10.08.2001

Vorwahlkampf im Vatikan

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Vorwahlkampf im Vatikan

Von GIANCARLO ZIZOLA *

Viele sind der Meinung, dass das Kardinalskollegium am 21. Februar mit der außerordentlichen Ernennung von 44 neuen Kardinälen seine endgültige Gestalt erhalten hat, obwohl der Papst in den nächsten zwei Jahren durchaus noch weitere Kardinäle ernennen kann. In der Stärkung der römischen (10 neue Kurienkardinäle) und der lateinamerikanischen (11) Repräsentanz werden die beiden Pole des Pontifikats sichtbar, nämlich die Fixierung auf Rom und der Anspruch, Weltkirche zu sein. Das Heilige Kollegium hat nunmehr die Rekordzahl von 185 Mitgliedern, von denen 135 wählen dürfen, nämlich die unter 80-Jährigen. Der Papst setzte sich über das Wahlgesetz hinweg, das maximal 120 Wähler vorsieht. Da aber in den nächsten zwei Jahren mindestens fünfzehn weitere Kardinäle die Altersgrenze überschreiten werden, wäre dann die maximale Zahl der kanonischen Wähler wieder gewahrt.

Deutlich wurde aber auch, dass im Kardinalskollegium, dessen heutige Mitglieder fast alle von Wojtyla ernannt wurden, nicht nur die internationalistische Tendenz der Konsistorien unter Johannes XXIII. und Paul VI. fortgesetzt, sondern auch der Spielraum für die „dritte Kirche“ erweitert wurde. Aus zwei nichteuropäischen (von insgesamt 62) Kardinälen des Jahres 1903 waren unter Johannes XXIII. 23 und unter Paul VI. 57 geworden. Heute setzt sich das Wahlkollegium aus 65 europäischen Kardinälen (48 Prozent), 16 nordamerikanischen, 24 lateinamerikanischen, 13 afrikanischen, 13 asiatischen und 4 Kardinälen aus Ozeanien zusammen.

Die „dritte Kirche“ kommt nunmehr auf 54 wahlfähige Kardinäle, die 40 Prozent des Kollegiums ausmachen. Dagegen hat sich der Anteil der Italiener unter dem ersten nichtitalienischen Papst seit einem halben Jahrtausend1 weiter vermindert: Unter den wahlfähigen Kardinälen sind 24 Italiener, also 17,8 Prozent gegenüber 25 Prozent zu Beginn des Pontifikats 1978, und 61 Prozent zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damit ist es mit dem italienischen Hegemonialanspruch auf das Papsttum wohl endgültig vorbei, und es wird denkbar, dass der künftige Papst weder aus Italien noch aus Europa stammen wird. Die Staatsangehörigkeit wird überhaupt bei der Wahl des neuen Oberhirten von 1,018 Milliarden Katholiken kaum noch eine Rolle spielen. Und selbst die römische Kurie ist zu inhomogen, als dass man fürchten müsste, sie könnte irgendwann als geschlossener Block abstimmen.

Schon eher könnte es jenseits der nationalen, römischen und kontinentalen Herkunft zu einer Gruppenbildung in Hinblick auf die entscheidenden Zukunftsfragen der Kirche kommen.

Entscheidend für das Wahlverhalten werden also sicher die inhaltlichen Kriterien sein. Die Reformer fordern Veränderungen: Modifizierung der Bischofssynode, Kurienreform, Dezentralisierung zugunsten der Landeskirchen und neue Regeln für die Ausübung des päpstlichen Primats. Sie wollen auch die Einberufung eines neuen ökumenischen Konzils sowie eine vorsichtige Fortführung des Dialogs zwischen den Religionen und eine Anpassung des Evangeliums an die Kulturen der „neuen Welten“. Die Reformer würden ihr Programm gern durch einen Papst aus Lateinamerika symbolisch aufwerten, der imstande wäre, der globalen Herrschaft des Geldes eine Kirche der Armen als spirituelle Alternative entgegenzustellen.

Die bevorzugte Figur in diesem Szenario ist der Erzbischof von Tegucigalpa (Honduras), der 1942 geborene Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga, ein Salesianer, der fünf Sprachen spricht und vielfältige Interessen und Fähigkeiten pflegt. Er ist Pianist und Komponist, er studierte in Innsbruck klinische Psychologie und Psychotherapie, erwarb im Lateran den Doktorgrad in Moraltheologie und Philosophie, ist Professor für Physik, Mathematik und Chemie sowie Rektor des Istituto Filosófico Salesiano. Maradiaga wurde bereits im Alter von 36 Jahren zum Weihbischof von Tegucigalpa und 1993 zum Erzbischof ernannt. Als Generalsekretär und später als Vorsitzender der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (Celam) verschaffte er sich vor allem durch seinen versöhnlichen Geist den Respekt aller innerkirchlichen Fraktionen, einschließlich der Befreiungstheologen.2

In Rom machte er sich einen Namen als Mitglied des Rates „Cor Unum“ sowie des Rates für Gerechtigkeit und Frieden. Die Bischofssynode wählte ihn zu ihrem Generalsekretär (1994–2001), er war Sekretär der Synode für Amerika und betreute dabei das postsynodale Dokument „Ecclesia in America“, ein Programm für die Kirche der beiden Subkontinente auf der Basis einer Kritik der neoliberalen Doktrin. Sollte der Kardinal aus Honduras auf den Heiligen Stuhl berufen werden, wäre diese Charta gewiss sein Leitdokument für das Handeln der Kirche nicht nur für Amerika, sondern im zunehmenden Konflikt zwischen dem globalen Imperium und den Massen der Ausgeschlossenen.

Das Hauptargument für einen lateinamerikanischen Kandidaten wäre die Symbolik: Ein Papst aus Übersee würde die längst fällige Anerkennung einer christlichen Bevölkerung bedeuten, die mehr als die Hälfte des gesamten katholischen Kirchenvolks ausmacht. Aus demselben Grund ist auch eine afrikanische Kandidatur nicht auszuschließen, etwa die des nigerianischen Kardinals Francis Arinze, der als Pionier der afrikanischen kulturellen Anpassung des Evangeliums gilt und Vorsitzender des Pontifikalrats für den Dialog zwischen den Religionen ist.

Im Lager der Reformer gibt es noch keine klare Strategie. Die lateinamerikanische Lösung wird von den Kräften als verfrüht angesehen, die in der Überwindung des Bruchs zwischen der Utopie Wojtylas und dem Zentralsystem die vordringlichste Aufgabe sehen und sich darauf konzentrieren, den vatikanischen Regierungsapparat wieder in die Hand zu bekommen.

In diesem Zusammenhang fällt der Name von Giovanni Battista Re, den Johannes Paul II. dadurch ausgezeichnet hat, dass er ihn auf der Liste der 44 neuen Kardinäle an erster Stelle führte, was ihn in der Sprache des Vatikans zum möglichen Nachfolger designiert. Re stammt aus Brescia, ist verhältnismäßig jung (Jahrgang 1934), hat eine Karriere in der Staatskanzlei und später als Sekretär der Bischofskongregation hinter sich und ist heute als Stellvertreter von Johannes Paul II. dessen enger Vertrauter. Re könnte die Zustimmung der Wahlkardinäle gewinnen, die weniger einen charismatischen Papst im Auge haben als einen Mann, der die Zukunft des Heiligen Stuhls sichert, indem er interne Brüche reparieren, die Reform der Kurie in Angriff nehmen und den einzelnen nationalen Kirchen zurückgeben kann, was der Zentralismus der 1990er-Jahre ihnen weggenommen hat.

Die Kandidaten des Reformflügels

HAUPTKANDIDAT des Reformflügels bleibt jedoch der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini. Der Jesuit Martini hat sich die Achtung vieler durch seine Fähigkeiten als Geistlicher, seine universelle Sicht der Probleme, seine ökumenischen Auffassungen und seine seelsorgerischen Erfahrungen in der größten Diözese der Welt erworben, aber auch durch die umsichtige Klugheit, mit der er beim letzten Konsistorium eine kollegiale Reform des Papsttums vorgezeichnet hat. Auch konservative Kardinäle wie Francis Eugene George aus Chicago geben zu verstehen, dass sie für ihn stimmen würden, auch wenn sich Martini 2002 mit Vollendung des 75. Lebensjahres aus der Leitung der Kirche Mailands zurückziehen will, um zu seinen geliebten Bibelstudien in Jerusalem zurückzukehren. Es wäre jedoch nicht das erste Mal, dass das Konklave einen Papst aus einer Eremitage beruft.

In der Geschichte der Konklaven hat sich häufig die paradoxe Regel „Wer als Papst hineingeht, kommt als Kardinal heraus“ bestätigt. Man kann also nicht ausschließen, dass die Kandidatur Martinis nicht obwohl, sondern weil sie wenig aussichtsreich erscheint, von den Wählern nach wie vor erwogen wird. Und was Martinis Alter betrifft, so hat der Wechsel zwischen einer langen und einer kurzen Papstherrschaft eine gewisse statistische Plausibilität: Die Kardinäle könnten in der Tat nach der langen Herrschaft Johannes Pauls II. geneigt sein, die Vorteile eines kurzen Pontifikats zur Wiederherstellung der Gleichgewichte zu nutzen und sich deshalb nach einem älteren, aber tüchtigen Kardinal umzusehen. So erklärt sich etwa die Wahl von 1958, als der „alte“ Roncalli nach 19 Jahren Pius XII. zum „Übergangspapst“ Johannes XXIII. wurde.

Falls Martini – was doch wahrscheinlicher ist – weder zwei Drittel noch knapp mehr als die Hälfte der Stimmen erringen kann, gilt der Kardinal von Genua, Dionigi Tettamanzi, als Kompromisskandidat, auf den sich die Reformer und das gemäßigte Lager einigen könnten. Der 1934 in Mailand geborene Moraltheologe, der über die Grenzen der Bioethik und der Wirtschaftsethik in Zeiten des globalen Markts nachgedacht hat, vertritt vorsichtig reformerische Positionen, wobei er allerdings für manche Beobachter allzu viel Rücksicht auf die Mächtigen der Kurie nimmt. Er verfügt über seelsorgerische Erfahrung als Erzbischof von Ancona und kennt sich auch in der Zentralregierung aus, wo er als Sekretär der italienischen Bischofskonferenz sowie als Mitarbeiter an den Moralenzykliken des Papstes wirkte, bis er 1995 nach Genua versetzt wurde. 1999 profilierte er sich auf der europäischen Synode mit einem reformerischen Beitrag und bekam dafür bei den Wahlen zum Generalsekretariat die meisten Stimmen unter den gewählten Italienern. Seine positive Interpretation der Krise des Christentums und die Überzeugung, der Vorrang des Geistlichen erfordere einen neuen Zyklus kircheninterner Reformen, brachten ihn in die Nähe der Positionen Martinis. Aber er ist auch ein enger Freund von Re, mit dem er schon die Schulbank geteilt hatte. Auch von Re könnte er im Konklave unterstützt werden, der dann natürlich sein Staatssekretär werden dürfte.

Auf der Gegenseite formiert sich eine Allianz im Zeichen der Restauration um den Staatssekretär Angelo Sodano, der als der politisch am eindeutigsten profilierte Kandidat gelten kann. Der 1927 in Isola d’Asti geborene Kardinal hat eine diplomatische Karriere im Chile Pinochets hinter sich und könnte von den Kräften in der Wahlversammlung unterstützt werden, die eine pragmatische Persönlichkeit mit konservativen Neigungen suchen, der zugleich schwierige Situationen bewältigen kann. Das wäre vor allem dann wichtig, wenn das Kardinalskollegium nach einem Amtsverzicht von Johannes Paul II. zusammentreten müsste.

Aber abgesehen von seiner eigenen oder einer anderen ihm genehmen Kandidatur könnte Sodano auch auf andere „seelsorgerische“ Lösungen setzen, etwa auf eine Wahlkoalition für den neuen Erzbischof von Turin, Severino Poletto. Der 1933 in Treviso geborene Poletto, seit 2000 Bischof von Asti (der Heimat Sodanos), wäre ein interessanter Kandidat nicht nur wegen seiner Fähigkeiten als Seelsorger und Geistlicher, sondern auch wegen seiner engen Kontakte zur Staatskanzlei.

In dieser Situation darf man auch das Gewicht eines möglichen Bündnisses zwischen bedeutenden Kurienvertretern wie Josef Ratzinger und Sodano und dem integralistischen Flügel der romhörigen lateinamerikanischen Kardinäle nicht unterschätzen. Zu Letzterem gehören der Präfekt der Kongregation für den Klerus, Darío Castrillón Hoyos, der Präsident des Pontifikalrats für die Familie, Alfonso Lopez Trujillo (beide verdanken ihre Position Sodano) und der Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Jorge Arturo Medina. Dieser chilenische Moraltheologe ist seit der Zeit des Konzils mit Ratzinger befreundet und mit seinen moralischen Kreuzzügen gegen sexuelle Freizügigkeit bekannt geworden. So gesehen könnte die lateinamerikanische Option am Ende auch im Sinne des konservativen Programms funktionieren.

Auch im Lager der Italiener gibt es einen solchen Kandidaten: den Erzbischof von Bologna, Kardinal Giacomo Biffi, geboren 1928, der wegen seiner Ablehnung des „Mea culpa“ für die historischen Fehler der Kirche sowie wegen seiner Kritik am Dialog zwischen den Religionen bekannt wurde. Für die Kandidatur Biffis wird um Unterstützung im katholischen Integralismus und in Bewegungen wie „Comunione e Liberazione“ und „Opus Dei“ geworben. Eine derartige Koalition, so heterogen sie auch sein mag, ist auf ein Programm autoritärer Restauration festgelegt. Sie würde darauf beharren, dass der ökumenische und religionsüberschreitende Dialog nur dann stattfinden kann, wenn der Vorrang der römischen Kirche als Trägerin der einzig wahren Lehre ebenso unbestritten bleibt wie ihre ethisch-politische Vormachtstellung in der Welt.

Weniger polarisierend wäre der ebenfalls restaurative Kandidat Kardinal Christoph Schönborn. Der intellektuell brillante Wiener Erzbischof, Dominikaner und Verfasser des „Neuen Katechismus der katholischen Kirche“, zeigt sich dialogbereit und würde den Erwartungen der unbeugsamsten Kräfte, aber auch breiter Kreise der katholischen Konservativen entgegenkommen. Gegen ihn sprechen allerdings sein Alter (Jahrgang 1945) wie auch seine Zugehörigkeit zum deutschsprachigen Lager, das vielen zum Ärgernis geworden ist.

In jedem Fall steht die Kirche vor grundlegenden Entscheidungen. Auch wenn die Kardinäle mehr von Vorsicht als von Wagemut geprägt sind, kann man nicht ausschließen, dass viele von ihnen sich freuen würden, der Kirche eine prophetische Figur zu bescheren – so wie ihre Kollegen dies, ohne dass sie es damals schon wissen konnten, 1958 taten, als sie Johannes XXIII. wählten. Einen Papst, der nicht die Macht sucht, sondern die Sprache des Herzens, nicht den äußeren Glanz, sondern Innerlichkeit, der nicht die Massen ansprechen will, sondern das Gewissen der Einzelnen. Einen Pontifex, der das natürliche Recht achtet, nach den menschlichen Wahrheiten zu suchen – im Zweifel, aber unter Achtung der unumstößlichen Prinzipien –, und auf Überzeugung statt auf Zwang setzt. Einen Papst, der die Bischöfe in die Führung der Kirche einbezieht und dafür sorgt, dass sie sich der Sorgen der Ärmsten annimmt, der den Mächtigen ins Gewissen redet und Gerechtigkeit einfordert. Einen Seelsorger, der für die Ausstrahlung der verschiedenen christlichen Kirchen offen ist. Einen Papst, der die Christen ermutigt, die Frohe Botschaft auch für andere kulturelle Einflüsse zu öffnen, weil er weiß, dass es für das Evangelium jenseits der „alten“ westlichen Welt noch ein weiteres Leben gibt.

Vielleicht sitzt ein solcher Papst bereits im Wartesaal des Vatikans. Ungewiss ist nur, ob das künftige Konklave ihn ausfindig machen kann.

aus dem Ital. von Walter Kögler

und Susanne Grandel

* Italienischer Journalist und Essayist. Autor u. a. von „Der Nachfolger“, Düsseldorf (Patmos) 1997

Fußnoten: 1 Johannes Paul II., 1978 zum Pontifex gewählt, ist der erste nichtitalienische Papst seit Hadrian VI. (1522 bis 1523). 2 Die Vertreter der Theologie der Befreiung, im Wesentlichen lateinamerikanische Bischöfe und Priester, rechtfertigen den Widerstand, auch den bewaffneten Kampf gegen Korruption, Diktatur und das soziale Elend, dem die Bevölkerungen der Länder des Südens unterworfen sind.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2001, von GIANCARLO ZIZOLA