14.09.2001

Aus der Zauber

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Aus der Zauber

Von DERRICK DE KERCKHOVE *

Netscape war das Modell, und Netscape brachte die Netzwirtschaft in Mode. Bereits am Abend ihres Börsengangs am 9. August 1995 belief sich die Kapitalisierung der Netscape Communications Corp. auf 2 Milliarden Dollar, obwohl das Unternehmen noch keinen einzigen Pfennig erwirtschaftet hatte. Damals, in den Pionierzeiten des Internets, kannten den Internet-Browser „Netscape Navigator“ praktisch alle, die sich mit dem neuen Medium beschäftigten. Man probierte ihn aus und war überzeugt. Es war die erste kommerzielle Version der so genannten Mosaic-Engine, die ein junges Genie namens Marc Andreessen programmiert hatte.

Ebenso wie die Suchmaschine „Yahoo!“, die wenige Monate später die Börsengipfel stürmte, bewies Netscape, dass das World Wide Web hinreichend ausgereift war, um einen eigenständigen Wirtschaftssektor zu bilden. Netscape gab den Startschuss zu einer Ökonomie, die sich nach dem Schneeballprinzip entwickelte. Internet, E-Mail, Web, Portal, Neue Ökonomie, Netzwirtschaft – in der Euphorie der Anfangszeit stand eins fürs andere.

Im Oktober 1995 hatten die Firmenanteile des Netscape-Gründers Jim Clark einen Börsenwert von 425 Millionen Dollar erreicht. Ein Jahr zuvor – er hatte gerade Silicon Graphics verlassen, um Netscape zu gründen – sprach Clark auf einer Tagung in Tokio über die Zukunft der Multimedia-Technik.: „Ich habe [dem Aufsichtsrat von Silicon Graphics] eine Beteiligung angeboten, aber man hat abgelehnt. Also habe ich meine Anteile verkauft, 20 Millionen Dollar, und in Netscape investiert. In weniger als einem Jahr werde ich 400 Millionen Dollar daraus machen.“

Wie konnte er, der den Schritt als Erster wagte, die inflationäre Entwicklung in der Netzwirtschaft, die jeden Zusammenhang zwischen Börsenbewertung und Realwert sprengte, mit solcher Treffsicherheit vorhersehen? Jedenfalls wusste er den Hype zu nutzen, und „amazon.com“, „Yahoo!“, „e-bay“ und wie die Dotcom-Unternehmen alle heißen, taten es ihm gleich, denn es sprach sich rasch herum, dass sich das Web weniger von tatsächlichen Gewinnen nährte als von Gewinnversprechungen.

Es begann, was der Psychologe und ehemalige Forscher am McLuhan-Programm Robert McIllwraith als „feelings’ economy“ bezeichnete. In der „gefühlsgeleiteten Wirtschaft“ lässt sich der Investor von seinem Gefühl leiten, das wiederum von Gerüchten bestimmt wird. Die Entmaterialisierung der Ökonomie veranlasste die Journalistin Solveig Godeluck zu der Bemerkung: „Abgehoben von der Realität und haltlos auf Vertrauen gründend, ist [die entmaterialisierte Ökonomie] Manipulationen oder einer plötzlichen Katerstimmung schutzlos ausgeliefert. Wir betreten die Ära des Informationskapitalismus, aber wir betreten sie auf eigene Gefahr.“1

Wahrscheinlich funktioniert das Ganze ähnlich wie bei den einschlägigen Psychotechniken. Ist ein gewisser Schwellenwert der Virtualisierung überschritten, verlässt der Adept die gesicherten Pfade und konstruiert sich eine Alternative abseits der Realität. Sein Lebensmodell gewinnt an Eigendynamik, schlägt ihn in Bann, bis ein Punkt erreicht ist, an dem die Entwirklichung zu offensichtlich wird. Dann kehrt er abrupt zu den Modellen zurück, die er zuvor verworfen hat. Die Stars und Start-ups der Netzwirtschaft sind allseits in Misskredit geraten und befinden sich in Schwierigkeiten. Wie jene Präsidenten junger Demokratien, die mit der Staatskasse durchbrennen, verlassen manche Wirtschaftsführer das sinkende Schiff oder verkaufen rechtzeitig, um mitzunehmen, was sie noch kriegen können.

Gewiss trieb in diesem äußerst volatilen Umfeld der eine oder andere Manipulator sein Unwesen. Doch die Börsenwerte hätten schwerlich derart in die Höhe schießen können, wären die Machenschaften nicht so begeistert akzeptiert worden – schließlich wuchs das entsprechende Börsenpublikum, das sich aus Risikokapitalgebern, Daytradern, Amateuren, Bankern, Surfern, Möchtegern-Unternehmern, Programmierern und sonstigen Zockern zusammensetzte, genauso rasant wie das Web selbst. Dass dabei ein innovationsförderndes Klima entstand, soll gar nicht in Abrede gestellt werden, vom unmerklichen Wandel der Mentalitäten und Berufspraktiken ganz zu schweigen.

Nichtsdestotrotz war der Crash voraussehbar, und er wurde vorhergesagt. Intel-Guru Andy Grove hatte die „IT-Götterdämmerung“ bereits seit drei Jahren erwartet, die im April 2000 schließlich hereinbrach: „Die High-Tech-Rezession hat nun wirklich begonnen, und es ist eine Rezession, und zwar keine unbedeutende. Sie zieht sämtliche Branchen in Mitleidenschaft, von der Halbleiterindustrie bis zur Glasfaserherstellung.“2 Doch während die abrupten Kurseinbrüche nur wohlhabende, oft leichtfertige Anleger treffen, sind die schlimmsten Folgen der Krise in Marktsegmenten zu verzeichnen, die sich noch im Anlaufstadium befinden, wie zum Beispiel WAP (Surfen per Mobilfunk) und Web-TV.

Der Boom war gesund

FOLGE der High-Tech-Rezession waren Massenentlassungen und eine allgemeine Depression im ganzen Sektor. Nortel, der kanadische Weltmarktführer im Bereich der optischen Netzwerktechnik, setzte 10 000 Beschäftigte auf die Straße, nachdem der Börsenwert der Firma in kürzester Zeit um 19 Milliarden Dollar gefallen war. Zahllose kleine und mittlere Unternehmen streichen die Internetpräsenz von der Prioritätenliste, bauen ihre Online-Belegschaft ab und entlassen den Webmaster. Enttäuschte Investoren machen ihrem Ärger Luft. Auch einige hoch qualifizierte und hoch bezahlte Führungskräfte, die nur schwer anderweitig unterkommen können, sind nun dabei, die „Neue Ökonomie“ herunterzumachen, die ihnen nichts mehr zu bieten hat. Die Mode hat gewechselt – Katerstimmung ist angesagt, Ernüchterung macht sich breit, das Web ist entzaubert. Die Unheilspropheten, die sich dem Netz verweigerten, nur seine negativen Aspekte sahen und sein Ende voraussagten, können frohlocken.

Entzauberung setzt Verzauberung voraus, und beiden Gefühlslagen ist gemeinsam, dass sie die Wirklichkeit verfehlen. So übertrieben die anfängliche Begeisterung, so überzogen ist nun die Ablehnung der Netzwirtschaft. Dabei zögert der plötzliche Meinungsumschwung nur das Unvermeidliche hinaus: die Vernetzung der Welt bis in den entlegensten Winkel. Andy Grove hat auch dies sehr richtig erkannt: „Der Boom war trotz aller Auswüchse gesund, gerade weil er unzählige Milliarden für den Aufbau der Internet-Infrastruktur mobilisierte. Allein in die Finanzierung der Telekommunikationsnetze sind Hunderte von Milliarden geflossen.“3

Nun ist zu hören, allein die elektronische Post werde den Untergang des Internets überleben. Das ist leicht dahingesagt. Solche Prognosen erscheinen genauso haltlos wie die Behauptung von Michael Wolff: „Ende des Jahres gibt es keine Internet-Industrie mehr.“4 Andy Grove dagegen hat daran erinnert, dass die Dotcom-Unternehmen kaum 10 Prozent der Netzwirtschaft ausmachen. Weshalb sollte man die realen Vorzüge des Internets mit all seinen Möglichkeiten der Verbindung nicht nutzen? Zumal als ein gewaltiges kollektives Gedächtnis, auch unter Absehung von kommerziellen Aspekten, leistet das Netz hervorragende Dienste. Der Zugriff auf dieses Gedächtnis ist individuell bestimmt – ähnlich wie der Zugriff auf unser menschliches Gedächtnis – und zugleich bietet das Internet die Möglichkeit, neue Formen der Zusammenarbeit und Gruppenbildung zu entwickeln. Und hier spielt nicht nur die Privatwirtschaft eine bestimmende Rolle. Der Bildungsbereich zum Beispiel kann aus dem Internet erhebliche Vorteile ziehen, wobei nicht nur an die Verbreitung von Wissensbeständen zu denken ist – mit Datenbanken, die sich automatisch rekonfigurieren und aktualisieren –, sondern auch an vernetztes Arbeiten und intensivere Formen der Gruppenarbeit.

Oder nehmen wir einen Bereich aus der Privatwirtschaft: Die Banken werden das Internet wohl kaum aufgeben, nur weil die Dotcoms Federn lassen müssen. Allerdings werden sie in Zukunft wohl eher zweimal überlegen, bevor sie in diesem Bereich investieren. Es scheint jedoch kaum vorstellbar, dass sie auf die ungeheure Erleichterung verzichten wollen, die das Internet für den Zahlungsverkehr bedeutet. Nicht anders verhält es sich im Bereich der Buchungssysteme, des automatisierten Datenaustauschs, der Lagerverwaltung, der Bestell- und Vertriebssysteme, der Kontoverwaltung und vieler anderer internetbasierter Dienstleistungen, die für die Wirtschaft – und bald auch für uns alle – nicht mehr wegzudenken sind.

Wirklich für alle? In Frankreich besitzen bereits rund 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung einen Internetanschluss – und nutzen das Netz. In Kanada liegt der Anteil bei 45 Prozent – eine Diskrepanz, die sich sicherlich daraus erklärt, dass in Kanada die Zugangstarife vernünftiger geregelt sind, sodass eine regelrechte „Telekommunikationskultur“ entstanden ist. In Afrika sind Netzzugänge noch selten, doch die Zahl der Internet-Aspiranten steigt, und sie erleben die gleiche Mischung aus Vorfreude und Geduld, die noch jeder Surfer beim Einwählen spürt. Die Rede von der „digitalen Spaltung“ aber reduziert das Problem auf ein bloßes Zahlenverhältnis: hier die kleine Minderheit der Netizens, dort die Mehrheit der virtuellen Parias.

Joël de Rosnay betrachtet die Frage unter einem anderen Blickwinkel und hält eher den Faktor Geschwindigkeit für entscheidend: „Manche Gesellschaften entwickeln sich mit derartiger Schnelligkeit, dass sie sämtliche Finanz-, Human-, Energie- und Informationsressourcen aufbrauchen, die der Entwicklung aufstrebender Gesellschaften zugute kommen könnten.“5 Am stärksten davon betroffen sind die hoch qualifizierten Arbeitskräfte der Entwicklungsländer, die in den Industriestaaten im Gegensatz zu „normalen“ Immigranten stets willkommen sind. Das Internet wirkt in dieser Hinsicht wie ein Teilchenbeschleuniger. In Kanada zum Beispiel wandern Jahr für Jahr 70 000 Hochschulabgänger, deren Studium der kanadische Steuerzahler finanzierte, in die Vereinigten Staaten ab. Kurzfristig droht dadurch eine ernsthafte Knappheit an intellektuellem Kapital. Eine Lösung für dieses Problem ist noch nicht in Sicht.

Die einzige Möglichkeit, dieser Tendenz entgegenzuwirken – und gleichzeitig die digitale Spaltung der Weltgesellschaft zu reduzieren –, ist der beschleunigte Ausbau der Netzinfrastruktur. Das Internet hat sich längst zu einem entscheidenden Gestaltungsfaktor der zwischenmenschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt. In unserer Kultur der unablässigen Bewegung sind die Netze letztlich stabiler als die Menschen.

Masayoshi Son, Chef eines japanischen Telekommunikationsunternehmens, dessen Börsenwert vor kurzem um 90 Prozent sank, will Einwände nicht gelten lassen: „Wir befinden uns in einer Jahrhundertrevolution. Die heutige Schmalbandtechnik vermittelt nur einen schwachen Eindruck von den grundstürzenden technologischen Möglichkeiten des Internets.“6

dt. Bodo Schulze

* Leiter des McLuhan Programms „Kultur und Technologie“ an der Universität Toronto (Kanada), Autor von „The Architecture of Intelligence“, Basel (Birkhauser) 2001.

Fußnoten: 1 Solveig Godeluck, „Le Boom de la net économie“, Paris (La Découverte) 2000. 2 Wired (San Francisco), 9. Juni 2001. 3 Ibd. 4 New York Magazine, 1. Januar 2001. 5 Joël de Rosnay, „Avon-nous encore le temps?“, „Génération Vitesse“, Sondernummer des Nouvel Observateur, März/April 2001. 6 Newsweek (New York), 9. Juli 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von DERRICK DE KERCKHOVE