Demokratie in Zeiten des Embargos
Von KENDAL NEZAN *
Zehn Jahre ist es her, dass die Westmächte, unter Berufung auf die Resolution 688 des UN-Sicherheitsrats über Interventionen zu humanitären Zwecken, den Beschluss fassten, im Nordirak eine „Sicherheitszone“ einzurichten. Die Maßnahme sollte dazu dienen, den etwa zwei Millionen Kurden, die vor der Invasion irakischer Truppen in den Iran oder die Türkei geflüchtet waren, die Rückkehr an ihre Wohnorte zu ermöglichen. Die Sicherung dieses Gebiets von etwa 40 000 Quadratkilometern, in dem 3,5 Millionen Kurden leben, übernahm eine multinationale Luftstreitmacht, die in der Türkei stationiert wurde und zu der bis Dezember 1995 auch eine französische Fliegerstaffel gehörte.
Ursprünglich ging es dem Westen darum, dem Bündnispartner Türkei zur Seite zu stehen, für den der Zustrom hunderttausender Kurden aus dem Irak in die Krisenregion des türkischen Kurdistan eine neue Belastung bedeutete. Der Irak setzte dieser Maßnahme, die drei Monate nach dem Ende des Golfkrieges getroffen wurde, keinen Widerstand entgegen. Bagdad zog vielmehr ab Oktober 1991 alle Verwaltungsbeamten aus den drei Regierungsbezirken der Schutzzone (Duhok, Erbil und Suleimaniah) ab und zahlte den Staatsdienern, die sich zum Bleiben entschlossen, keine Gehälter oder Pensionen mehr. Weil die Türkei die Entstehung eines autonomen Kurdenstaates befürchtete, waren die Westmächte aber auch nicht bereit, die Verantwortung für die Bevölkerung in der Schutzzone zu übernehmen und dort eine eigene Verwaltung aufzubauen oder ein UN-„Protektorat“ einzurichten, wie es dann 1999 im Kosovo geschah – eine kurdische Selbstverwaltung in der Region kam erst recht nicht in Frage.
Die westliche Haltung war eindeutig: Man war bereit, den Kurden die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen und sie vor Angriffen der irakischen Armee zu schützen, aber um ihre inneren Angelegenheiten und den Wiederaufbau des zerstörten Landes sollten sie sich selbst kümmern. Die Kurden, die seit dreißig Jahren in einem Kriegsgebiet leben, sahen sich damit vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt – ein Land von der Größe der Schweiz zu verwalten, in dem 90 Prozent der etwa 5 000 Dörfer und rund 20 Städte vollkommen zerstört waren, wo keine wirtschaftliche Infrastruktur mehr existierte, wo die Felder vermint und die Bauern vertrieben waren. Fast 80 Prozent der Erwerbsbevölkerung waren arbeitslos, und die irakische Regierung hatte das Kurdengebiet von der Stromversorgung abgeschnitten und ein Heizöl- und Benzinembargo verhängt.
Unter diesen katastrophalen Bedingungen war Improvisationstalent gefragt. Zunächst übernahm die „Einheitsfront Kurdistan“, ein Zusammenschluss von acht politischen Parteien, die Regierungsgewalt und organisierte Wahlen zu einem kurdischen Parlament, die dann am 18. Mai 1992 stattfanden. Stärkste Formation in der neuen Volksvertretung wurde die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Massud Barsani (51 Sitze), gleich darauf folgt die Patriotische Union Kurdistans (PUK) von Dschalal Talabani (49 Sitze). Die assyrisch-chaldäische Partei (Vertretung einer christlichen Minderheit von etwa 30 000 Kurden) errang 5 Sitze, alle übrigen Gruppierungen (Kommunisten, Sozialisten, Islamisten) scheiterten an der Fünfprozenthürde, wurden aber an der Regierung der nationalen Einheit beteiligt, die im Juli 1992 zusammentrat.
Die neue Führung hoffte natürlich auf rasche Anerkennung dieser demokratisch verfassten Institutionen durch die westlichen Mächte und auf finanzielle Hilfen. Sie wurde enttäuscht: In Ankara, Damaskus und Teheran vergaß man vorübergehend alle Streitigkeiten, und die Außenminister kamen im Dreimonatsrhythmus zusammen, um „die Lage im Nordirak zu erörtern“. Die USA und in ihrem Gefolge die europäischen Staaten waren nur darauf bedacht, den türkischen Bündnispartner nicht zu verprellen, und verweigerten dem demokratischen Projekt in Kurdistan jede Unterstützung.
So war dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt – ohne finanzielle Mittel und unter dem Druck des irakischen Embargos konnten die demokratischen Strukturen keinen Bestand haben. Im Mai 1994 führten Streitigkeiten um die Aufteilung der dürftigen Einnahmen aus Einfuhrzöllen zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern von KDP und PUK. Die Nachbarländer heizten den Konflikt an, der bis 1997 dauerte und fast 3 000 Tote forderte. Zehntausende flohen aus ihren Wohnorten. Dann kamen die verfeindeten Lager zu der Einsicht, dass die Auseinandersetzung militärisch nicht zu entscheiden war. Und sie machten sich überdies klar, dass die Regionalmächte (Iran, Irak und die Türkei) im Falle eines Sieges die Vorherrschaft einer bestimmten politischen Kraft als Störung des Machtgleichgewichts auffassen und darum vereiteln würden.
Im November 1997 kam ein Waffenstillstandsabkommen zustande, und im September 1998 trafen sich die Führer der Konfliktparteien, Barsani und Talabani, in Washington zu Friedensgesprächen unter der Schirmherrschaft der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright und erklärten offiziell das Ende der Feindseligkeiten.
Fragwürdiges Flickwerk
FÜR Massud Barsani bedeutete das in Washington geschlossene Abkommen, dass sein Wahlsieg vom Mai 1992 anerkannt wurde und er eine Übergangsregierung bilden konnte, die mit der Vorbereitung von Neuwahlen betraut wurde. Für Dschalal Talabani zahlte sich die Friedensvereinbarung aus, weil seiner Organisation ein Teil der Zolleinkünfte zugesichert wurde. Inzwischen haben die Konfliktparteien zahlreiche Probleme ausgeräumt und eine grundsätzliche Annäherung zwischen den Positionen von KDP und PUK erzielt.
Die irakischen Kurden haben seither das schmerzliche und unfreiwillige Experiment unternommen, ihre Verwaltung zu dezentralisieren. Heute ist das von den Westmächten geschützte Gebiet faktisch in eine Nord- und eine Südregion geteilt, die über ihren jeweils eigenen Verwaltungsapparat verfügen und faktisch miteinander konkurrieren. Der weitaus reichere und relativ gut verwaltete Norden wird von einer Koalitionsregierung geführt, die in Erbil residiert. Entscheidende politische Kraft ist die KDP, doch rund ein Drittel des Kabinetts besteht aus Vertretern kleiner Gruppierungen (der assyrisch-chaldäischen und ezidischen Minderheiten) und aus „unabhängigen“ Parlamentariern. Hier ist es gelungen, etwa 70 Prozent der zerstörten Dörfer und Städte wieder aufzubauen, das Straßennetz wieder herzustellen und auszubauen und für eine funktionierende Telekommunikation zu sorgen. In Fragen der Infrastruktur (Gesundheit, Bildung, Verkehr, Energie) arbeiten die Nord- und die Südregion zusammen.
Der Norden verfügt inzwischen über 1 950 Grundschulen und eine Reihe von Fachschulen und Gymnasien – fast alle Kinder können eingeschult werden. Es gibt auch zwei Universitäten, in Dohuk und Erbil. Die Seminare und Vorlesungen werden je nach Fachgebiet auf Kurdisch, Arabisch oder Englisch abgehalten; in den Grundschulen und höheren Schulen wird dagegen auf Kurdisch unterrichtet. Für die Studenten gibt es durchaus akzeptable Wohnheime auf dem Campus, auch die Professoren haben dort ihre Dienstwohnungen, und ihr Gehalt (140 Dollar im Monat) beträgt das Siebenfache dessen, was ihre Kollegen im Irak verdienen.
Auch der Regierung im Süden des Kurdengebiets, die von der PUK gestellt wird, gehören einige Vertreter kleiner Parteien und „unabhängige“ Abgeordnete an. An der Universität von Suleimaniah haben sich 3 500 Studenten eingeschrieben, und derzeit besuchen 367 755 Schüler die 1 677 Grundschulen und weiterführenden Schulen der Südregion. Allerdings gibt es, im Unterschied zum Norden, noch keine allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen.
Die lokalen Behörden bemühen sich vorrangig um die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsdiensten. Alle staatlichen Leistungen sind kostenlos. Zerstörte Krankenhäuser wurden wieder instand gesetzt und neue wurden geschaffen. Allerdings musste man wegen des Embargos die medizinischen Geräte häufig auf dem Schwarzmarkt kaufen, weswegen im Übrigen auch Medikamente zwar nicht knapp, aber oft von schlechter Qualität sind.
Für Sicherheit und Ordnung in den Städten sorgen Polizeikräfte, die in zwei Polizeischulen ausgebildet werden. Zwei weitere Ausbildungsstätten dienen der Erfassung und Ausbildung der Peschmerga-Kämpfer, einer ehemaligen Guerillatruppe, aus der eine professionelle Armee werden soll. Das kurdische Parlament tagt in Erbil, wo auch der Oberste Gerichtshof seinen Sitz hat.
Noch deutlicher zeigt sich die allgemeine Aufbruchstimmung im Bereich der Kultur. Nach all den Jahren, in denen sie schweigen mussten, wollen die Menschen nun die verlorene Zeit aufholen. 3 Tageszeitungen und mehr als 130 Wochenzeitungen und Zeitschriften befriedigen heute das Bedürfnis nach Bildung und Information und decken alle Bereiche ab, von Literatur und Film bis Geschichte und Computerfragen. Außerdem gibt es etwa ein Dutzend Fernsehsender, die Programme für jeden Geschmack bieten – zwei davon werden über Satelliten ausgestrahlt und können nicht nur von allen Kurden im Nahen Osten, sondern auch von den Emigranten in Europa empfangen werden. Mit den Parabolantennen – die im Iran wie im Irak verboten sind – haben die Kurden auch die Möglichkeit, internationale Programme zu sehen. Das Angebot an Zeitungen ist vielfältig, sogar die Blätter des irakischen Regimes sind erhältlich. Die assyrisch-chaldäische Minderheit verfügt über 14, die turkmenische über 9 Schulen, in denen in ihrer Sprache unterrichtet wird, zudem haben sie ihre eigenen Rundfunk- und Fernsehprogramme. Und die Kurden, die der ezidischen Glaubensgemeinschaft angehören (und lange Zeit von den Muslimen unterdrückt und als „Teufelsanbeter“ diskriminiert wurden), können heute ihre Religion öffentlich ausüben, und ihre Kultstätten stehen unter dem Schutz des Staates.
Eine wichtige Rolle für die sich entwickelnde Zivilgesellschaft spielen die Frauen, die vor allem gegen die vom Iran unterstützten islamistischen Gruppierungen Front machen und sich gegen archaische Kulturtraditionen zur Wehr setzen. Solche internen Entwicklungen und das Bemühen um Anerkennung durch den Westen haben zu einer Veränderung der politischen Landschaft im irakischen Kurdistan beigetragen. Zwar sind die renommierten Führer des bewaffneten Widerstands noch keineswegs bereit, sich als einfache Staatsbürger oder bloße Mandatsträger zu verstehen, doch das ursprüngliche (und für die Region typische) Modell des Einparteienstaats wurde immerhin schon abgelöst durch eine Art Versuchsanordnung für eine pluralistische Demokratie.
Dass es dem quasiautonomen Kurdistan wirtschaftlich nicht allzu schlecht geht, hat vor allem mit der UN-Resolution 986 zu tun, die das Programm „Öl gegen Lebensmittel“ für den Irak ermöglicht hat. Dieses Programm gilt nämlich auch für 13 Prozent der Einkünfte aus dem Verkauf von Öl, das in den drei irakischen Regierungsbezirken des unter internationalem Schutz stehenden Kurdengebiets gefördert wird. Neun UN-Organisationen sind in Kurdistan tätig, um die Verwendung der Gelder zu überwachen: Sie entscheiden, was gefördert wird – derzeit sind es Projekte in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau, Infrastruktur und Wasserversorgung für Flüchtlingslager. Außerdem gibt es ein spezielles Ernährungsprogramm für die Kurdenregion. Die kurdische Selbstverwaltung zeigt sich bei der Förderung der Projekte kooperativ. Die Federführung liegt jedoch bei den UN-Organisationen, die mit Zustimmung aus Bagdad und „im Namen der irakischen Regierung“ (die sich aus der Kurdenregion zurückgezogen hat) bestimmte Projekte finanzieren und begleiten, was sich in der Praxis oft als langwieriges und schwieriges Unterfangen erweist.
Seit 1997 hat die autonome Kurdenregion 4,8 Milliarden Dollar erhalten, 3 Milliarden davon konnten bereits eingesetzt werden, die restlichen Beträge werden erst freigegeben, wenn die geplanten Projekte die Zustimmung der irakischen Regierung gefunden haben. Aber der Geldsegen zeitigt bereits Wirkung – nicht zuletzt weil in den Kurdengebieten Geschäftssinn und eine funktionierende Verwaltung zusammenkommen. Die Region hat sich in eine gigantische Baustelle verwandelt: Es entstehen neue Straßen, neue Schulen, Bibliotheken, Sozialwohnungen, Sportplätze, Gewerbebetriebe usw. Insgesamt haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung merklich verbessert.
Die wichtigsten Einkünfte zur Finanzierung der kurdischen Selbstverwaltung sind die Zölle, die auf den Lkw-Verkehr aus der Türkei und dem Iran in den Irak erhoben werden. Außerdem gibt es Deviseneinnahmen aus der Überwachung der Pipeline von Kirkuk über Jumur nach Talik und aus dem grenzüberschreitenden Handel, vor allem aus Ölexporten. Um die Wirtschaft anzukurbeln, haben die kurdischen Behörden ihr Verwaltungsgebiet zu einer Art „Freihandelszone“ gemacht, von der aus die Märkte des Iran und des Irak mit den verschiedensten Produkten versorgt werden, hauptsächlich mit Zigaretten. Aus solchen Quellen stammen die jährlichen Einnahmen von etwa 200 Millionen Dollar, die es erlauben, mehr als 250 000 Beamte und etwa 80 000 Sicherheitskräfte zu beschäftigen. Über die Stabilität des kurdischen Dinar wacht die Zentralbank von Kurdistan – bislang mit Erfolg.
Zum ersten Mal seit mehr als hundert Jahren ist es den Kurden gelungen, einen Teil ihres historischen Siedlungsgebiets für eine so lange Zeitspanne in eigener Regie zu verwalten. Und alles in allem durchaus mit Erfolg. Es herrscht also Aufbruchstimmung in Kurdistan, und das weckt auch neue Hoffnungen bei den 25 bis 30 Millionen Kurden in der Türkei, im Iran und Syrien. Die etwa 2 Millionen Kurden in den drei ölreichen irakischen Provinzen Kirkuk, Sindschar und Chanakin dagegen leiden nach wie vor unter der Willkürherrschaft des Regimes in Bagdad, das eine massive Arabisierungskampagne durchführt – mit dem Effekt, dass die Auswanderung der Kurden nach Europa ständig zunimmt.
Bislang haben die beiden großen kurdischen Parteien ihre Differenzen noch nicht vollständig überwinden können. Sie arbeiten zusammen, aber immer wieder kommt es zu Konflikten, die einen Rückfall in alte Feindseligkeiten möglich scheinen lassen. Zum anderen versuchen die Nachbarstaaten mit einem hohen kurdischen Bevölkerungsanteil nach wie vor, die Konsolidierung eines autonomen Kurdistan zu verhindern. Ohne die angloamerikanische Luftüberwachung und die Einkünfte von 13 Prozent der Erlöse aus dem Verkauf des irakischen Öls (gemäß UN-Resolution 986) könnte das kurdische Staatsgebilde nicht überleben.
dt. Edgar Peinelt
* Leiter des Kurdischen Instituts, Paris.