10.08.2001

Die Mennoniten – das ganz andere Paraguay

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Die Mennoniten – das ganz andere Paraguay

Von BERNARD CASSEN

ALS Ende Juni der jährliche „Index der Korruptionsfälle“ der Organisation Transparency International (TI) erschien,1 waren die meisten Journalisten in Paraguay äußerst amüsiert: Ihr Land tauchte in der Liste gar nicht auf! Natürlich ist die Aufstellung von TI nicht vollständig, bezieht sie sich doch auf nur 91 Länder. Und dennoch ist unklar, warum Paraguay so viel unbedeutender sein sollte als etwa Moldawien, Panama oder Honduras – dort hatte TI alle Vorkommnisse genau registriert. Sollte es der Organisation an Informationsquellen gefehlt haben, so hätte sie nur einen Blick in die Tageszeitungen werfen müssen, die in Asunción erscheinen: Fast täglich finden sich dort Schlagzeilen und mehrseitige Berichte über „Korruptionsfälle“. So war im Juli beispielsweise davon die Rede, dass den Kunden der staatlichen Telefongesellschaft lange Auslandsgespräche berechnet wurden, die sie nie geführt hatten. Und die Schülerinnen am „Nationalen Bildungsinstitut für Mädchen“ (einer besonders renommierten höheren Schule) weigerten sich, ihr Abschlusszeugnis aus der Hand des Staatspräsidenten Luis González Macchi entgegenzunehmen. Der Grund: Eine Reihe enger Vertrauter des Präsidenten sind in dunkle Geschäfte verwickelt – es geht vor allem um die Unterschlagung von 16 Millionen Dollar –, und außerdem fährt der Mann ein Auto, das als gestohlen gemeldet ist! Eine Sprecherin der Schule erklärt dazu: „Ein Ehrengast sollte eine Respektsperson sein, und der Staatspräsident erfüllt diese Anforderung nicht.“

In dem Sumpf von Korruption und illegalen Einnahmen aus dem Drogenhandel, Betrug und Schmuggelgeschäften fühlen sich viele politische wie wirtschaftliche Führungskräfte recht wohl. Dies ist das traurige Resultat aus den zwölf Jahren, die seit der „Rückkehr zur Demokratie“ im Februar 1989, seit dem Sturz des Diktators Alfredo Stroessner vergangen sind. Stroessner, „Staatspräsident“ seit 1954, lebt – inzwischen allerdings schwer erkrankt – in Brasilien im Exil und gehört dort zu den reichen Leuten. Die Verfassungsänderung von 1992 brachte zwar ein gewisses Maß an Presse-, Meinungs- und Organisationsfreiheit, aber letztlich wurde nur die eine Oligarchie durch eine andere abgelöst – man könnte auch von neuen „mafiosen“ Strukturen sprechen. Die Ungleichheit im Land hat weiter zugenommen, und die Präsidenten, die Paraguay in diesen zwölf Jahren erlebt hat, waren vor allem damit beschäftigt, die Ausplünderung der Ressourcen und des Staatsvermögens durch ihre Günstlinge, Freunde (und sogar die politischen Gegner) zu vertuschen, wenn nicht selbst zu betreiben.

Die Institutionen, die Parteien und alle ihre Repräsentanten haben jeden Kredit verspielt, doch in der Bevölkerung herrschen nach wie vor Resignation und Desinteresse, die ein Resultat von 35 Jahren Diktatur und kultureller Abschottung sind.2 Sollte es in Paraguay irgendwann eine Abrechnung im Stil der italienischen mani puliti geben, dann wird diese Aktion von der jungen Generation ausgehen, die im „paraguayischen März“ von 1999, als der Vizepräsident Louis María Argaña ermordet wurde, gegen den Präsidenten Raúl Cubas und seinen Verbündeten, den General Lino Cesar Oviedo mobilmachte. Oviedo, die graue Eminenz des Regimes, galt als Auftraggeber des Attentats. Die Regierung antwortete auf die Herausforderung mit harter Hand und ließ die paramilitärische Einsatztruppe von General Oviedo auf die Demonstranten los, die sich auf dem Platz der Verfassung in Asunción versammelt hatten. Das Ergebnis waren 7 Tote und 769 Verletzte. Um seiner Absetzung zuvorzukommen, suchte Präsident Cubas – gemeinsam mit General Oviedo – Zuflucht in Brasilien. Am 28. März 1999 wurde der Parlamentspräsident, Senator Luis González Macchi gemäß der Verfassung zum neuen Staatspräsidenten ernannt. Inzwischen wird Macchi von der Presse, der öffentlichen Meinung und nicht wenigen seiner „Freunde“ in der Colorado-Partei beinahe täglich als „dämlich“, „unfähig“ und „korrupt“ beschimpft.

Im Chaco, wo jede Pflanze Stacheln trägt

PARAGUAY besteht aber nicht nur aus der Ballungszone um die Hauptstadt, in der 1,5 Millionen der knapp 6 Millionen Einwohner des Landes leben. Während der Osten, das Gebiet zwischen den Flüssen Paraguay und Parama, in den Konzepten einer nationalen Entwicklung wenigstens noch halbwegs vorkommt, spielt der Westen, das lange Zeit nur von einigen eingeborenen Stämmen besiedelte Gebiet des Chaco (das mit 247 000 Quadratkilometern immerhin mehr als die Hälfte des Staatsgebiets ausmacht) in den Vorstellungen, die die Paraguayer von ihrem Land haben, überhaupt keine Rolle. Man wird beinahe belächelt, wenn man sich dafür interessiert: „Ach ja, Sie fahren in den Chaco, um sich die Mennoniten anzuschauen?“ Aber diese Reise lohnt sich, und man kann sogar die Überzeugung gewinnen, dass gerade dort Hoffnung für die Zukunft Paraguays zu finden ist.

Der Chaco – die meisten Paraguayer verbinden damit die Vorstellung von einem unwirtlichen, lebensfeindlichen Gebiet,3 auf dem ein Fluch der Natur liegt, wo alle Pflanzen Stacheln haben, die durch Schuhe und Kleider dringen, wo es entweder kalt oder unerträglich heiß ist, wo sich Dürren und Überschwemmungen ablösen und wo es von Schlangen und Insekten wimmelt. Und doch ging vom Chaco stets eine Faszination aus, hat es viele Versuche gegeben, das Gebiet zu erschließen und zu besiedeln. Bevor man aus Australien neue Techniken der Sammlung und Speicherung von Regenwasser übernahm, war das zentrale Problem im Chaco der Wassermangel. So spielten auch im Chaco-Krieg mit Bolivien (1932–1935) die logistischen Möglichkeiten für die Versorgung der Front mit Trinkwasser eine wichtige Rolle. Die bolivianische Luftwaffe flog nicht nur Angriffe auf die gegnerischen Truppen, sie hatte auch die Aufgabe, über den Stellungen der eigenen Verbände Eisblöcke an Fallschirmen abzuwerfen. Augusto Roa Bastos hat in seinem Roman „Menschensohn“4 eindrucksvoll das Leiden der verdurstenden Soldaten beschrieben, die bei der Einnahme des Forts Boquerón durch die paraguayische Armee den „weißen Tod“ starben, weil der ersehnte Tankwagen mit Wasser nicht eintraf. Die Eroberung dieser Festung (am 29. September 1932) leitete Paraguays Sieg in diesem Krieg ein und ist ein patriotisches Ruhmesblatt in der Geschichte des Landes – auch dies hat den Chaco zu einem mythischen Ort gemacht.5

Aber warum in aller Welt hat ein katholisches Land wie Paraguay seit den 1920er-Jahren in dieser Einöde (und später auch in anderen Landesteilen) Mitgliedern einer protestantischen Sekte, die vor 400 Jahren in Holland und der Schweiz entstand und seither stets verfolgt wurde, die Gründung von Siedlungen gestattet? 1920 lernte der damalige Staatspräsident Paraguays, Manuel Gondra, während einer Schiffspassage von New York nach Asunción einen amerikanischen Großgrundbesitzer und Geschäftsmann kennen. Samuel McRoberts, ein ehemaliger Offizier, suchte damals unbesiedeltes Territorium für einen Kunden, das Mennonitische Zentralkomitee (MCC), das seinen Sitz in Acron im US-Bundesstaat Pennsylvania hatte. Dem MCC ging es darum, eine Lösung für die Probleme zu finden, die unter den Mennoniten in Kanada entstanden waren. Knapp ein Drittel der 18 000 Sektenmitglieder, die dort seit rund vierzig Jahren lebten, wollten sich nicht mehr den Auflagen beugen, die ihnen, wie allen Einwanderern, von den kanadischen Behörden gemacht wurden – sie wollten vor allem die obligatorischen Englischkurse nicht besuchen. Für die Anhänger der von Menno Simons gegründeten Sekte ist die Sprache überall auf der Welt (außer in den USA) bis heute ein entscheidender Aspekt ihrer Lebensweise: Innerhalb ihrer Gemeinschaften wird das so genannte Plautdietsche6 gesprochen, während Deutsch als offizielle Verkehrs- und Schulsprache gilt. Als Manuel Gondra erfuhr, dass Mexiko gerade 4 000 Mennoniten aufgenommen hatte, Argentinien aber solche Einwanderer nicht wünschte, weil sie das Tragen von Waffen ablehnen, dachte er sich wohl: Wie wäre es mit Paraguay?

Sein Land hatte nämlich im so genannten Dreibundkrieg (Guerra de la Triple Alianza), einem fünf Jahre dauernden verheerenden Feldzug Uruguays gegen Paraguay (1865–1870), einen hohen Blutzoll zahlen müssen. Nach dem Ende der Feindseligkeiten war die Einwohnerzahl auf 300 000 gesunken und das statistische Verhältnis von Männern zu Frauen betrug eins zu achtundzwanzig. Damals sagte man über Paraguay, es habe „Menschen ohne Land und Land ohne Menschen“, die Nation brauchte also dringend einen Bevölkerungszufluss. Die Mennoniten standen seit jeher im Rufe, gute Bauern zu sein, bereit zu harter Arbeit und einer Disziplin, die sich aus ihrem Glauben ergab, aus der bedingungslosen Unterordnung unter das Wort der Bibel. Auch Bolivien hatte bereits versucht, den Chaco in geostrategischer Absicht zu kolonisieren, und so führten die Ansiedlung der Mennoniten durch Paraguay und die (falsche) Vermutung von Ölvorkommen schließlich im Jahre 1932 zum Grenzkonflikt zwischen den beiden Ländern. Das Parlament von Paraguay hatte im Juli 1921 das Gesetz Nr. 514 verabschiedet, das den mennonitischen Siedlern ganz außergewöhnliche Rechte gewährte: Sie mussten keinen Eid auf die Verfassung leisten, sie wurden nicht zum Militärdienst herangezogen, sie durften ohne Einschränkungen Deutsch als Schulsprache verwenden, sie konnten ihre eigene Verwaltung in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Rentenversicherung einrichten, sie erhielten zehn Jahre Steuerfreiheit usw. Kritiker sprachen von einem Staat im Staate, übersahen dabei allerdings, dass es im Chaco nie eine Staatlichkeit gegeben hatte.

Damit waren alle Voraussetzungen geschaffen für die drei großen Einwanderungsschübe, die vom Mennonitischen Zentralkomitee organisiert wurden und die Anhänger der Sekte zunächst ins Chaco und später auch in den Osten Paraguays führten.7 Der erste Schub von Siedlern kam aus der kanadischen Provinz Manitoba und führte in den Jahren 1926 und 1927 zur Gründung der Kolonie Menno. Dann wanderten mennonitische Opfer der stalinistischen Verfolgung aus der Ukraine und dem Amur-Gebiet ein, die zunächst nach China oder Deutschland geflohen waren, und errichteten 1930 die Kolonie Fernheim. Zuletzt kamen noch Flüchtlinge aus Russland, die zum Teil den deutschen Truppen auf ihrem Rückzug gefolgt waren, dann aber von der Roten Armee gefangen genommen und interniert wurden. Sie siedelten sich 1947 in der Kolonie Neuland an. Im Bewusstsein der heutigen Bewohner sind diese unterschiedlichen Vorgeschichten noch sehr präsent. Gundolf Niebuhr, Leiter des kleinen Museums in Filadelfia, Verwaltungszentrum der Kolonie Fernheim und Hauptstadt der neuen Provinz Boquerón, zeigt uns ein großes Bild im naiven Stil. Auf ihm hat sein Vater alle Stationen seines Weges nach Paraguay festgehalten: den russischen Fluss Amur, die Stadt Harbin in China, Schanghai, den Sueskanal, Marseille, Le Havre, Buenos Aires, Asunción. In der Hauptstadt Paraguays fingen dann die neuen Probleme an . . .

Wer heute mit dem Auto die 470 Kilometer lange Strecke von Asunción nach Filadelfia fährt, muss auf der von 1957 bis 1964 gebauten Transchaco-Route den zahlreichen Schlaglöchern und anderen Gefahrenstellen ausweichen, wenn er nicht im Graben landen will, aber immerhin schafft man es an einem Tag. Die ersten Siedler brauchten für die Reise in das noch nicht erschlossene Gebiet über eine Woche und mussten mit ganz anderen Schwierigkeiten fertig werden. Zunächst fuhren sie mit dem Schiff den Paraguay hinauf, bis nach Puerto Casado, dann ging es über 141 Kilometer weiter mit der Schmalspurbahn, und erst dann begann die Reise in die „Grüne Hölle“, auf Fuhrwerken, die von Ochsengespannen gezogen wurden (siehe Kasten). Die Reise ins Chaco ist auch heute noch aufregend und interessant. Man durchquert eine gewaltige Ebene, die einst von Wäldern bedeckt war, sich inzwischen aber durch unkontrollierten Holzeinschlag und Feldwirtschaft in eine Art baumbestandene Steppe verwandelt hat. Ab und zu tauchen kleine Ortschaften auf, oft nur ein paar Häuser um eine Tankstelle und eine Kneipe, Stationen für die Lastwagenfahrer, die mit Gemüse und anderen landwirtschaftlichen Produkten im Kühlraum unterwegs sind oder einen der gigantischen Viehtransporter steuern und ihre Fracht in den Schlachthöfen der Hauptstadt abliefern werden, um dann leer zurückzufahren. Hier und da sieht man eine der elenden Ansiedlungen der indianischen Urbevölkerung: ein paar Zelte, die schon von weitem durch ihre grellen Farben auffallen, dazu die kunsthandwerklichen Produkte und das erlegte Wild, am Straßenrand an Schnüren aufgehängt, als Angebot für die wenigen Vorbeifahrenden.

Sobald man von der Transchaco auf die Straße nach Filadelfia abgebogen ist, ändert sich die Szenerie: Sofort sind die Seitenstreifen breiter und in tadellosem Zustand, man sieht mehr Herden auf der Weide, lückenlose Zäune, Werbetafeln – wir befinden uns im Gebiet der mennonitischen Kolonie Fernheim. Die 7 000 Einwohner zählende Kleinstadt gleichen Namens scheint mit ihren rechtwinklig angelegten Straßen und schmucken Häuschen, mit den paar Restaurants und einem Cybercafé geradewegs aus dem US-amerikanischen Mittelwesten nach Paraguay verpflanzt. Wer hier ein typisch „mennonitisches“ Ambiente erwartet hat, wird enttäuscht. Das gilt erst recht für den neuen Teil der Stadt, das Verwaltungszentrum der Kolonie Neuland, wo die Häuser noch größer sind, wo es repräsentative Anwesen mit blumengeschmückten Gärten gibt und wo das beherrschende Gebäude an die Zentrale einer mittleren Bank erinnert.

Tatsächlich gibt es unter den Mennoniten in Paraguay deutliche soziale Unterschiede. In den 14 Siedlungen der östlichen Provinzen werden die Glaubensvorschriften sehr verschieden ausgelegt, von sehr lockeren bis zu ganz strengen traditionellen Formen (etwa dem Verbot von Elektrizität und Kraftfahrzeugen), während die drei Kolonien im Chaco, insbesondere Fernheim und Neuland, ganz eindeutig in der Neuzeit angekommen sind. Mit anderen Worten: Ihrem Verhalten oder öffentlichen Auftreten nach sind die Mennoniten von den übrigen Bürgern Paraguays nicht zu unterscheiden. Allerdings sind sie in der Regel etwas hellhäutiger, haben oft blaue Augen und blonde Haare und sind etwas größer gewachsen als der Durchschnitt – immerhin noch ein äußerliches Erkennungsmerkmal.

Gekommen waren die Siedler als Ackerbauern, aber bald verlegten sie sich auf die Viehzucht im großen Stil, später auch auf das Dienstleistungsgewerbe, das heute vor allem von den (etwa tausend) Mennoniten in Asunción betrieben wird. Aber längst sind nicht mehr alle Nachkommen dieser Einwanderer noch im strikten Sinne Mennoniten. Außer denen, die dem Glauben anhängen, aber nicht getauft sind (etwa 30 Prozent), gibt es auch andere, die keiner Kirche oder Glaubensrichtung angehören (ihre Zahl ist nicht leicht zu ermitteln, vermutlich sind es noch wenige) und sich einfach als deutschstämmige Paraguayer verstehen. Alle Amtsträger, mit denen wir uns im Chaco unterhalten haben, legten großen Wert darauf, die Zugehörigkeit zur Glaubens-, zur ethnischen und zur kulturellen Gemeinschaft begrifflich auseinander zu halten. Seit Jahrzehnten lösen sich jedoch die alten Eindeutigkeiten auf: Einst gehörte jeder Mennonit der Glaubensgemeinschaft an, war zugleich deutscher Abstammung und gehörte auch einer Kooperative an. Heute gibt es nach der gängigen Terminologie „Indigene“, die getauft und Mitglieder einer mennonitischen Gemeinde sind, „Latino-Paraguayer“, die getauft sind und einer Kooperative angehören, und „Deutsch-Paraguayer“, für die weder das eine noch das andere gilt.

Obwohl sie sich zur Trennung von Kirche und Staat bekennen, war es bei den Mennoniten im Chaco lange Zeit üblich, jeweils nur einem gewählten Repräsentanten, der auch bestimmenden Einfluss in religiösen Angelegenheiten besaß, die Verantwortung für alle entscheidenden Funktionen ihrer Gemeinschaft zu übertragen: die Leitung der Produktionskooperative, der Bildungseinrichtungen, des Gesundheitswesens, des Straßenbaus usw. Die beiden erstgenannten Funktionen sind inzwischen formell getrennt, auch wenn sie von derselben Person ausgeübt werden, und das Predigeramt unterliegt ohnehin nicht irgendwelchen administrativen und wirtschaftlichen Vorgaben – was manchmal zu Konflikten führt. Es kommt hinzu, dass im Chaco inzwischen auch der paraguayische Staat Flagge zu zeigen beginnt. Das geht langsam – es fehlt an Mitteln, oder die Gelder gelangen nicht an ihren Bestimmungsort –, doch es gibt inzwischen staatliche Schulen, ein eher symbolisch gedachtes Kontingent von Polizeikräften und Ähnliches. Insgesamt liegt die Verwaltungsmacht aber nach wie vor in den Händen der Mennoniten, und dies, obwohl etwa in der Provinz Boquerón von 42 500 Einwohnern nur 14 500 mennonitisch sind.

Der wirtschaftliche Erfolg der ehemaligen Siedler ist unübersehbar. Sie haben tatsächlich, wie sie es selbst gerne formulieren, „die Wüste zum Blühen gebracht“. Natürlich brauchte das seine Zeit. Bis Ende der 1960er-Jahre hatten sie kaum mehr als das Nötigste, und einige Mitglieder der Gemeinschaft kehrten tatsächlich in die Länder zurück, aus denen sie gekommen waren. Erst ab 1968 ging es steil aufwärts. Die Wende kam mit dem Bau der Transchaco-Straße, die nicht nur den Weg für die Mechanisierung der Landwirtschaft frei machte, sondern auch die Anbindung an die Märkte für Agrarprodukte brachte. Heute erzeugen die Mennoniten 75 Prozent der Milch und der Milchprodukte Paraguays (wobei sie Verarbeitung und Veredelung vor Ort vornehmen) und 15 Prozent der Fleischprodukte. Sie exportieren Erdnüsse, Baumwolle und Hirse, und sie haben eine florierende Leichtindustrie aufgebaut, mit Betrieben, die Fruchtsäfte herstellen, aber auch Unternehmen der Metall- und Holzverarbeitung und des Apparatebaus. Peter Siemens, der Leiter der Kooperative Neumann, beziffert das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen seiner Mitglieder auf 10 500 bis 11 000 Dollar im Jahr – das durchschnittliche Jahreseinkommen in Paraguay beträgt 1 250 Dollar. Erstaunlicherweise bestehen allerdings erhebliche Einkommensunterschiede innerhalb der mennonitischen Gemeinschaft, denn die Ideologie der Kooperativen (in denen übrigens erhebliche progressive Steuern – 10 bis 19 Prozent des Einkommens – zur Finanzierung der Sozialdienste erhoben werden) verbietet keineswegs das Konkurrenzdenken und das Streben nach persönlicher Bereicherung. Auch unter Glaubensgenossen schenkt man sich da nichts . . .

Das Radio spielt Countryund deutsche Popmusik

SO ist Peter Siemens einerseits als Leiter der Kooperative für das große Einkaufszentrum von Neu-Halbstadt verantwortlich, besitzt aber zugleich ein Kaufhaus der gleichen Art, das direkt nebenan liegt. Inzwischen hat er sich von Freunden überzeugen lassen, dass dies zu Interessenkonflikten führen könnte, und so hat er die Leitung seines Geschäfts für die Dauer seines Mandats abgegeben. Denis Rahn, ein junger Mann, der mit seinem privaten UKW-Radiosender gegen die Vorherrschaft von ZP30, dem offiziellen (und finanziell gut ausgestatteten) Sender der Kolonie Neuland antritt, ist empört über die Dumpingpreise der Konkurrenz im Werbegeschäft und regt sich auf über den „Fanatismus der Siedler, die ZP30 unterstützen und mir das Leben schwer machen“. Dabei ist Denis Rahn ein tief gläubiger Mennonit und alles andere als ein Umstürzler. Das belegt sein äußerst konservativer Musikgeschmack: Auf seinem Sender wird vorwiegend amerikanische Countrymusik, deutscher Pop und paraguayische Musik gespielt, Rockmusik ist für ihn ausgeschlossen. Außerdem duldet er keine verbalen Entgleisungen „Ich mache kaum Live-Interwiews, damit es nicht zu ungebührlichen Äußerungen kommt . . .“

In den Augen der Paraguayer sind die Mennoniten (über die die meisten nicht allzu viel wissen) vor allem eine wirtschaftliche Macht, gegründet auf Gewerbefleiß, gute Organisation und Ehrlichkeit – Eigenschaften, die nicht gerade als typisch für das Land gelten. Die wenigen Menschen, etwa in der Hauptstadt, die sich für die Glaubensgemeinschaft näher interessieren, stellen allerdings eher unbequeme Fragen, etwa zum Verhältnis zu den Indigenen oder zur Tragfähigkeit des Sozialsystems und den politischen Ambitionen der Mennoniten.

Als die ersten Siedler im Chaco ankamen, hatten sie keine Ahnung, dass sie dort auf Ureinwohner treffen würden, die überwiegend Jäger und Sammler waren und den Stämmen der Enlhet (auch Lengua genannt) und Nivaclé angehörten. Die ersten Kontakte waren friedlich (schließlich bekennen sich die Mennoniten zur Gewaltlosigkeit), und es kam niemals zu ernsten Konflikten zwischen den Gemeinschaften. Rasch begriffen die Kolonisten, dass ihre Sicherheit letztlich davon abhing, ob es ihnen gelingen würde, diese Nachbarn zu integrieren – das hieß, sie sesshaft, Bauern und Lohnarbeiter aus ihnen zu machen und sie zum mennonitischen Glauben zu bekehren. Die erstenTaufen von Indigenen hat es 1946 gegeben. Da die Neusiedler zumeist über wenig Geldmittel verfügten, hatten sie außerdem Bedarf an billigen Arbeitskräften. Im Guten wie im Schlechten ist die Integration der Indigenen weitgehend gelungen. Die positiven Aspekte sind offenkundig: In den Kooperativen, in Krankenhäusern, Schulen, Radiosendern, überall trifft man Indigene, die Posten auf der mittleren und unteren Ebene bekleiden und die Leistungen der Sozialversicherung in Anspruch nehmen können. Fast alle Kinder der verschiedenen Stämme gehen zur Schule – das ist in anderen Provinzen Paraguays durchaus nicht der Fall. Und die Anwesenheit der Mennoniten im Chaco hat auch dazu geführt, dass ethnische Gruppen zuwanderten, die hier früher nicht heimisch waren.

Doch die Vertreter der Indigenen verweisen auch auf die Kehrseite der Medaille: Diskriminierung der Ureinwohner und die seit langem bestehende Ausbeutung von Arbeitskräften, die ihren Lohn in Form von Gutscheinen erhalten, die nur in den Läden der Kooperativen einzulösen sind. Heute richtet sich die Kritik vor allem auf die Ghettoisierung, die unzureichenden sanitären Bedingungen in manchen Siedlungen und die weit verbreitete Prostitution. Aber es geht auch grundsätzlich um den Identitätsverlust der Indigenen, die dem Paternalismus der Mennoniten ausgeliefert sind. Rückendeckung erhält die Bewegung der Indigenen von der katholischen Kirche, der man aber durchaus auch andere als nur soziale Motive unterstellen darf. Den Katholiken ist der Zulauf, den die „Konkurrenz“ zu verzeichnen hat, natürlich ein Dorn im Auge. Zu ihrer Gegenoffensive gehört auch ein weit reichender UKW-Sender, der von den drei Bistümern des Chaco gemeinsam betrieben wird. Radio Pa’i Puku soll ZP30 den Rang ablaufen.

Was macht den inneren Zusammenhalt der Mennoniten heute aus? Ist es die Herkunft, der Glaube, die wirtschaftliche Machtstellung? Werden sie den ökonomischen Erfolg sichern und steigern können – sie sind schließlich nur 30 000 von den 6 Millionen Einwohnern Paraguays und leben überdies in relativ isolierten Gemeinschaften. Diese demografische Zahl verweist auf ein weiteres Problem: die Inzucht und ihre Folgen, vor allem in Hinblick auf Geisteskrankheiten. Es ist kein Zufall, dass die Mennoniten über das beste psychiatrische Krankenhaus des Landes verfügen. Im Alltag ist es mit den Tugenden, die von der Kanzel gepredigt werden, auch nicht so weit her. Es gibt zwar kaum Mischehen, dafür aber um so mehr Indigene mit blauen Augen, und inzwischen auch die ersten Aids-Erkrankungen.

Wird Paraguay eines Tages einen mennonitischen Präsidenten haben? Die Frage stellt sich bereits ganz konkret: Der Gouverneur der Provinz Boquerón, Orlando Penner, ein Mitglied der mennonitischen Gemeinschaft, empfiehlt sich als Kandidat. Penner, Mitglied der 1992 gegründeten Partei Encuentro Nacional, war einst ein erfolgreicher Motorradrennfahrer und kann sich rühmen, im Auto die Strecke Asunción–Filadelfia auf der Transchaco mit einer Duchschnittsgeschwindigkeit von 150 Stundenkilometern bewältigt zu haben. Aber auch sonst legt der Mann Tempo vor. Sein dürftiges Budget – die staatlichen Gelder kommen nur teilweise und mit vielen Monaten Verspätung an – hat er vollständig offen gelegt. Auf die politische Kaste in Asunción muss ein solches Verhalten provozierend wirken. Doch andere könnten in ihm einen Hoffnungsträger sehen.

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Siehe Bernard Cassen, „Limites de la transparence“, Le Monde diplomatique, Juli 2001. Siehe auch www.transparency.org; im Korruptionsindex der Organisation von 1998 stand Paraguay noch an zweiter Stelle, nur übertroffen von Kamerun. 2 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenwert, dass sich im Juli auch in Paraguay – nach einem Besuch des Autors – eine Sektion der Attac-Bewegung gegründet hat (in Argentinien, Brasilien, Chile, Bolivien und Uruguay ist Attac bereits vertreten). 3 Tatsächlich gibt es im Chaco über 400 Vogelarten und mehr als 100 Säugetierarten, darunter Tapire, Nabelschweine, Pumas und Bären. 4 Augusto Roa Bastos, „Menschensohn“, Frankfurt am Main (Fischer) 1994. Das spanische Original erschien 1960. 5 Nach dieser Schlacht ist eine der drei Provinzen im Chaco benannt (im Chaco Medio, wo drei mennonitische Siedlungen liegen), die beiden anderen heißen Presidente Hayes und Alto Paraguay. 6 Diese Version des Plattdeutschen ist geprägt durch die lange Isolierung in nicht deutschsprachiger Umgebung und deshalb ein interessantes Objekt für die Sprachforschung. 7 Heute gibt es 17 mennonitische Siedlungen, 3 im Chaco und 14 im östlichen Landesteil, außerdem existiert eine Mennonitengemeinde in der Hauptstadt Asunción.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2001, von BERNARD CASSEN