10.08.2001

Die vernetzte Bedrohung

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Die vernetzte Bedrohung

Von JEAN-CLAUDE GUILLEBAUD *

Wir sind in einem verblüffenden Paradox gefangen: Eine unmerklich wirkende Logik zieht uns Tag um Tag ein Stück Boden unter den Füßen weg. Die Basis der demokratischen Ideen, der demokratischen Werte und Ziele, die wir mit aller Kraft vertreten, wird mehr und mehr unterminiert. Wir leben und denken gleichsam über dem Abgrund, dem wir aber nicht mehr entrinnen können.

Wir glauben – mit gutem Grund – an die Menschenrechte. Deren zunehmende Durchsetzung und Ausbreitung zu Beginn dieses neuen Jahrtausends verkündete in unseren Augen weniger das Ende der Geschichte an als vielmehr die (zumindest vorübergehende) Niederlage von Gewaltherrschaft und Unterdrückung. Vorbei sind Faschismus, Kommunismus, Nationalsozialismus, vorbei auch die ganz gewöhnlichen Diktaturen und die Abschottung ihrer Bürger!

Zugleich ist unser Bewusstsein geschärft für das, was als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gelten hat. Ein Verbrechen, das den Opfern des Mordens noch ihre Menschenwürde abspricht, das den Massakern noch die Verstümmelung der Sinne hinzufügt. Wir haben die Bilder noch in lebhafter Erinnerung. Um für alle Zukunft solche unmenschlichen Gräueltaten und Vernichtungsakte zu verhindern, sind wir dabei, ein neues internationales Recht zu entwickeln, mit klar definierten Straftatbeständen und Gerichten und irgendwann auch einer speziellen „Polizei“. Ein Credo, das wir bis zur Erschöpfung herunterbeten.

Doch während wir noch argumentieren und moralisieren, werden hinter unserem Rücken ohne viel Lärm und Aufhebens zentrale Fragen verhandelt, die wir vorerst lieber nicht zur Kenntnis nehmen möchten. Was genau ist ein Mensch? Was bedeutet „Humanität“? Ist sie nicht eine Idee, die revidierbar ist und sich fortentwickelt?

So unglaublich es scheinen mag: Die neuerliche Infragestellung des Humanismus geht nicht wie vormals von barbarischen Diktatoren oder verrückten Despoten aus, sie kommt direkt aus der avancierten wissenschaftlich-technischen Welt, ja sie ist eng verknüpft mit den atemberaubenden Versprechungen eben dieser Wissenschaft – als ob dies der Preis sei, der eben zu zahlen ist, oder das Risiko, das eingegangen werden muss.

Man will den Menschen besser heilen können, deshalb muss er infrage gestellt werden. Von der Biologie bis zur Neurologie, von der Genetik bis zur Kognitionsforschung arbeitet ein ganzes Heer von Forschern und Wissenschaftlern daran, die Gewissheiten zu erschüttern, an die wir uns noch immer klammern.

Die Infragestellung der Menschlichkeit des Menschen wird begünstigt durch unsere mangelnde Reflexion über eine Entwicklung, die Michel Beaud das „Umkippen der Welt“1 genannt hat. In Wahrheit erleben wir drei gleichzeitig stattfindende Revolutionen beziehungsweise Mutationen, deren Auswirkungen miteinander verknüpft sind und sich wechselseitig verstärken. Ihre komplizierten Verschränkungen verstellen häufig den Blick auf die neuen, dramatischen Ungerechtigkeiten und Unterdrückungsstrukturen, die sie unweigerlich hervorbringen.

Die erste Revolution ist natürlich der weltweite ökonomische Umbruch. Er hat bereits im 19. Jahrhundert begonnen und erlebt nun, seit dem Ende des Kommunismusm, eine neue Hochzeit. Kennzeichen dieses Umbruchs sind das rasante Verschwinden der Grenzen, die Freisetzung großer internationaler Wirtschaftskräfte, der Rückzug – ja geradezu die Auflösung – der Nationalstaaten als Regulatoren der ökonomischen Entwicklung.

Dieser Typus von Globalisierung hat den Geist – also den Markt – aus der Flasche – also von der Demokratie – befreit, die ihn bislang begrenzt und gezähmt gehalten hat. Diese Globalisierung setzt zwar auch unzweifelhaft große Hoffnungen frei, wie es seinerzeit schon die industrielle Revolution getan hat, doch sie birgt zugleich auch erhebliche Bedrohungen. Die augenfälligste ist die allmähliche Erosion des Politischen, das heißt der Möglichkeit, im gemeinsamen Handeln auf den Lauf der Dinge einzuwirken.

Die zweite Revolution ist die informationstechnologische bzw. elektronische. Sie vollzieht sich parallel zur ökonomischen. Die wichtigsten Folgen beginnen soeben erst spürbar zu werden. Den Begriff „Informatik“ hat im Jahre 1962 Philippe Dreyfus aus den Wörtern „Information“ und „Automatik“ gebildet. Das Wort bezeichnet sowohl die Technologie selbst wie auch die Wissenschaft, die computer science2 , auf der diese fußt.

Noch stehen wir ganz am Anfang eines Prozesses von gewaltiger Reichweite, der im Begriff ist, unser Verhältnis zu Zeit und Raum tief greifend zu verändern. Beide werden nach und nach gewissermaßen abgeschafft sein zugunsten einer verwirrend gleichförmigen, allgemeinen Raum-Zeit-Dimension: der virtuellen Unmittelbarkeit. Der Durchbruch des digitalen Prinzips, von Internet und Cyberspace, lässt einen „sechsten Kontinent“ erstehen, dessen Besonderheit nicht allein darin besteht, dass er entterritorialisiert ist, sondern auch von der Unmittelbarkeit gelenkt und beherrscht wird. Gegenwärtig verlagert sich – in erschreckender Regellosigkeit – eine menschliche Tätigkeit nach der anderen auf diesen seltsamen Kontinent: Handel und Finanzen, Kultur, Kommunikation, Wirtschaft usw.

Die Geschwindigkeit, mit der dieser Auszug sich vollzieht, wird sich mit den technologischen Entwicklungen noch weiter beschleunigen. Zur Zeit stehen die Nationalstaaten wie die Demokratie als solche machtlos vor diesem neuen digitalen Kontinent, der voller Gefahren ist und insofern einem wilden Dschungel gleicht. Was taugen unsere internationalen Vereinbarungen, unsere Wirtschaftsabkommen, unsere Regeln noch, wenn sie sich an einem weltumspannenden Nicht-Ort verflüchtigen, wo die Stärksten sich bereits ihre neuen Herrschaftsgebiete sichern?

Die dritte Revolution ist die genetische Revolution. Sie wird in hohem Maße von den Lobbyisten der Biotechnologie gesteuert und folgt – von Ausnahmen abgesehen – weniger der Bioethik als den Marktgesetzen.

Wider das fragmentierte Denken

DIESE drei Revolutionen analysieren wir gewöhnlich getrennt voneinander. Wir wägen die Versprechen und Gefahren mal der einen, mal der anderen ab. Wir debattieren über einzelne Alternativen, sei es im Bereich der Genetik, sei es im Bereich des freien Marktes oder der digitalen Unwägbarkeiten. Der gesamte geistige Überbau ist paralysiert von dieser Fragmentierung des Denkens: Aufsplitterung der Universität in Fachbereiche, Parzellierung des Wissens, Spezialisierung der Forscher, der Lehrenden und Journalisten.

Wirtschaftsfachleute zerbrechen sich den Kopf über die Globalisierung und wie sie womöglich steuerbar wäre – und wagen sich mit ihren Begriffswerkzeugen nur ausnahmsweise auf das Terrain der Biotechnologien. Genetikern und „Ethikern“ wiederum mangelt es oftmals an den Fähigkeiten – und dem Mut –, über die Deregulierung in der Ökonomie oder die von der informationstechnologischen Revolution ausgelösten Erschütterungen auf der Ebene des Symbolischen nachzudenken. Informatiker schließlich sind allzu sehr auf ihre speziellen Forschungen konzentriert, um an die gefährliche Vorherrschaft des Marktes oder die biotechnologische Flucht nach vorn auch nur einen Gedanken zu verschwenden.

Dasselbe gilt auch für die Medien, die ja weitgehend die öffentliche Meinung bestimmen. Wirtschaft, Informatik und Genetik werden unterschiedlichen Sachgebieten zugeordnet und getrennt betrachtet. Die „faszinierende“ Geografie dieser neuen Territorien wird gern – und mit einem Hauch sprachloser Begeisterung – beschrieben, während Überlegungen zu der Frage, welche Wege und Verbindungslinien es zwischen ihnen gibt, kaum auf Interesse stoßen.

Im Grunde hält sich jeder an den Umkreis seines Kirchturms. Das Ergebnis ist die Zerstückelung des Denkens, ein Schubladensystem der Ideen mit gefährlichen Auswirkungen. Genau hier versagt die Politik. Indem wir so verfahren, akzeptieren wir, „dummschlau“ zu bleiben, wie der bedeutende deutsche Theologe Karl Rahner es vor Jahren einmal formuliert hat, unwissentlich im Banne „gelehrter Unwissenheit“3 .

Warum „gelehrte Unwissenheit“? Weil in Wahrheit diese drei miteinander verschwisterten Revolutionen bereits System geworden sind und man schon ganz schön oberflächlich und leichtfertig sein muß, um sie getrennt zu betrachten. Noch begreifen wir kaum, dass die zentralen Probleme, die größten Risiken und wirklich beunruhigenden Fragestellungen nicht unbedingt mit dem einen oder dem anderen dieser Umbrüche zu tun haben, sondern mit der Interaktion aller drei, mit ihrer unkontrollierten Überlagerung und mit der blinden Beschleunigung jedes einzelnen der drei Umbrüche durch die ständige Einwirkung der beiden anderen.

Um ein Beispiel zu nennen: Die neurologischen Forschungen oder die Genetik sind nicht unbedingt und per se problematisch – problematisch ist jedoch, in welch unerhörtem Ausmaß beide Gebiete einer entfesselten Logik des Geldes unterworfen sind. Nicht der Markt als solcher ist demnach gefährlich, sondern die verheerende Anwendung seiner Prinzipien auf bestimmte Disziplinen – in diesem Fall die Biotechnologie –, die doch ausschließlich dem politischen Willen und moralisch-ethischen Regulierungen unterworfen sein sollten.

Mit anderen Worten, der ökonomisch verengte Blick macht den auf die Genforschung verengten Blick gefährlich, und unter dessen Einfluss kann wiederum auch der auf die Informatik verengte Blick zur Gefahr werden. Das gilt genauso in umgekehrter Richtung, und diese Wechselwirkung setzt sich immer weiter fort.

Somit besteht eine der dringlichsten Aufgaben darin, die drei Bereiche aufeinander zu beziehen, sie gewissermaßen zusammenzudenken. Die Gewalt der Veränderungen zwingt uns – wenn wir diese wirklich begreifen und kontrollieren wollen – zu einer beharrlich betriebenen interdisziplinären Arbeit. Wir müssen lernen, die drei historischen Umbrüche im Kontext zu analyiseren. Andernfalls werden wir nicht der „Modernität“ zum Sieg verhelfen, sondern dem historischen Rückschritt, der paradoxerweise hinter dem Rücken der Modernität lauert.

Unsere äußerlich so modernistisch erscheinende Zeit bringt in Wirklichkeit handfeste Atavismen hervor. In der von den Medien gepriesenen Postmoderne existiert mehr Archaisches, als wir uns gemeinhin vorstellen. Hier liegt der Ursprung für einen Großteil der Fehleinschätzungen und Missverständnisse. Benommen von der Fülle der technologischen und wissenschaftlichen Entdeckungen, sind wir in das neue Jahrtausend eingetreten – und entdecken hie und da nur flüchtig den einen oder anderen Aspekt, den wir aus dem letzten Jahrhundert kennen.

Wir sprechen nicht gern darüber, denn instinktiv sträuben wir uns gegen den Glauben, die Geschichte könne sich rückwärts bewegen. Lieber feiern wir die siegreiche wissenschaftlich-technische Welt – ihre Versprechungen, Fortschritte, Absonderlichkeiten –, als die Hypothese zu erwägen, dass mit ihr ein wie immer gearteter historischer Rückschritt einhergehen könnte. Das ist ein Fehler.

Die Geschichte bewegt sich niemals so selbstverständlich vorwärts wie ein Fluss, auch nicht die Geschichte der Wissenschaften. Sie kann sich mäandernd zuweilen eben auch nach rückwärts entwickeln. Sie bewegt sich in stotternden Sprüngen oder zieht und dehnt sich wie ein Akkordeon. Sie setzt sich auch mittels Listen durch, hat einmal Hegel befunden. Tatsache ist, dass im unübersichtlichen Wust der gegenwärtigen Umwälzungen gewisse Rückwärtsbewegungen unbestreitbar ins 19. Jahrhundert zurückführen.

Das sich selbst überlassene wissenschaftlich-technische Projekt lässt, wo es auf den Menschen angewendet wird, Herrschafts- und Unterdrückungsformen wieder aufleben, die das unmittelbare Echo einer wiedererkennbaren Vergangenheit sind. Es produziert Rechtfertigungen für einen Verzicht auf demokratische Kontrolle und legt die Grundlagen für einen neuen Antihumanismus. Dieser Rückfall ins 19. Jahrhundert ist so merkwürdig wie faszinierend. Ob Kolonialismus, Rassismus, Sklaverei, Eugenik oder Nihilismus – eine ganze Reihe von geistig-sittlichen Ordnungssystemen, von Projekten und vermeintlich schicksalhaften Gegebenheiten sind – frisch aufgeputzt – erneut erstanden und werfen uns historisch unzweideutig zurück.

Werden mit dem möglichen Klonen von Menschen nicht die geistigen Kategorien wieder salonfähig, die Grundlage der Sklaverei waren? Läuft die Genetik mit ihren Quotienten und ihrem Begriff einer vorgeblichen „Normalität“ nicht Gefahr, einen neuen Typus von Rassismus hervorzubringen? Begünstigen die Biotechnologien nicht bereits jetzt eine neue koloniale Eroberung? Um bei diesem letzten Beispiel zu bleiben: Es ist klar erkennbar, dass eine globale Praxis um sich greift, die mutatis mutandis an alte Eroberungsstrategien erinnert. Rund um den Erdball hat eine gigantische Jagd nach Genen begonnen. Dank der Patentierbarkeit des lebenden Organismus konkurriert dabei eine Hand voll Großunternehmen um das eine seltene Gen, die nützliche Bakterie, das ertragreiche Saatgut, die wertvolle Tierart. Was gestern noch der schönen kostenfreien Welt angehörte (und also jene res nullius des römischen Rechts darstellte) oder das Resultat menschlicher Arbeit war, die unzählige Generationen von Bauern geleistet haben, das wird heute privatisierbares Gut. Das neue genetische Eldorado muss möglichst umgehend abgesteckt und aufgeteilt werden, mittels juristischer Barrieren, Ausschlusskriterien, kommerzieller (Güte-, Herkunfts-, Qualitäts-) Siegel usw.

Die Staaten der einstigen Dritten Welt begreifen allmählich, welche neue Abhängigkeit ihnen droht. Statt ihrer Rohstoffvorkommen könnte ihr immaterielles genetisches Gut zum begehrten Objekt eines erneuten Kolonialismus werden.

Dies ist nur ein Beispiel. Doch es steht symbolisch für die dringliche Aufgabe, die wir bewältigen müssen: eine kluge, vernünftige und streitbare Kritik an diesen drei ineinander verwobenen und sich wechselseitig generierenden Umbrüchen zu erarbeiten. Wenn dies nicht gelingt, könnten diese Umbrüche nicht nur über das demokratische Projekt, sondern auch über die Humanität des Menschen die Oberhand behalten.

dt. Passet/Petschner

* Schriftsteller und Essayist, Verfasser unter anderem von: „Die Tyrannei der Lust. Sexualität und Gesellschaft“, München (Luchterhand, im Erscheinen), und „La Refondation du monde“, Paris (Seuil) 1999. Der vorliegende Text wurde dem ersten Kapitel seines jüngsten Werks entnommen: „Le Principe d’humanité“. Es erscheint im August bei Seuil.

Fußnoten: 1 Michel Beaud, „Le Basculement du monde“, Paris 1997. 2 Siehe hierzu Philippe Breton, „Histoire de l’informatique“, Paris 1987. 3 K. Rahner in einem Vortrag, den er am 11. April 1983 im Centre Sèvres hielt. Neuabdruck Études, Sept. 1999.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2001, von JEAN-CLAUDE GUILLEBAUD