10.08.2001

Die Globalisierung als Menschheitstraum?

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Die Globalisierung als Menschheitstraum?

Von DENIS DUCLOS *

Das Universelle reizt und erschreckt, stellt es doch für die Menschen die Abschaffung der Alterität dar – ein tiefer narzisstischer Wunsch, der zugleich größte Angst auslöst1 : Wer sind wir, die wir den Anderen abgeschafft haben? Was wird aus uns, wenn wir, durch ein und dasselbe Recht gleich gemacht und solidarisiert, dennoch als Einzelne einem stummen Kosmos gegenüberstehen?

Lange bevor wir den Verlauf der Längen- und Breitengrade exakt zu bestimmen wussten, ahnten Seeleute und Missionare, dass sie die Fiktion einer radikalen Differenz zwischen sich und den jenseits des Äquators entdeckten „Wilden“ nicht würden aufrechterhalten können. Sie musste durch voluntaristische Ideologien befestigt werden. Doch schon nach wenigen Jahrzehnten sah man sich genötigt, den „Wilden“ eine Seele zuzuerkennen. Weniger als drei Jahrhunderte nach den letzten großen Sklaventransporten macht offiziell niemand mehr den Unterschied zwischen „höheren Rassen“ und „Eingeborenen“. Es wird sogar problematisch – die Anthropologie hat mit dafür gesorgt –, menschliche Gesellschaften in „Hochkulturen“ und „primitive Gruppen“ zu klassifizieren. Und will man der Lektion des beeindruckenden Films „Little Sénégal“2 folgen, dann sind Zivilisiertheit und Wildheit auch nicht mehr dort, wo man sie vermutet: Erstere im Westen, Letztere in Afrika – vielleicht ist es gerade umgekehrt.

Natürlich erhalten die Leitgesellschaften die Differenz durch Herrschaft aufrecht. Aber auch diese Legitimität ist im Schwinden begriffen. Kurzum, der Andere (der Niedere, der Schwache, die Dritte oder die Vierte Welt) ist aufgerufen – sei er Migrant oder nicht – Selbst zu werden. Universalität bedeutet entweder die Gleichheit aller oder sie bedeutet gar nichts.

Angesichts der schwindenden Wirksamkeit der Modelle ungleicher (Auf-)Teilung und Gliederung gegen den Andrang des Universellen haben wir horizontale Trennungen zwischen Völkern oder Streitkräften erfunden, die in Bezug auf ihr „Zivilisationsniveau“ in etwa ebenbürtig sind. Und wir sind mit umso größerem Ingrimm aufeinander losgegangen, als wir uns einander nahe wussten, getrennt nur durch wenige Kennzeichen (deutsche Kultur gegen französische Aufklärung) oder Meinungsnuancen (das Diktat der Märkte versus das Diktat der Staaten).

Und wieder war das Denken schneller als unsere Versuche der Konsolidierung „strategischer Konkurrenzen“. Die Universalität, die jeder Einzelne gegen alle anderen für sich in Anspruch nahm, hat ihre eigenen Wege genommen und alle Prognosen über den Haufen geworfen. War sie nicht als imperial und britisch beglaubigt? Und sie wurde kapitalistisch und amerikanisch. Ist sie nicht durchs Internet zusammengehalten und durch die US-amerikanische Wirtschafts- und Militärspionage kontrolliert? Schon löst sie sich auf in immer neue freie Software und vielfältige Netzwerke, deren zentraler Ort kaum zu bestimmen ist. Man glaubte sie gebändigt durch die Führerschaft der „alleinigen Weltmacht“, und da orientiert sie sich bereits hin auf eine Weltgesellschaft, die in der Lage sein soll, die durch die industriell-finanzielle Anarchie ausgelösten globalen Krisen, Stürme und Verheerungen zu bewältigen.

Je stärker sich also das Universelle in seinen vielfältigen Formen (physisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich, kommunikationell, politisch) verwirklicht, um so unangemessener, unkalkulierbarer und wirkungsloser erweisen sich unsere üblichen Methoden, es durch neuerliche Fragmentierung, Trennung der Mächte und Unterscheidung von Kulturen in Schach zu halten. Die eine, einheitliche Sphäre schließt sich immer wieder, wie eine den Planeten bedeckende imaginäre Haut, zumal die radikale „identitäre Abschottung“ immer verpönter wird und es mittlerweile juridische (Internationaler Gerichtshof in Den Haag) sowie militärische Organe gibt (UN- und Nato-Eingreiftruppen), die, wenn auch unzulänglich, am Ideal einer globalen Polis ausgerichtet sind.

Wenn unsere Hypothese nicht völlig falsch ist, müsste die Angst der Menschen, im Großen Ganzen unterzugehen, dramatisch zunehmen. Was werden wir uns also noch ausdenken, um die immer näher rückende Vereinigung und Vereinheitlichung der Menschheit auszutreiben, die so wunderbar ist, aber vielleicht auch ganz und gar unerträglich?

Eine Lösung wäre es, die Menschheit wieder einmal aufzuteilen in Kreuzritter der humanistischen Universalität auf der einen und reaktionäre Verfechter der Partikularidentität auf der anderen Seite. Allerdings zeigt sich da eine gewisse Inkonsistenz, denn es wird im Namen der Einheit zerteilt, Minderheiten werden im Namen des Ganzen, zu dem sie doch gehören, stigmatisiert. Wandelt sich auf diese Weise der äußere Feind zum Verbrecher im Inneren, so erwächst zudem die Gefahr, dass jede Opposition gegen das gemeinsame Ideal als sträflich angesehen, jeder offene Widerstand gegen die eine Ordnung als Rechtsverstoß behandelt wird. Die honorigen Aktivisten in den Nichtregierungsorganisationen und in der internationalen Verwaltung, die im Kampf gegen die Gegner des Einheitsideals an Kontur gewinnen und folglich im künftigen Weltstaat wohl die Führungskräfte stellen werden, haben das noch nicht richtig zur Kenntnis genommen. Dabei ist es genau der Anlass für die erschreckten Reaktionen auf die wachsende Bedeutung des Universellen.

Die gegenwärtige Angst und Faszination angesichts des Universellen erscheint in zwei wesentlichen Ausdrucksformen: Sie äußert sich zunächst als Entsetzen vor der Aussicht, dass unsere Körper gleichsam aufgesogen werden vom rationalen Denken, das ihr Handeln und bald auch ihr ganzes Leben einer gemeinsamen technologischen Führung unterwirft. Die gleiche Ambivalenz gegenüber dem Universellen manifestiert sich auch in der zugleich ersehnten und befürchteten Regelung der Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder durch eine im Voraus festgelegte Norm.

Zu den Vorstellungen vom Untergang im Großen Ganzen passt wohl auch die längst chronische Furcht vor dem Klimawandel, den sich viele als eine gigantische Überflutung von bewohnten Gebieten ausmalen. Neben die wissenschaftliche Überzeugung von der Realität des Treibhauseffekts (die Beweisführung krankt nach wie vor an unzureichenden klimatologischen Modellen) tritt die Imagination einer neuen, diesmal weltumspannenden Sintflut. Damit zeichnet sich eine Kartographie der Aufteilung der Menschheit ab: auf der einen Seite wären dann die künftig (im physischen Sinn, nicht als wirtschaftliche Metapher) „aufstrebenden“ Länder, die kraft ihrer technischen Errungenschaften in der Lage sind, sich den ökologischen Umwälzungen anzupassen, und auf der anderen jene, die im wahrsten Sinne des Wortes in der Versenkung verschwinden werden.

Die Industrie als Überbringer

WAS die durch Tierseuchen (BSE und Maul- und Klauenseuche) ausgelösten Lebensmittelphobien anbelangt, so führen sie die Ausbreitung und Ansteckung auf menschliches Handeln zurück, das seinem eigenen Vermögen nicht gewachsen ist. Die ergriffenen Gegenmaßnahmen (Schlachtung und Verbrennung von Abertausenden von Tieren) sind allesamt geeignet, die Furcht vor den Verfahren der Massenproduktion noch zu verstärken. Zugleich kommt es zu Versuchen, die Welt neuerlich aufzuteilen, in so genannte saubere und in „verseuchte“ Länder, in Amerika und Europa (das prompt unter Quarantäne gestellt wird). Doch in diesen Manövern, die nur alte Feindschaften auffrischen, erschöpft sich das Phantasma keineswegs. In ihm geht es weniger um das Profitstreben als darum, dass die industriellen Systeme in ihrer Eigenschaft als Vermittler, als gewissermaßen physische Überbringer unseres Universalismus auftreten. Diese umfassende Vermittlung überträgt demnach unablässig Infektionen auf immer größerer Stufenleiter und erzeugt Störungen im normalerweise durch bestimmte „Schranken“, wie etwa die Arten, geordneten Reich der Natur.

Die Berufszweige, die am globalen Einheitsdenken mitwirken, sind besonders sensibel für das Schuldhafte dieser mit Hilfe der Technik bewerkstelligten Universalisierung. Panik ist nämlich nicht zuerst in der Bevölkerung aufgekommen (die die Alarmaufrufe mit Bedauern zur Kenntnis nimmt und eben weniger konsumiert), sondern bei den einschlägigen Fachleuten: Medienexperten, nationales und internationales politisches Personal, Verwaltungsspezialisten, Juristen, Wissenschaftler und Techniker. Es sind diese, den Fortschritt bewusst akzeptierenden, gebildeten Schichten, die unbewusst offensichtlich ganz besonders entsetzt darüber sind, was sie selbst „ausgelöst“ zu haben glauben.

Dies gilt auch für die Zeitdimension der Angstlust angesichts des Universellen: die Reduzierung der Formen möglicher Zukunft auf das aktuelle globale Denken. Darf der gegenwärtig Erwachsene die Zukunft des (sprachlosen) menschlichen „infans“ und, mehr noch, die der noch nicht geborenen – menschlichen wie nicht-menschlichen – Lebewesen wissenschaftlich festlegen? Darf der allmächtige Erwachsene, als der sich die Menschheit in ihrer entwickelten Kultur und in ihren gegenwärtigen Kenntnissen darstellt, seinen alleinigen Maßstab an die unbestimmte Zukunft anlegen?

Angesichts dieser Schwindel erregenden Fragen findet die Angst zu zwei wesentlichen Ausdrucksformen: dem Vorwurf, dass erstens aktuelle Entscheidungen im Hinblick auf Veränderungen der menschlichen, tierischen und pflanzlichen Genome den Weg künftiger Generationen vorzeichnen würden, und dass zweitens der erwachsenentypische Genuss unweigerlich eine „Zerstörung der Kindheit“ bedeute.

Die Bedenken gegen die genetische Manipulation des Lebens und die Besorgnisse, die sich in der Kritik an gegenwärtigen Formen sexueller Abweichung geltend machen, gehören zwar unterschiedlichen Bereichen an. Aber dennoch ist zu bemerken, dass wir hier unterschwellig mit einer beiden Bereichen gemeinsamen Tendenz ins Gericht gehen: die Zukunft zur Gefangenen der Gegenwart zu machen. Im Lichte einer diffusen hysterischen Entrüstung erscheinen die Begriffspaare Erwachsener-Kind und Gegenwart-Zukunft als beklemmende Perspektive. Allerdings wird nicht die allgemeine Pädagogisierung der modernen Sozialbeziehungen, sondern vor allem intentionales Verhalten bestimmter, dämonisierter Personen (wie etwa der ‚Pädophilen‘) dafür verantwortlich gemacht. Diese Verschiebung ist im Übrigen verständlich: Schließlich ist es einfacher, sich an einzelne „Monster“ zu halten, als die Monstrosität unserer Gesellschaft anzuerkennen.

Das unverhältnismäßige Entsetzen vor dem Pädophilen (wohlgemerkt: hier geht es nicht um die tatsächlichen Fälle von Kindesmissbrauch u.a.) findet darin seine Erklärung. Es bezieht sich nur anekdotisch auf den typischen Perversen, die wahre Besorgnis gilt etwas ganz anderem: der „missbräuchlichen“ kollektiven Manipulation nicht nur von Kindern, sondern der Menschheit insgesamt, die, erfasst von den Zielscheinwerfern des medial gestützten guten Gewissens, der vielfältigen erzieherischen Absichten und der Abrichtung zum willigen Lohnempfänger und Konsumenten massenhaft infantilisiert und zum Opfer gemacht wird.

In der „Loft Story“3 zum Beispiel realisiert sich unter der technischen Kontrolle durch die Medien das Phantasma des Inzests, vollzogen zwischen den Fernsehzuschauern als Eltern und Jugendlichen, die auf einer künstlich-intimen Bühne miteinander sexuell verkehren. Die hinter den empörten Reaktionen liegende Furcht bezieht sich auf die Fähigkeit der Autorität (im vorliegenden Fall dem zentralisierten Medium), die Fiktion des Privatlebens zu kontrollieren, den Menschen vorgeschriebene Formen von Lust sowie deren erzwungenes Gegenteil aufzunötigen (Ausschaltung von Konkurrenten als Modell sozialen Funktionierens etc.).

Wir sind mithin gleichzeitig fasziniert und abgestoßen von dieser öffentlichen Videoüberwachung des Intimlebens, von dem Spektakel, das fortan die Referenzbeziehungen zwischen den Generationen im Imaginären regeln soll. Und es ist gewiss nicht ein Übermaß an Freiheit, das uns dabei deprimiert oder empört, sondern im Gegenteil das unabwendbare Fortschreiten des kollektiven Verschmelzungsideals und seine Möglichkeiten, sich jedem Einzelnen als Perspektive aufzuzwingen.

Wer bereit ist hinzuhören, wo sich Widerstand gegen die Nötigung zur Universalität regt, der wird in leisen Tönen Sätze vernehmen wie: „Die lebenden Arten lassen sich nicht in einem Großen Ganzen vermischen“, oder „Keiner kann gegenwärtige mit künftigen Generationen in einen Topf werfen.“ Die unbewussten Reaktionen auf den Universalismus haben gewiss ihren Anteil am wachsenden Umweltbewusstsein und der Sorge um das ökologische Gleichgewicht, an der Sensibilisierung von Bevölkerungskreisen, die bislang gleichgültig waren und es ohne die allmählich wachsenden Schuldgefühle noch lange geblieben wären. Wie anders wäre die Reaktion der Praktiker der virtuellen Universalität zu erklären, wenn diese (und allen voran die amerikanischen Informatiker und Internauten selbst), auch auf das Risiko einer Rezession im E-Commerce hin, zu differenzieren beginnen und Misstrauen äußern gegenüber dem „Global-Internet“ und seinem Ideal einer totalen Weltkommunikation auf Kosten des „wahren Lebens“ der Menschen in konkreten Situationen?

Müssen wir deshalb aber die Rückkehr zu regressiven und gefährlichen Formen der Verweigerung von Universalität hinnehmen? Oder gilt es nicht vielmehr, die ganze Vielfalt des gegenwärtigen Widerstands gegen den Universalismus zu erfassen, nicht zuletzt um – wie in der Vergangenheit geschehen – die kollektive Hingabe an noch aggressivere Formen der Parteinahme und an eine zwanghafte Ablehnung des Universalismus zu unterbinden?

Dass Präsident Bush E-Mails verabscheut, mag als sympathische Verweigerung medialer Kontrolle über die Privatsphäre des Präsidenten erscheinen. Tatsächlich ist dies aber Teil einer archaisierenden Tendenz, deren Distanznahme gegenüber einer universellen Sichtweise einfach nur auf alte Herrschaftspositionen pochen will: erklärte Ablehnung der Abtreibung; die Inanspruchnahme des Rechts der Supermacht, den Planeten zu verschmutzen; ein „Isolationismus“, dessen Kehrseite die – seit der Bildung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone in Quebec – direkte Inbesitznahme des ganzen amerikanischen Kontinents durch die US-Großvermögen darstellt.

Was Bushs Theorie von der „belagerten Festung Amerika“ anbelangt, mit der die ungeheuren Kosten eines Antiraketen-Schutzschildes legitimiert werden, so ist darin nichts anderes als der Rückgriff einer pathologischen Phantasie auf die Ablehnung des Universellen zu erkennen – und somit der „Zardoz-Komplex“. Man sollte sich diesen Film des britischen Regisseurs John Boorman in Erinnerung rufen4 , der uns, lange vor dem „Krieg der Sterne“, eine zukünftige Erde vor Augen führt: Eine durch Klonen unsterblich gemachte angelsächsische Elite regiert die Welt, sie lebt in einem paradiesischen Park, abgeschottet von den Menschen, die in Angst und Schrecken gehalten werden, und durch ein System von Laserstrahlen geschützt. Die skandalöseste Lektion Boormans besteht darin, dass er uns suggeriert, diese sklerotische Elite träume tatsächlich nur davon, endlich den Tod zu erfahren und den Weg in die Zukunft frei zu machen – für die anderen.

Der Historiker Eric J. Hobsbawm hat daran erinnert, dass der ultraliberale, weltweit operierende Kapitalismus der Belle Époque sich auch durch die Schaffung nationaler Märkte herausgebildet hatte, die dann, während des gesamten 20. Jahrhunderts, dafür sorgten, dass das zweischneidige Schwert der Brüderlichkeit unter Mitbürgern und der Feindschaft gegen Fremde nicht stumpf wurde. Hobsbawns These zur internationalen Situation im Jahre 1902 – dass nämlich mit Protektionismus auf die Internationalisierung der ökonomischen Konkurrenz reagiert wurde5 – gilt in gewisser Hinsicht noch heute. Die Kräfte, die die Geldströme lenken, führen die Freizügigkeit des Welthandels im Munde, privilegieren zugleich aber in großem Stil die regionalen Märkte (siehe zum Beispiel die Schlacht zwischen Boeing und Airbus oder Projekte zur Zwangsabnahme von amerikanischer Soja usw.). Der verdeckte Krieg zwischen Euro, Yen und Dollar begünstigt auch einen monetären Meganationalismus oder -regionalismus, der wiederum die Grundlage für heftige feindselige Reaktionen schafft: Die amerikanische Öffentlichkeit sieht Europa als wirtschaftliche Bedrohung, während man in Europa stirnrunzelnd auf die massive Verschuldung der USA blickt, die durch das Drucken von Dollars offiziell gestützt wird.

Ähnlich verhält es sich mit den eingespielten Methoden der Aufteilung der Ressourcen der armen Länder unter die Großmächte: gilt nicht auch für die westlichen Multis, die in der Dritten Welt ein Unternehmen nach dem anderen aufkaufen, was Hobsbawm über die entscheidenden Motive des Kolonialismus im 19. Jahrhundert gesagt hat – man sei sich darüber einig gewesen, dass der Kolonialismus die Sozialreformen im eigenen Land finanzieren sollte. Wir fallen sogar in die Methoden des 18. Jahrhunderts zurück, als die englischen, französischen, niederländischen und portugiesischen Ostasien-Kompanien, offiziell in Privathand, über die Ressourcen der jeweils in Besitz genommenen Landstriche verfügen konnten und keinerlei Abgaben an die örtliche Verwaltung zu leisten hatten.

Elf Aquitaine ist sicher nicht die einzige „Ostasien-Kompanie“ unserer Zeit, die in so manchem Staat der Dritten Welt Gehälter auszuzahlen hat – sie musste es lediglich zugeben ... In Wirklichkeit werden heute nahezu alle weltweit operierenden Multis dazu gebracht, die lokalen Eliten zu bezahlen ... deren Erspartes sie dann in die Wirtschaftskreisläufe des Nordens transferieren, während die einheimische Bevölkerung weiterhin Arbeit zu Niedrigstlöhnen verrichten muss.

So kann man sich in diesem Bereich über Fortschritte in Sachen Universalisierung nur freuen, etwa wenn Südafrika durch internationalen Schiedsspruch die Erlaubnis erhält, billige Arzneimittel, so genannte Generika, in eigener Regie zu produzieren. Dies könnte zu einer vollständigen Umgestaltung des weltweiten Gesundheitsmarktes, also auch in den entwickelten Ländern führen.

Gilt es nun umgekehrt als reaktionär – in immer noch korporativistischer und territorialisierter Weise6 – gegen eine Arbeitsteilung vorzugehen, die sämtliche gehobenen Funktionen (Firmensitze, Forschung etc.) in den USA konzentriert, während die anderen Länder durch den Wegzug ihrer Spitzenkräfte dem Kulturverfall preisgegeben sind? Sollte man die Opposition gegenüber den Praktiken des cost killing, der Standortverlagerung, der Massenentlassungen und der „Flexibilisierung“, unter denen die Arbeitnehmer im Lauf der letzten Jahrzehnte sehr zu leiden hatten, ohne dass je ihr Nutzen für die Stabilität der Unternehmen erwiesen worden wäre, wirklich mit Bedauern zur Kenntnis nehmen?

Und sollte man es als „rückschrittlich“ kritisieren, wenn der bedingungslosen Verpflichtung auf die Logik der Geldzirkulation, zumal in staatlichen Produktionsbereichen, Einhalt geboten wird? Müsste man nicht – in einem Augenblick, da etwa der Bundesstaat Kalifornien Elektrizitätsbetriebe „renationalisiert“, die zusammengebrochen sind, weil ihre Aktionäre jede Investition verweigert haben, auch die europäischen Stromanbieter daran hindern, einen gnadenlosen Preiskrieg zu beginnen? Denn unter dem Vorwand der Bereitstellung von Billigstrom würde unweigerlich all das zerstört, was Qualität und Sicherheit garantierte, nicht zuletzt weil keine technische Langzeitforschung betrieben werden könnte.

Wann wird wohl in Frankreich das erste Mal der Strom knapp? Möglicherweise noch innerhalb der nächsten zehn Jahre, falls es der „imperialen“ und im Namen weltumspannender Ideale geführten Unternehmenspolitik gelingt – mit Zustimmung der ins Lager der fanatisierten Vorstandsetagen gewechselten rosa-roten Gewerkschaften –, jene Instrumente vollends zu zerschlagen, die seit mehr als einem halben Jahrhundert mit dem Geld und dem Vertrauen der Völker entwickelt wurden.

Den an sich guten oder schlechten Universalismus gibt es ebenso wenig wie den prinzipiell guten oder schlechten Widerstand dagegen. Im Taumel einer überstürzten Verschmelzung zu einer Einheit, deren ökonomisches Medium das Geld ist, lassen sich genügend bizarre Aspekte ausmachen, doch hat auch die Radikalverweigerung, die aggressive identitäre Abgrenzung ihre unguten Seiten. Angst und Empörung sind die beiden Klippen, zwischen denen nicht leicht zu navigieren ist.

Im Grunde sollten wir die Schwierigkeiten der Annäherung an die Universalität nicht als Hindernisse diskutieren, die es aus dem Weg zu räumen gilt, sondern als unauflösliche Konstanten unserer conditio humana. Wir müssten anerkennen, dass das Universelle Objekt intensiver Faszination und Ablehnung ist und bleiben wird und dass die heftigen und verzweifelten Symptome seiner Verwerfung gezähmt und nicht verleugnet, manchmal auch als Überlebensbedingungen akzeptiert werden sollten.

Jedenfalls sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass unser Verhältnis zur Universalität vermutlich auf immer ambivalent und paradox bleiben wird. Je mehr wir uns ihr nähern, um so unüberhörbarer wird sich auch die Frage nach der Pluralität und den Differenzen stellen. Und sei es auch nur in unseren drängenden unbewussten Reaktionen.

dt. Bernd Schwibs

* Soziologe, Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris. Autor u.a. von „Nature et démocratie des passions“, Paris (Presses universitaires de France) 1996.

Fußnoten: 1 Françoise Sironi, „L’universalité est-elle une torture?“, Nouvelle Revue d’ethnopsychiatrie 34 (1998). 2 Film von Rachid Bouchareb, April 2001. 3 Französisches Pendant zu „Big Brother“. 4 Zardoz, 1974 (mit Sean Connery). 5 Eric J. Hobsbawm, „Das imperiale Zeitalter: 1875-1914“, Frankfurt a. M. (Fischer) 1995. 6 Jacques Capdevielle, „Modernité du corporatisme“, Paris (Presses de Sciences-Po) 2001.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2001, von DENIS DUCLOS