10.08.2001

Das unausweichliche Ritual

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Das unausweichliche Ritual

DIE spektakulären Aktionen der Globalisierungsgegner sollten die Bedeutung anderer sozialer Auseinandersetzungen nicht in den Hintergrund drängen. Genannt seien der Kampf der indischen Bauern gegen die Biopiraterie von Monsanto, die Bewegung der Landlosen in Brasilien oder der weltweite Marsch der Frauen; nicht zu vergessen die Aktionen der großen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der zahlreichen Initiativen für gerechten Handel, für einen Schuldenerlass und ähnliche Forderungen.

Bis Mitte der Neunzigerjahre endeten Demonstrationen gegen die marktkapitalistische Globalisierung nur selten mit gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Doch seit einigen Jahren sind solche Zusammenstöße zu einem regelrechten Ritual geworden, an dem offenbar kein Weg vorbeiführt. Die Tagungsstätte verwandelt sich bei jedem Wirtschaftsgipfel in eine Hochsicherheitszone, hermetisch abgeriegelt von Sondereinsatzkommandos, die in ihrer Präventionswut jeden Zugang verweigern und mitunter die gesamte Stadt in einen Belagerungszustand versetzen. Dennoch bleiben die gefürchteten Zusammenstöße nicht aus, und die polizeiliche Repression wird von Gipfel zu Gipfel härter. Während die Ordnungskräfte professionelle Randalierer oft gewähren lassen, gehen sie gegen gewaltfreie Demonstranten mit äußerster Brutalität vor. Zahlreiche Augenzeugen berichten von Misshandlungen. Nicht wenige NGO-Vertreter räumen daher ein, dass sie in Seattle, Prag, Nizza, Québec und Genua ihre „demokratische Unschuld“ verloren haben, und damit meinen sie ihren Glauben an die Möglichkeit, in demokratischen Ländern mit demokratischen Mitteln zu kämpfen.

Wie lässt sich diese härtere Gangart erklären? Aus welchen Gründen wird das Demonstrationsrecht – wenn auch zeitlich und örtlich limitiert – drastisch eingeschränkt oder bisweilen gar suspendiert? Weshalb gelten die aus aller Welt herbeiströmenden Aktivisten, die in der besten Tradition der Friedens-, Ökologie- und Drittwelt-Bewegung stehen, in den Augen der Regierenden als „unerwünschte Personen“, die wie eine Horde von Eindringlingen, Randalierern und Chaoten behandelt werden?

Das liegt zum einen wohl an den Erfolgen der Globalisierungsgegner. Die Verhinderung des Multilateralen Investitionsabkommens (MAI) im Oktober 1998 und das Fiasko der Millenniumsrunde in Seattle im Dezember 1999 waren für die politische Führung der Industrieländer zwei Niederlagen von hoher symbolischer Bedeutung, da sie zwei Pfeiler der Globalisierung betreffen: die Freiheit der Finanzmärkte und die Freiheit des Handels. Besonders schmählich war die Niederlage beim MAI. Damals gab die Entscheidung eines der führenden kapitalistischen Länder den Ausschlag: Die französische Regierung hatte ihre Zustimmung unter dem Druck der Demonstranten zurückgezogen. Ebenso unerträglich war das Debakel von Seattle, denn hier zeigte sich, dass die meisten Regierungen der so genannten Entwicklungsländer die Kritik der nördlichen Globalisierungsgegner in vielen Punkten teilen. Vor dem Hintergrund der Straßenaktionen fanden sie schließlich den Mut, die Fortführung der Verhandlungen mit ihrem Nein zu verhindern.

Diese beiden Siege der Globalisierungsgegner trugen maßgeblich dazu bei, die Prinzipien und Praktiken der „Herren des Kapitals“ in Verruf zu bringen und die Glaubwürdigkeit der Kämpfe für eine „andere Globalisierung“ zu stärken – ein für Wirtschaft und Politik inakzeptables Ergebnis. Das ist einer der wesentlichen Gründe für die Verschärfung der polizeilichen Repression. Der friedliche Protest lässt sich nicht mehr als „Folklore“ abstempeln, alle Versuche, die angebliche Haltlosigkeit der globalisierungskritischen Argumentation „wissenschaftlich“ zu beweisen, sind gescheitert. Die Mitverantwortung der Ordnungskräfte am Ausbruch der Gewalt kann man sich nicht eingestehen, und so bleibt als Ausweg nur die Kriminalisierung des Gegners.

Der zweite Grund für die härtere Gangart der Ordnungskräfte dürfte mit einem zentralen Merkmal der Globalisierung zusammenhängen: Sie war und ist in erster Linie ein Resultat der militärischen und wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten. Der damit einhergehende sozioökonomische und kulturelle Wandel führte zu einer umfassenden Amerikanisierung der Weltgesellschaft. Nicht erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeigt sich, dass die Globalisierung der Märkte, des Kapitals und der Produktion ein „Produkt“ made in USA ist, dessen Verbreitung sich auch und gerade der weltweiten Präsenz der amerikanischen Streitkräfte verdankt. Es war letztlich diese Präsenz, die den „globalisierten“ Produkten, von Coca-Cola bis Walt Disney, von McDonald’s bis Microsoft, Tür und Tor geöffnet hat.

Vor diesem Hintergrund gewinnen die Regierenden der USA und ihrer „Verbündeten“ zunehmend den Eindruck, dass sich jede globalisierungskritische Demonstration gegen das kapitalistische Weltsystem selbst und gegen die USA und ihre „Verbündeten“ richtet. Das Pentagon und eine Reihe anderer US-Institutionen waren daher schnell mit einer „Theorie“ bei der Hand, mit der sie die quasi „genetische“ Gewalttätigkeit der Globalisierungsgegner beweisen wollten. Der Syllogismus ist von entwaffnender Schlichtheit: Da die Protestierer das Weltsystem, seine Regeln, Institutionen und demokratisch gewählten Regierungen infrage stellen, stellen sie auch die Demokratie infrage. Folglich handelt es sich „notwendigerweise“ um gewalttätige Chaoten, veritable „Verbrecher“ an der demokratischen Ordnung, die „neuen Barbaren“ des globalen Zeitalters.

Extrem bedrohlich und Besorgnis erregend ist im Übrigen die Tatsache, dass die meisten politisch Verantwortlichen in Nord und Süd diesen Unsinn offenbar für bare Münze nehmen. Deutlicher lässt sich wohl kaum veranschaulichen, dass die Globalisierung einen immer tieferen Graben aufreißt zwischen den „Herrschaften“ der kapitalistischen Macht und ihren Vasallen auf der einen und den Objekten ihrer Herrschaft auf der anderen Seite. Fast hat es den Anschein, als lebten sie nicht auf demselben Planeten – ein Eindruck, den die Financial Times1 nur bestätigen kann. Zu Beginn dieses Jahres schrieb das internationale Wirtschaftsblatt in seiner Bilanz der beiden Weltforen von zwei Planeten in gegenläufiger Bewegung. Dabei sei der von Porto Alegre im Aufstieg, der von Davos im Abstieg begriffen – und ein Zusammenstoß sei nicht auszuschließen.

RICCARDO PETRELLA

Fußnote: 1 John Lloyd, „Attack on Planet Davos“, Financial Times, 24./25. Februar 2001.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2001, von RICCARDO PETRELLA