14.09.2001

Der Jude Süß

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Der Jude Süß

Von LIONEL RICHARD *

Der 4. Februar 1738 war für Stuttgart ein Festtag. Aus der ländlichen Umgebung strömten die Württemberger in die Stadt und promenierten in den Straßen. Juden waren nicht darunter, sie hatten in der Stadt kein Aufenthaltsrecht. Doch die Hauptperson in dem makabren Schauspiel, zu dem die Massen drängten, war ein Jude: Joseph Süß Oppenheimer, Geheimer Finanzrat des Herzogs Karl Alexander, war in der Nacht zum 13. März 1737, unmittelbar nach dem plötzlichen Tod des Landesherrn, verhaftet und am 13. Dezember zum Tode verurteilt worden. Zu seiner Hinrichtung kamen mindestens 12 000 Menschen.

Süß Oppenheimer war nach Meinung der Richter die treibende Kraft hinter allen Übeltaten des Herzogs Karl Alexander; er galt als verantwortlich für die erdrückende Steuerlast, für die Ausweitung der Korruption und sogar für die herzoglichen Pläne, die Landstände abzuschaffen und die in der Verfassung festgelegte Teilung der Macht aufzuheben. Der Anklagepunkt, er habe die Ehre zahlreicher junger Frauen verletzt, wurde ebenso fallen gelassen wie der Plan, einen aufgehobenen Erlass wieder in Kraft zu setzen, welcher den Juden jeden „fleischlichen Umgang mit Christinnen“ verbot.

Die Hinrichtung des Joseph Süß Oppenheimer wurde als eine Verhöhnung seines ausschweifenden Lebens inszeniert: Man präsentierte den Schaulustigen den „hebräischen Vogel, der von Bett zu Bett geflogen“ war, in einem eisernen Käfig, bevor man ihn, unter dem Geschrei der Menge – „Tod dem Juden“ – an einem zehn Meter hohen Galgen henkte.

Süß Oppenheimer – für Württemberg der Inbegriff des „Hofjuden“, dem in einem deutschen Kleinstaat des 18. Jahrhunderts der Aufstieg unter die Mächtigen gelungen war – kam als Sohn des Kaufmanns Süßkind-Oppenheimer in Heidelberg zur Welt. Er hatte es bereits zum Finanzmakler in der Pfalz gebracht, als ihn Herzog Karl Alexander 1733 zu seinem Finanzberater machte.

Seine Tragödie ergab sich aus der Politik, die er vertreten sollte, aus der Forderung nach modernisierter Verwaltung und neuer, kapitalistischer Wirtschaft zum Vorteil des Herrschers. Dieser, 1712 zum Katholizismus konvertiert, hatte sich mit zahlreichen katholischen Beratern umgeben, doch die Vorwürfe und der Hass der protestantischen Bevölkerung Württembergs, angestachelt vom Ständeparlament, das mit Karl Alexander im Streit lag, richteten sich gegen Süß, den Juden. Als „Blutsauger“, „Würger“ und „Parasit“ wurde er bezeichnet. Dass er den Juden in Württemberg das Tabakmonopol überließ, dürfte dazu beigetragen haben. Im religiös bestimmten Streit zwischen dem Machthaber und seinen Gegnern wurde Süß am Ende das Opfer von Machenschaften der Führer der Landstände. Eine Begnadigung konnte er nicht erwarten, nachdem er es abgelehnt hatte, zum Protestantismus überzutreten.

Von 1737 bis 1739 erschienen zahlreiche Traktate und Flugschriften gegen den Juden Süß. Später, 1827, verfasste auch der schwäbische Dichter Wilhelm Hauff, bereits berühmt für seine Sammlung orientalischer Erzählungen („Die Karawane“) eine Novelle über ihn. Es war eine Art Hommage an seinen Ahnherrn, den Parlamentarischen Rat Johann Wolfgang Hauff, der zu den Verfechtern ständischer Rechte gehört hatte.2 Wilhelm Hauff war damit gewissermaßen familiär vorbelastet: Er schilderte die Ereignisse aus protestantischer Sicht und zeichnete ein wenig vorteilhaftes Bild vom Berater des Herzogs. Süß erscheint in der Novelle als Fremder, als ein Mann mit zweifelhafter Moral und als der Verantwortliche für die Störungen in einem eigentlich funktionierenden System von Institutionen. Um die Ordnung wieder herzustellen und die Folgen der furchtbaren sozialen Erschütterungen zu überwinden, muss Süß sterben – in der Novelle wird er sogar mit dem Teufel verglichen. So ist es kein Wunder, dass sich später die deutschen Rassisten und Nationalisten auf die Hauff’sche Novelle beriefen und glaubten, darin das „wahre Bild“ des Juden Süß zu finden.

Als der Schriftsteller Lion Feuchtwanger 1916 begann, sich mit dem Stoff zu beschäftigen, war die historische Figur Joseph Süß Oppenheimer durchaus nicht dem Vergessen anheim gefallen. Feuchtwanger, der aus einer Familie des assimilierten jüdischen Bürgertums in Bayern stammte, allerdings mit dem Judentum gebrochen hatte (ohne den herrschenden Antisemitismus zu verkennen), schrieb zunächst ein Drama in drei Akten, das als Parabel über den Ersten Weltkrieg gedacht war. Danach arbeitete er das Stück, das 1917 erschienen war, zu einem Roman um, der ein Gesamtbild der Epoche zeichnete, in der Süß gelebt hatte. Dieses Buch, es war Feuchtwangers erster historischer Roman, hatte bei seiner Veröffentlichung 1925 großen Erfolg: mehr als 100 000 verkaufte Exemplare innerhalb von fünf Jahren, Übersetzungen in rund zwanzig Sprachen.3 Als Feuchtwanger 1958 im amerikanischen Exil starb, waren weltweit mehr als zwei Millionen Exemplare von „Jud Süss“ verkauft worden.

Am 4. Oktober 1934 wurde in London ein Film des Regisseurs Lothar Mendes uraufgeführt, der sich sehr genau an die Romanvorlage hielt. „Jew Suess“ fand international eine gewisse Beachtung, im nationalsozialistischen Deutschland wurde der Film allerdings verboten. Er legte zwar viel Gewicht auf die Ausstattung und die Darstellung des Ghettos und der jüdischen Rituale, sparte aber nicht mit Verweisen auf die Aktualität des Antisemitismus. Goebbels soll sich darüber ungeheuer aufgeregt und darum beschlossen haben, dass sich Deutschland dieses Themas selbst annehmen müsse. Für die Herstellung des Gegengiftes suchte er sich den bereits namhaft gewordenen Regisseur Veit Harlan. Feuchtwanger protestierte gegen die Verfälschung seines Romans, doch das vom Nazischriftsteller Eberhard Wolfgang Möller verfasste Drehbuch basierte nicht auf seinem Werk, sondern auf der Novelle von Wilhelm Hauff.

Das Filmprojekt wurde im November 1938 begonnen, zu einem Zeitpunkt, als das Reichspropagandaministerium die Filmbranche aufforderte, mehr antisemitische Stoffe auf die Leinwand zu bringen. Man wusste, worum es ging. Am 15. März 1940 begannen die Dreharbeiten in Babelsberg. Um den Erfolg beim Publikum nicht zu gefährden, empfahlen die nationalsozialistischen Propagandaexperten, den Film nicht als „antisemitisch“ vorzustellen. Seine Welturaufführung erlebte „Jud Süß“ am 5. September 1940 auf der Biennale in Venedig. Veit Harlan, seine Frau, die Schauspielerin Kristina Söderbaum, und Hauptdarsteller Ferdinand Marian waren anwesend, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen.

In Deutschland, wo während der Aufführungen häufig „Tod den Juden!“ gerufen wurde, überstiegen die Zuschauerzahlen in kurzer Zeit die 20-Millionen-Grenze.4 Der Film wurde aber auch in allen besetzten Ländern Europas gezeigt. Heinrich Himmler fand ihn so überzeugend, dass er am 30. September 1940 die Anweisung erließ, ihn allen Mitgliedern der SS und der Polizei „noch im Laufe des Winters“ vorzuführen. Auch das Wachpersonal in den Konzentrationslagern wurde zum Kinobesuch verpflichtet.

Dieser Film ist eine Geschichtsfälschung: Er verschweigt den konfessionell geprägten Konflikt zwischen Herzog Karl Alexander und dem württembergischen Ständeparlament.5 Und auch die Beziehungen, die Süß mit Damen der Aristokratie unterhielt, werden beiseite gelassen. Auf diese Weise lag aller Nachdruck auf dem „Beischlaf eines Juden mit einer Christin“ – ein deutlicher Hinweis auf die Nürnberger Rassengesetze. Süß verkörpert in dem Film alle Stereotype des Antisemitismus: Er ist geldgierig, intrigant, verschlagen, niederträchtig. Untereinander verständigen sich die Juden im Film in einer Mischung aus Gebärdensprache und ins Lächerliche verzerrtem Jiddisch.

Auch die Bildregie ist von symbolischer Eindeutigkeit – Juden haben ihren Auftritt stets in der Nacht oder im Halbdunkel. Als Süß gehenkt wird, kündigt sich hingegen das Happyend durch eine plötzliche Aufhellung an: Es beginnt zu schneien, und aller Schmutz verschwindet unter dem Weiß. Dem Volk von Württemberg wird „Sauberkeit“ versprochen. Und darum bleibt es im Film nicht bei der Verurteilung der Hauptfigur, sondern alle Juden werden aus Württemberg verbannt – dazu erklingt eine erlösende Musik von religiöser Feierlichkeit.

Nach dem Krieg versuchte sich Veit Harlan mit dem Argument zu entlasten, die deutlich antisemitischen Züge des Films seien nur durch entscheidende Eingriffe ins Drehbuch entstanden, die Goebbels höchstpersönlich vorgenommen habe. Dafür gab es allerdings nicht den geringsten Beweis. Der Propagandaminister, der alle seine Maßnahmen und Entscheidungen sorgfältig notierte, erwähnt in seinen Tagebüchern nur einige Gespräche mit Harlan.

Nachdem der Regisseur von „Jud Süß“ 1948 von einer Entnazifizierungskommission als „politisch unbelastet“ eingestuft worden war, fanden sich vier deutsche Juristen, die ihn 1949 dann doch noch vors Gericht brachten: wegen Beihilfe zu „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Am 15. Juli 1948 reichten sie beim Hamburger Landgericht, in der damaligen britischen Zone, Klage ein. Der Prozess dauerte bis zum 23. April 1949 und endete mit dem Freispruch Harlans. Doch der Staatsanwalt Gerhard Kramer ging in Revision, und der Oberste Gerichtshof für die britische Zone in Köln kam in seinem Urteil vom 12. Dezember 1949 zu dem Schluss, der Film sei „verbrecherisch“, und hob das Urteil wieder auf.

Verbrecherische Filmkunst

ALSO kam es zur Neuverhandlung in Hamburg, und nach weiteren sechs Wochen Prozessdauer fiel am 29. April 1950 das endgültige Urteil. Zwar erfüllten nach Ansicht des Gerichts die Handlungen Harlans den Tatbestand eines „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, doch man billigte ihm mildernde Umstände aufgrund der Zwangssituation zu, in der er sich befunden habe. Er wurde freigesprochen. Die Einstufung des Films als „verbrecherisch“ dagegen wurde bestätigt. Harlan konnte damit seine Arbeit als Regisseur fortsetzen und drehte bis zu seinem Tod noch zehn Filme. Sein „Jud Süß“ blieb allerdings anrüchig, auch wenn der Film ab 1955 in der Bundesrepublik wieder gezeigt werden durfte (mit Ausnahme von Westberlin, wo das Besatzungsstatut galt). Auch wenn mit der Wiedervereinigung die Aufführung allgemein erlaubt ist, wird der Film lediglich im Rahmen von Veranstaltungen oder Seminaren zur Geschichte des Nationalsozialismus gezeigt – und er ist dann häufig Anlass zu heftigen Debatten.

So war es auch im Februar 2001 in Fürth. Dort beschloss die Leitung des Jüdischen Museums, den Film im Rahmen einer Ausstellung über die Geschichte von „Jud Süß“ zu zeigen.6 Ralph Giordano, ein Überlebender der Verfolgung durch die Nazis, der 1949 den Prozess gegen Harlan in Hamburg besucht und den Film dort gesehen hatte, erhob heftigen Einspruch.7 Nach seiner Erinnerung handelte es sich um einen „Aufruf zum Rassenhass gegen die Juden“. Kunst sei das auf keinen Fall, erklärte er, und es gebe nicht den geringsten Grund, diesen „schändlichen“ Film in Fürth zu zeigen. Schließlich wisse man aus Umfragen, dass 13 Prozent der Deutschen die Weltsicht der extremen Rechten teilten und dass rund 30 Prozent antisemitische Neigungen besäßen.

In einer von Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern unterzeichneten Petition wurde ein Verbot aller „öffentlichen Aufführungen“ des Films gefordert. Dagegen zeigte sich Haim Rubinzstein, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in der fränkischen Stadt, letztlich konzilianter: „Mir ist es gleichgültig, ob dieser Film gezeigt wird oder nicht. Dass man ihn allerdings in einer Einrichtung vorführen will, die als ‚jüdisch‘ gilt und in der auch Thorarollen aufbewahrt werden, das halte ich für eine Schande.“ Die Aufführung wurde aufgrund dieser Situation in die Räume der Volkshochschule von Fürth verlegt.

Zur Verschärfung des Tones dürfte die Harlan-Biografie des Filmkritikers Frank Noack beigetragen haben. In „Des Teufels Regisseur“8 spielt Noack dessen Schuld herunter und hebt stattdessen seine Qualitäten als Filmregisseur hervor. Er plädiert darin für eine differenzierte Bewertung der Filme und dafür, Harlan nicht länger „eindimensional“ als Goebbels’ Komplizen darzustellen.

Nun ist für Ende September eine Fernsehdokumentation angekündigt, die den Versuch unternehmen will, die Gerichtsverfahren gegen Harlan von 1949 und 1950 nachzuzeichnen, und in der auch Ausschnitte aus dem berüchtigten „Jud Süß“ gezeigt werden. Man kann sich fragen, welchen Sinn eine solche Abwägung des Für und Wider haben kann, wenn nicht der ganze Film gezeigt wird und es keine gründliche Analyse und Hintergrundinformation gibt. Muss nicht – ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen und in einem völlig anderen historischen Kontext – bei vielen Zuschauern der Eindruck geweckt werden, der Regisseur sei vielleicht gar nicht mitschuldig an den Verbrechen der Nationalsozialisten?

Letztlich könnte hier die gleiche Masche versucht werden, die auch im suggestiven Titel der Harlan-Biografie von Frank Noack zu erkennen ist: „Des Teufels Regisseur“. Natürlich ist immer der Teufel am Werk, wenn es schlimm steht in der Welt. Und was könnte der armselige und bedauernswerte Regisseur dann anderes sein als ein Werkzeug, das sich benutzen lassen muss?

dt. Edgar Peinelt

* Emeritierter Professor an der Université de Picardie. Autor des Essays „Le Nazisme et la Culture“, Brüssel (Complexe) 2001.

Fußnoten: 1 Siehe Achim Wörner, „Die unendliche Geschichte des ‚Jud Süß‘ “, Die Zeit, 1. Mai 1992. 2 Wilhelm Hauff, „Jud Süß / Othello / Die Sängerin“, München (Winkler) 1981. 3 Lion Feuchtwanger, „Jud Süss“, Berlin (Aufbau) 1997. 4 Die Nazipropaganda bot auch ein Buch zum Film: J. R. George, „Jud Süß“. Roman. Mit 16 Bildern aus dem gleichnamigen Terra-Film, Berlin 1941. 5 Siehe das Standardwerk zu dieser Frage: Régine Mihal Friedman, „L’Image et son juif: Le juif dans le cinéma nazi“, Paris (Payot) 1983. 6 Um die Arbeit des Jüdischen Museums hatte es in Fürth bereits Diskussionen gegeben. Die Entscheidungen von Bernhard Purin, Leiter des Museums und Nichtjude, und seinem wissenschaftlichen Beirat war Gegenstand zahlreicher Debatten. 7 Ralph Giordano, „Die Zelluloid-Ouvertüre für den Holocaust“, Nürnberger Nachrichten, 17. Februar 2001. 8 Frank Noack, „Des Teufels Regisseur“, München (Belleville) 2000. 9  „Jud Süß – Ein Film als Verbrechen?“, Regisseur: Horst Königstein, Produzent: Reiner Milker, mit Ausschnitten aus dem Nazifilm „Jud Süß“, Interviews und nachgestellte Szenen aus den Gerichtsverfahren gegen Veit Harlan. Ausstrahlung, vorbehaltlich einer Programmänderung, auf Arte am 21. September um 20.45 Uhr, sowie auf ARD am 3. Oktober um 23.15 Uhr.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von LIONEL RICHARD