Das Big-Brother-Business
Von FRANCK MAZOYER *
Von morgens bis abends werden wir beobachtet: Handys, Computer, Scheckkarten und viele andere gängige Gebrauchsgegenstände spähen uns permanent aus, registrieren alles, was wir tun: wo wir hingehen, welche Schritte wir unternehmen, wie wir uns verhalten, was wir konsumieren. Unser gesamtes Privatleben gerät zunehmend ins Visier einer neuen Generation von Voyeuren.
Und das ist erst der Anfang. Die Handyhersteller etwa sind auf dem besten Wege, uns eine Innovation zu bescheren, deren Auswirkungen durchaus fragwürdig sind: die so genannte „Geolokalisierung“. Dank MPS (Mobile Positioning System), einer sich rapide verbreitenden Technologie, wird es demnächst möglich sein, jeden Handybenutzer jederzeit zu orten. In Frankreich waren derlei Praktiken bisher nur im Rahmen polizeilicher Ermittlungen gestattet (etwa nach der Ermordung des Präfekten von Korsika, Claude Erignac).
Das kommerzielle Potenzial dieser modernen Überwachungstechniken ist beträchtlich. So könnte etwa ein Kino, wenn die abendliche Vorstellung nicht ausverkauft ist, Passanten in der Umgebung ganz zielgerichtet Plätze zu reduzierten Preisen anbieten. Dieses Angebot würde dann, zusammen mit einem Umgebungsplan, auf dem Display des Handys erscheinen. Die Lokalisierung des jeweiligen Benutzers ist ohne sein Wissen möglich: Sobald er in eine „Zelle“ der mit Empfangsantennen ausgestatteten Zone kommt, wird ein nicht wahrnehmbares Signal von seinem Gerät zur Antenne gesendet. Die Zeitspanne, die für die Übertragung nötig ist, gibt den Überwachern Aufschluss darüber, wie weit der Betroffene von der Antenne entfernt ist, das heißt, sie können fast auf den Meter genau feststellen, wo sich der potenzielle Kunde gerade befindet.
In Großbritannien werden die Nutzer des Handyserviceunternehmens Zagme, nachdem sie ihre jeweiligen Interessengebiete mitgeteilt haben, automatisch und persönlich über ihr Handy benachrichtigt, wenn sie an einem Laden mit einem Angebot vorbeikommen, das sie möglicherweise interessieren könnte. Das ziellose Flanieren durch die Stadt gehört der Vergangenheit an – um deine Freizeit kümmert sich jetzt die Maschine. Sie entscheidet an deiner Stelle, lockt dich mit Sonderpreisen, bezirzt dich mit einer Werbung, die deinem ganz persönlichen Geschmack entspricht. Weitere Nutzungsmöglichkeiten dieser Überwachungstechnik: Ein Arbeitgeber kann das Verhalten seiner Angestellten kontrollieren; Eltern können die Spur ihres Sprösslings verfolgen und sich jederzeit über seinen Aufenthaltsort auf dem Laufenden halten, ohne dass er etwas davon weiß, usw.
Der Siemens-Konzern will noch weiter gehen. Er plant die Entwicklung eines „telefonischen Teddybären“, um Kinder über Satellit zu orten, wenn diese in eine vermeintliche Gefahr geraten. Über eine Telefonzentrale soll dann der Kontakt zu dem Kind hergestellt werden. „Es geht um die Frage, ob die Lokalisierung einer bestimmten Person mit deren Billigung geschieht und, falls nicht, ob diese sich wirklich dagegen wehren kann“, sagt der Journalist Jérôme Thorel. „Die Antwort ist keineswegs klar, weder auf Seiten der Akteure noch auf Seiten der Ordnungshüter, die freilich immer ein Interesse haben, Leute ohne deren Wissen überwachen zu können. Bei den Demonstrationen der Globalisierungsgegner in Prag, Mailand und Nizza hat die Polizei ein ähnliches System eingesetzt, um die Demonstrationsführer zu lokalisieren und ihre Aktionsfreiheit einzuschränken.“1
Jérôme Thorel ist Mitglied von Privacy International, einer Vereinigung, deren Ziel es ist, die Öffentlichkeit für die Bedrohungen zu sensibilisieren, die die neuen Technologien für die individuellen Freiheiten bedeuten. Im Dezember 2000 verlieh Privacy International die ersten „Big Brother Awards“ an französische Firmen, deren „Technologien sich des Romans ,1984‘ von George Orwell als würdig erweisen“. Auf eine solche öffentlichkeitswirksame Werbung hätten die derart „Ausgezeichneten“ sicherlich gern verzichtet. Angeprangert wurde zum Beispiel France Télécom wegen ihrer Arbeiten auf dem Gebiet der Geolokalisierung und ihrer Kooperation mit der schwedischen Firma Cellpoint, die in der Entwicklung dieser Überwachungstechniken sehr weit fortgeschritten ist.
Der schwedische Telefonkonzern Ericsson arbeitet daran, die Möglichkeiten der Geolokalisierung mit der Videotechnik zu kombinieren. Damit könnten beispielsweise Autofahrer, wenn sie nicht im Stau stehen wollen, über Handy Verbindung zu den Überwachungskameras des Autobahnnetzes in ihrer jeweiligen Umgebung aufnehmen und anhand der Bilder die Verkehrsdichte beurteilen.
Mit der Entwicklung des Digitalrichtfunks wäre es auch vorstellbar, eines Tages Anschluss an sämtliche Videoüberwachungssysteme einer Stadt zu erlangen. Man könnte sich dann etwa in das Videosystem seiner Bank einklinken oder in das eines Museums oder eines Kinos, um sich über die Länge der Warteschlange zu informieren. Durch einfachen Knopfdruck wäre man in wenigen Sekunden überall in der Stadt und könnte sich alles in aller Ruhe aus der Ferne ansehen . . .
Die zunehmende Verbreitung von Internet und Webcams hat dazu geführt, dass die Privatsphäre tausender von Haushalten auf der ganzen Welt schon längst keine Geheimnisse mehr birgt.2 Aber die Technik funktioniert auch in umgekehrter Richtung. Die Digitaltechnik soll den Fernsehzuschauer dazu verführen, sein eigener Programmdirektor zu werden. Bei entsprechender Bezahlung kann er die Position der Kameras bei der Übertragung eines Autorennens oder eines Fußballspiels selbst auswählen.
Diese neue Form von Interaktivität macht den passiven Bildkonsumenten immer mehr zum Organisator seiner eigenen Wünsche. Der Fernsehzuschauer wird sich wie der Held des Films „Videodrome“3 in der pixelnden Unendlichkeit seines Bildschirms verlieren können. Ermöglicht wird diese Interaktion durch die Digitaltechnik und die Informatik, die das Bild in einen formbaren Stoff verwandeln.
Auch die Technik des „intelligenten Sehens“ (smart vision) breitet sich zunehmend aus. Dies belegen die Kameras des Projekts „Chromatica“, die zurzeit in Pariser, Londoner und Mailänder U-Bahn-Stationen getestet werden und die in der Lage sind, „normabweichende“ Verhaltensweisen der Fahrgäste zu registrieren. „In bestimmten Bereichen der Metro sollte man besser nicht stehen bleiben“, erklärt Louahdi Khoudour, einer der Verantwortlichen des Projekts in Frankreich, „damit das System dies nicht als eine gefährliche oder zumindest verdächtige Situation bewertet.“
Der an das gesamte Kameranetz angeschlossene Zentralcomputer verfügt über ein Softwareprogramm zum Aufspüren „verdächtiger“ Personen: Sobald etwa ein illegaler Händler oder ein Bettler in der U-Bahn-Station eintrifft, wird er von der Kamera erfasst. Bewegt er sich länger als eine Minute nicht, verfärbt sich sein Gesicht auf dem Kontrollmonitor grün. Nach zwei Minuten wird es rot, was einen Alarm auslöst. Ruhig und unbeweglich verharren, in die falsche Richtung laufen, in Gruppen zusammenstehen, verbotene Bereiche überschreiten – all das sind höchst dubiose Verhaltensweisen, die von den Kameras sofort weitergemeldet werden.
Erste Opfer dieser technischen „Spitzel“ sind die in U-Bahn-Stationen unerwünschten Personen: Obdachlose, Clochards und andere, die längere Zeit die Sitzbänke belagern. Wer sich nicht bewegt, der schwimmt eben nicht mit im unaufhörlichen Strom der Nomaden der Leistungsgesellschaft.
Damit wird das Konzept der „Nulltoleranz“ immer konsequenter durchgesetzt. Mit dem Vormarsch der Digitaltechnik verschärfen sich Videoüberwachung und soziale Kontrolle in einer Weise, die wahrscheinlich unumkehrbar ist. Das letzte Wort hat nicht mehr der Mensch. Statt seiner wird der Computer, angeschlossen an ein riesiges Netz von Kameras, zum gnadenlosen Richter. Und die Realität wird schließlich keine andere Wahl haben, als sich nach den Bewegungen des Bildes zu richten.
Es gibt bereits zahlreiche kommunale Verwaltungen – von ganz unterschiedlicher politischer Couleur –, die sich ohne Bedenken mit hoch perfektionierten Systemen ausstatten.4 Vor einem Jahr beschloss die prosperierende Stadt Lyon, im Stadtzentrum etwa fünfzig hochempfindliche Überwachungskameras zu installieren, die einen Schwenkradius von 360 Grad haben und mit denen noch aus über 300 Meter Entfernung Personen identifiziert werden können. Die Einführung dieses umfassenden Kamerasystems löste nicht den geringsten Widerstand aus, noch nicht einmal eine richtige Debatte. Die rechten Abgeordneten billigten es ebenso wie ein großer Teil der Linken. Und der stellvertretende Bürgermeister Jean-François Mermet meinte sogar: „Wenn die Ergebnisse überzeugend sind, werden wir das Netz noch engmaschiger anlegen und es auch in anderen Stadtvierteln einsetzen.“
Bei den Kommunalwahlen vom März 2001 eroberte die Linke das Rathaus von Lyon. An der Sicherheitsideologie hat das nichts geändert. Jean-Louis Touraine, Sicherheitsbeauftragter der Stadtverwaltung, stellte ein nagelneues Überwachungszentrum vor: „Wir setzen auf Abschreckung, und dabei arbeiten wir mit der allergrößten Transparenz. Viele Lokalzeitungen haben ausführlich darüber berichtet, und jeder weiß, wo sich die Kameras befinden. So was stärkt natürlich das Sicherheitsgefühl der Bürger.“
In der Schaltzentrale überwachen drei Leute am Bildschirm Tag und Nacht das Kommen und Gehen in den Straßen. Mit Mausklick steuern sie die 52 Digitalkameras. Ob die Videoüberwachung wirklich etwas gegen die Unsicherheit in den Straßen ausrichtet, ist freilich keineswegs erwiesen. Zunächst einmal wird sich die Kriminalität tendenziell an den Rand des Überwachungsradius verlagern.5
Wird man diese Kameras auch zu anderen Zwecken einsetzen? „Damit das ‚Auge‘ nicht zu weit reicht, gibt es eine Software, durch die Privatwohnungen automatisch ausgeblendet werden“, versichert Touraine. Eine Schutzmaßnahme, die nach Einschätzung der Lyoner Initiative „Non à Big Brother!“ wohl kaum allzu genau befolgt werden dürfte. „Woher sollen wir die Gewissheit nehmen, dass diese Kameras nicht verwendet werden, um die Bevölkerung zu registrieren, ihre Konsumgewohnheiten herauszufinden, bei Demonstrationen politische Gegner zu verfolgen oder die Obdachlosen aus bestimmten Vorzeigevierteln der Stadt zu vertreiben?“
Andere Städte haben zur Vermeidung von Missbrauch Ethikkomitees eingesetzt. Nicht so Lyon. Und auch nicht Newham, eine Kommune am Stadtrand von London. Hier ist man noch einen Schritt weiter gegangen und setzt inzwischen auf Gesichtserkennung. In den Straßen sind biometrische Kameras installiert, die die Gesichter der Passanten scannen. Diese Aufnahmen werden vom Computer systematisch mit den Fahndungsfotos der Polizei abgeglichen, um gesuchte Personen aus der Menschenmenge herauszufiltern.
Dass die öffentliche Meinung diese Überwachungssysteme toleriert, ist nur schwer verständlich. Aber inzwischen hat man ja sogar schon das „technische Blockwartsystem“ entwickelt, das heißt die Videoüberwachung von Sozialwohnungen oder Wohnanlagen durch die Bewohner selbst. In manchen Wohnhäusern wird ein System erprobt, das jedem Bewohner die Möglichkeit bietet, auf seinem Fernseher zu sehen, was in den Gemeinschaftsbereichen los ist, wer sich im Flur oder Treppenhaus gerade von hier nach dort bewegt. In Südfrankreich findet man bereits zahlreiche Luxuswohnanlagen nach amerikanischem Vorbild, die von äußerst raffinierten Videoüberwachungssystemen kontrolliert werden.
Die Umzäunung aus feuerverzinktem Stahl, das automatische Tor, das sich per Fernbedienung öffnen lässt, und die Spezialkameras ermöglichen es, den Eingangsbereich der Wohnanlage auf dem Monitor en détail sichtbar zu machen und jeden einzelnen Besucher zu identifizieren. Etwa zwanzig solcher Wohnanlagen werden 2002 bezugsfertig sein. Diese Anwesen mit überwachtem Eingang beherbergen in der Regel ein Yuppie-Publikum, das eine wesentliche Gemeinsamkeit hat – das hohe Einkommen. Die Vermischung der sozialen Milieus ist in solchen Anlagen natürlich nicht erwünscht. Überwachung und Intoleranz, das sind die beiden Prinzipien, die in diesen Luxusfestungen im Zentrum der Städte eine unselige Allianz eingehen.
dt. Matthias Wolf
* Journalist