern, wurde unter Beteiligung der französischen Supermarktkette Monoprix ein großes Einkaufszentrum hochgezogen. Nach dem Vorbild der Großmärkte, die in den Industrieländern an den Autobahnabfahrten entstanden, veranschaulicht dieses Zentrum die Ausbreitung jenes bizarren Konsumverhaltens, das völlig auf das Auto zentriert ist und den kleinen Läden in den typisch mediterranen alten Stadtvierteln das Wasser abgräbt. Zwischen Bauruinen und archäologischen Stätten wachsen überall nagelneue, gipsverzierte Häuser, deren Stil zwischen neokolonial und neotoskanisch wechselt. Das UN-Hochhaus aus Glas und Stahl bietet eine Palette von Veranstaltungen, die den Anspruch der Stadt unterstreichen, als Hauptstadt der ganzen Region wiederzuerstehen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Kamal Hamdan meint, die für den Wiederaufbau Verantwortlichen seien der allgemeinen Hochstimmung und der über die Medien verbreiteten Hoffnung auf grenzenloses Wachstum erlegen und hätten ihre Ziele zu hoch gesteckt. Die Folge war bis 2000 eine irrwitzige Verschuldung von fast 26 Milliarden Dollar, die eine schon während der Konfliktjahre geschädigte Infrastruktur noch zusätzlich belastet. Hinzu kommen die zahlreichen Schäden an Kraftwerken, Straßen, Brücken usw., die im Lauf der Jahre von der israelischen Luftwaffe angegriffen worden waren.
In der illusionären Vorstellung von einem unumkehrbaren regionalen „Friedensprozess“ sah man im Widerstand gegen die Teilbesetzung des Südlibanons eine der letzten militärischen Auseinandersetzungen mit Israel. Das Abkommen von 19961 hatte die Konfrontation auf die besetzten Gebiete beschränkt. Als die israelischen Truppen sich im Mai 2000 überstürzt zurückzogen, meinte der Gouverneur der libanesischen Staatsbank optimistisch: „Falls es irgendwann Frieden gibt, werden die politischen Risiken für den Libanon schwinden. [. . .] Wir könnten eine Senkung der Zinsen erleben, die dem öffentlichen wie dem privaten Sektor zugute kommt.“ Letzterer werde „von Investitionen oder Kooperationsangeboten internationaler Firmen profitieren, die sich im Libanon niederlassen wollen, um die arabischen Märkte zu erschließen.“2
Zusätzlichen Auftrieb erhielt diese Stimmung, als im Juni 2000 Baschar al-Assad in Damaskus die Macht übernahm, dessen Antrittsrede man als Zeichen für den Abbau der Bevormundung durch Damaskus deutete. Als Rafik Hariri nach seinem Sieg in den Wahlen des Jahres 2000 erneut Ministerpräsident wurde, trat er mit einem Kreis von Beratern an, die überwiegend an Universitäten der USA studiert und sich die neoliberale Ideologie angeeignet hatten. Die Erblast, die Hariri vorfand, hatte er selbst mitgeschaffen: Das Land stand am Rande der wirtschaftlichen Katastrophe. Bei der verfahrenen Lage in der Region hatte sich das Nettowachstum verlangsamt (im Jahr 2000 laut Economist nur 1 Prozent). Auch stieg der Schuldendienst für die Kredite, die man in den Jahren des „Wiederaufbaus“ zu extrem hohen Zinssätzen aufgenommen hatte, in schwindelnde Höhen. Das staatliche Defizit wuchs 2000 auf 3,9 Milliarden Dollar an (24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts [BIP] und 56 Prozent der öffentlichen Ausgaben); damit lag der Libanon in der Rangliste der verschuldeten Länder hinter Simbabwe auf Platz zwei.3
Der Ministerpräsident bemühte sich um internationale Hilfe, worauf insbesondere Frankreich und die Europäische Union positiv reagierten. Die Weltbank gewährte ebenfalls Unterstützung, und auch Hariris gute persönliche Verbindungen in den Golfstaaten verschafften der libanesischen Staatsbank neue Einlagen. Diese Geldzuflüsse sollen eine Abwertung der libanesischen Währung verhindern, die ein Land katastrophal getroffen hätte, dessen Mittelschicht schon durch die Verarmung und die Auswanderung in den Jahren vor und nach dem Krieg ausgezehrt war. Die langfristigen Niedrigzinskredite der Geberinstitutionen sollen zudem die mit extrem hohen Zinsen belasteten Inlandskredite ablösen und eine Umschuldung einleiten.
Zur Begründung der „neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen“ kamen neue Begriffe in Mode. In den Neunzigerjahren hatte Hariri noch auf den „Frieden in der Region“ gesetzt, heute ist von den „unabweisbaren Anforderungen der Globalisierung“ die Rede. Und Bernard Fattal, Generaldirektor einer der größten Import-Export-Firmen des Landes, stellt die magische Gleichung auf: „Weniger Beschränkungen gleich Wachstum, Wachstum und weniger Staat gleich Wohlstand.“
Während des Kriegs wurden die Privatuniversitäten zum „intellektuellen“ Nährboden für eine vollkommen amerikanisierte Kultur. Vor allem im Finanz- und Dienstleistungssektor neigen die Führungsschichten dazu, sich mit den abgelegten Attitüden der „Modernität“ auszustaffieren. „Modern ist, was gerade in Mode ist“, meint ein Beobachter ironisch und verweist darauf, dass gewisse Kreise der Hauptstadt sich Thomas Friedman, einen ultraliberalen New York Times-Kolumnisten, zur Leitfigur erkoren haben.
Für den Wirtschaftsminister ist das vorrangige Ziel der Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO): „Das ist für uns der Weg, unser Wirtschafts- und Handelssystem zu modernisieren und auf allen Ebenen die gesetzlichen Regelungen für Handel, Investitionen und die produktiven Bereiche zu verbessern.“ Doch welche produktiven Bereiche hat er im Auge? Die Landwirtschaft liegt darnieder. Um den Anbau auf den fruchtbaren Hochebenen im Südlibanon kümmern sich nur Nichtregierungsorganisationen und die UN-Entwicklungsorganisation UNDP. In den Freihandelsabkommen, die im Rahmen des Partnerschaftsabkommens mit der Europäischen Union im Sommer 2001 unterzeichnet werden sollen, finden sich keine wirksamen Schutzbestimmungen für die Agrarproduzenten. So besteht zum Beispiel die Gefahr, dass die Erzeugung von Olivenöl, einem der typischen Anbauprodukte des Landes, keine Zukunft mehr hat. Bereits jetzt leidet diese Branche unter den Einfuhren aus Griechenland, der Türkei und Spanien.
Die Senkung der Einfuhrzölle im November 2000 wurde von der Importbranche „mit Wohlwollen“ aufgenommen, während sich in der Industrie „eine gewisse Unruhe“ breit machte. Jacques Sarraf, Präsident des Verbands der libanesischen Industrie, plädiert für „eine bessere Abstimmung zwischen den jeweiligen Branchen im Libanon und in Syrien – auch in Form von Zusammenschlüssen.“ Fady Gemayel, Präsident des Verbands der Papierhersteller, verweist darauf, dass in den „fetten Jahren“ vor dem Krieg die Monetarisierungsrate (also das umlaufende Geld plus Bankeinlagen im Verhältnis zum BIP) bei 1,3 lag, als sie in den USA nur 0,97 betrug: „Diese Geldströme flossen nicht in den produktiven Sektor, sondern überwiegend in Immobilien oder Dreiecksgeschäfte.“ Das Land spielte also nur eine Vermittlerrolle zwischen den Exportländern und ihren kommerziellen Endabnehmern. Zur ideologischen Bemäntelung bemühte man damals die Tradition der legendären „Phönizier“. Es wäre ein Wunder, wenn sich das ausgerechnet heute, unter den Bedingungen einer ungebremsten Deregulation, ändern sollte.
„Für die weitere Entwicklung gibt es nur einen Weg“, erklärt der libanesische Wirtschaftsminister vor dem Arabischen Rat für Industrieentwicklung. Die Öffnung der Grenzen und der Abbau der Handelsschranken zwinge dazu, „sich komplett auf die Globalisierung einzulassen“.4
Durch die Privatisierung staatlicher oder halbstaatlicher Unternehmen (Telefonfestnetz, Tabakmonopol, staatliche Elekrizitätswerke) hofft die Regierung knapp 5 Milliarden Dollar einzunehmen. Mit ihnen will man Schulden abtragen und „das Vertrauen der Investoren zurückgewinnen“. Der Ministerpräsident verweist darauf, dass „Gewinn bringende Investitionen gerade nicht in wohlhabenden und politisch stabilen Ländern zu machen sind. Im Libanon sind die Preise dafür sehr niedrig, und ein kluger Investor zeichnet sich dadurch aus, dass er günstig kauft und auf Gewinne spekuliert, wenn die Preise steigen.“5
Begleitet wird dieses „Wirtschaftsprogramm“ von Erklärungen, die eine stereotype und unklare Mixtur aus dem ideologischen Begriff „minimale Staatseingriffe“ und der Pflicht zur Reduzierung der astronomischen Verwaltungskosten sind. Der Staat dürfe „nur die für eine langfristige Planung wichtigsten Funktionen beibehalten“, zugleich soll er aber der „Zivilgesellschaft“ die Möglichkeit bieten, „Verantwortung bei der Planung und Durchführung wirtschaftlicher Maßnahmen zu übernehmen“.6
Doch diese „Modernisierungsabsichten“, die mit vielen Konkursen kleiner und mittlerer Unternehmen einhergehen, könnten rasch an ihre Grenzen stoßen. In den Abkommen von Taïf7 ist das System des institutionellen Ausgleichs zwischen den ethnisch-religiösen Gemeinschaften festgeschrieben, die bei der Verteilung von Pfründen die entscheidende Rolle spielen. Die Auseinandersetzungen zwischen den Interessengruppen der verschiedenen Gemeinschaften werden vornehmlich innerhalb der staatlichen Verwaltung ausgetragen, etwa im staatlichen Fernsehen, das inzwischen schlicht nicht mehr funktioniert. Die Regierung hat Werbung und Unterhaltung der Privatwirtschaft überlassen und die „politischen Programme“ und die Nachrichtensendungen dem Informationsministerium unterstellt. Viele Beobachter fürchten, dass die Privatisierungen sich am Ende nicht nur nach den Gesetzen des freien Marktes vollziehen, sondern auch nach der traditionellen Methode: als Verteilung des nationalen Besitzstands an die privaten Interessengruppen, die in den verschiedenen Gemeinschaften dominieren. Diese internen Blockierungen haben sich bereits negativ auf die Entwicklung bestimmter Regionen ausgewirkt.
Der Libanon ist in eine schwierige Situation geraten, aus der er sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. Das Scheitern des Friedensprozesses, die verschärften Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis und die Wahl Ariel Scharons, aber auch die Regierungsübernahme des Republikaners George W. Bush in den USA haben die Lage im Nahen Osten deutlich verändert.
Der libanesische Widerstand im Süden hatte die Unterstützung des Staates, aber auch Rückhalt in der Bevölkerung. Seine wichtigste Kraft, die Hisbollah, hat seit den Neunzigerjahren der israelischen Besatzungsmacht und ihren Hilfstruppen mit tödlichen Operationen zugesetzt, bis sich Israel im Mai 2000 aus dem Südlibanon zurückzog. Die Vereinten Nationen beeilten sich, eine vorläufige Demarkationslinie festzulegen (die „blaue Linie“). Damals erhoffte man sich eine baldige, umfassende regionale Friedensregelung. Doch die libanesische Regierung beharrt auf dem offiziellen Standpunkt, es handele sich nur um einen Teilrückzug, weil ein Hochtal, das 1967 während der Kämpfe mit der syrischen Armee von Israel besetzt wurde, noch immer nicht geräumt sei.
Andererseits hat der israelische Rückzug zu einer erneuten Diskussion über die militärische Präsenz Syriens im Libanon geführt. Selbst Drusenführer Walid Dschumblat, ein Verbündeter der Regierung in Damaskus, hat erklärt, das Bündnis zwischen den beiden Staaten rechtfertige nicht die ständige Einmischung in die Angelegenheiten des Libanon. Er reagierte damit auf Äußerungen des Patriarchen der christlichen Maroniten. Doch inzwischen sind wieder die alten Parolen aus der Zeit des Bürgerkriegs aufgetaucht („christlicher Osten versus muslimischer Westen“), ebenso wie die längst vergessenen Milizen. Aber auf Initiative von Staatspräsident Emile Lahoud ist es rasch gelungen, in einer Reihe von Vermittlungsgesprächen die Gemüter zu beruhigen. Außerdem begann Syrien Mitte Juni, Truppen aus dem Libanon abzuziehen. Die Bevölkerung hat ohnehin andere Sorgen: Sie kämpft mit den Folgen der Wirtschaftskrise und hofft auf bessere Lebensbedingungen.
dt. Edgar Peinelt
* Soziologe und Schriftsteller, Mitautor von „Informe sobre el conflicto y la guerra de Kosovo“, Madrid (ediciones del Oriente y del Mediterraneo) 1999.