Durch die Wüste – Reise ans Ende der Angst
Von ALI BENSAAD *
AM 6. Februar 2001 rollt ein Lastwagen aus dem nordnigerischen Dirkou Richtung Libyen. Bei dem Versuch, den libyschen Grenzposten Tidscheri zu umfahren, verirrt er sich in der Wüste. Drei Passagieren gelingt es, Alarm zu schlagen. Ein Suchtrupp der libyschen Armee findet 40 Überlebende, die nigerische Gendarmerie spricht von 23 Toten, ein Fahrer gibt an, 27 Leichen seien geborgen und beerdigt worden. Wie viele Personen der Transport ursprünglich zählte, lässt sich nicht mehr feststellen; im Allgemeinen sind es mindestens hundert.
Die makabre Chronik dieser Reisen ohne Rückkehr muss wohl unvollständig bleiben. Bis die Medien im Mai dieses Jahres von 140 auf einem Lastwagen gefundenen Leichen berichteten,1 sprach niemand von dem anonymen Tod der illegalen Flüchtlinge aus der Sahelzone. Nicht im Transitland Niger – einem der ärmsten Länder der Welt –, wo das Geschäft mit den Flüchtlingen als legal gilt und sich zu einem lebenswichtigen Wirtschaftszweig entwickelt hat. Nicht im wohlhabenden Nachbarland Libyen, das die durchaus erwünschten Einwanderer im Status tolerierter Illegalität belässt. Oberst Muammar al-Gaddafi braucht die Migranten für sein ehrgeiziges Projekt, die „Wüste zu begrünen“; sie sollen in den südlichen Saharaprovinzen bleiben und die unwirtliche Gegend urbar machen. Unbeachtet bleibt der Flüchtlingstod auch in Algerien, das nicht wenigen Migranten trotz der harten Repression als Transitland dient, um über Marokko und die Meerenge von Gibraltar nach Europa zu gelangen. In Europa nimmt man nur Notiz, wenn wieder einmal ein Flüchtlingsfloß kurz vor dem Ziel im Meer versinkt.
Für viele Migranten beginnt die Reise in Agadez, am Rande der Ténéré-Wüste im Herzen von Niger. Hier fließen die Migrationsströme aus fast allen westafrikanischen Ländern zusammen, auch aus den englischsprachigen Nigeria und Ghana.2 Im örtlichen Krankenhaus klagt man: „Immer mehr Migranten kommen aus dem Süden und machen sich keine Vorstellung von der Wüste und ihren Gefahren.“
Ausgangspunkt der Reise ins Ungewisse ist der städtische Busbahnhof. In aller Öffentlichkeit und unter dem wachsamen Auge der Polizei fahren hier Tag für Tag Lastwagen ab, die über einhundert Personen geladen haben. Die zuständigen „Reisebüros“ florieren, sie besitzen eine amtliche Genehmigung für den Transport von Migranten in die nordafrikanischen Maghrebländer, selbst für das wenig sichere Algerien. Bei Fahrten nach Algerien kommen keine Lastwagen zum Einsatz, sondern geländegängige Toyota Pick-ups, mit denen man die Grenzkontrollen umfahren kann. Zwischen 25 und 30 Personen drängen sich dann in einem unglaublichen Balanceakt auf den kleinen Ladeflächen.
Für das arme Niger bildet das Transitgeschäft mit den Migranten eine erhebliche Einnahmequelle, die gerade im zurückgebliebenen nördlichen Landesteil, wo grassierendes Elend die Tuareg wiederholt zur Rebellion trieb, für wirtschaftliche Dynamik sorgt. Seit die Gegend vor zwei Jahren zur Ruhe kam,3 haben fünf Reiseagenturen eröffnet, die „Fahrten“ nach Libyen anbieten. Das Geschäft brummt, und die vielen neuen illegalen Transportunternehmen erwirtschaften ansehnliche Gewinne. Auch Kaufleute transportieren neben ihrer Handelsware neuerdings Migranten, um auf ihre Kosten zu kommen. Der Fahrer unseres Lastwagens, ein schwarzer Tuareg namens Adam, schaffte 15 Jahre lang Hirse nach Bilma und Dirkou und nahm auf dem Rückweg Salz mit. Seit Anfang der Neunzigerjahre verlegte sich sein Chef, ein nigerischer Araber, auf den Handel mit Libyen und den Transport von Migranten. „In den vergangenen Jahren habe ich mehr Menschen transportiert, als Salzkörner auf meinen Lastwagen passen.“
Mit den Wanderungsströmen etablierte sich in Agadez ein spezielles „Reisegewerbe“. Ganze Stadtteile widmen sich fast ausschließlich dem lukrativen Geschäft mit den Migranten – das Quartier um den Busbahnhof ebenso wie das Viertel entlang der Arlitstraße und der Markt im Stadtzentrum. Während die Reiseagenturen, Transportunternehmen und Lebensmittelgeschäfte fest in der Hand der Einheimischen sind, werden andere Dienstleistungen von ehemaligen Migranten erbracht, die nach Agadez zurückkehrten und ihre Migrantenerfahrung nun geschäftlich nutzen. Sie betreiben Esslokale und Schlafsäle, verkaufen diverse Reiseutensilien (Wasserkanister, Taschenlampen und Decken) oder betätigen sich als Friseur.
Die nigerischen Behörden nehmen an diesen informellen Wirtschaftsaktivitäten keinen Anstoß. Anfragen beim Präfekten, beim Polizeipräsidenten und beim Leiter der Gendarmerie ergaben immer wieder dieselbe Auskunft: „Das ist alles völlig legal. Es handelt sich hier um afrikanische Einheimische, die natürlich das Recht haben, Niger als Transitland zu nutzen. Für alles Weitere sind sie selbst verantwortlich.“ Es gibt also überhaupt keine illegale Emigration!
Im Süden Libyens angekommen, können die Migranten allenfalls hoffen, einen „Gesundheitsausweis“ zu ergattern, ohne den sie keine Arbeit finden würden. Bei den zuständigen Behörden wird dafür ein Bakschisch fällig, und der Landsmann, der den Kontakt vermittelt, lebt ebenfalls davon. Manche Immigranten lassen sich eine Carte consulaire ausstellen, deren einziger Nutzen darin besteht, ein Personaldokument in arabischer Sprache in Händen zu halten. Der 29-jährige Hamidou aus Niger reiste vor vier Jahren mit einem Visum nach Libyen ein und gehört damit schon zu den Privilegierten, obwohl er wie tausende seiner Landsleute keine Aufenthaltsgenehmigung besitzt. Ohne die Protektion seines Chefs könnte er jederzeit ausgewiesen werden. Diese Politik der tolerierten Illegalität verfolgt den Zweck, die Einwanderungsströme im Bedarfsfall wieder umkehren zu können. Öffnung und Schließung der Grenzen, Einwanderungsappelle und Repression stehen in Libyen in ständigem Wechsel. Je nachdem dienen die allgegenwärtigen Polizeikontrollen dazu, die Migranten entweder im Süden festzuhalten oder aber – wie derzeit – massiv außer Landes zu schaffen.
Im Hotel Sahara in Agadez thront Kofi hinter seinem Schreibtisch. Er hat drei Jahre in Libyen gearbeitet. „Die schlimmsten Jahre meines Lebens. Rassismus ist dort an der Tagesordnung. Ein Schwarzer hat keinen Namen; er wird immer als Sklave angesprochen, sogar von den Kindern.“ Kofi hat Razzien und Auffanglager erlebt, griff aber auch zur Bestechung, um sich polizeilichen Repressalien zu entziehen. Nach drei Jahren, in denen er teils als Landarbeiter, teils als Kleiderhändler arbeitete, hatte er genügend Geld zur Seite gelegt, um den Sprung nach Europa zu wagen. Für die meisten Migranten aus Niger bleibt Europa ein unerreichbares Fernziel. Kofi durchquerte auf illegalen Wegen Tunesien und schiffte sich für ein Kopfgeld von 1 500 Dollar (1 700 Euro) mit 70 anderen Personen nach Italien ein. Nach wenigen Monaten in Brüssel aufgegriffen, wurde er nach Lagos ausgewiesen. „Jeder fünfte Nigerianer versucht sein Glück in Europa, vor allem die Leute aus dem Süden, die ihre Verbindungen haben und nichts mehr zu verlieren.“ Trotz Ausweisungspolitik und massiver Repression auf libyscher Seite schwellen die Migrationsströme an und nehmen ihren Ausgang immer weiter im Süden. „Erfolg ist in Afrika unmöglich“, meint Kofi. „Alles ist verrottet und wird irgendwann zusammenbrechen.“
Die Polizei bittet kräftig zur Kasse
MITTE März dieses Jahres ging ein Beben durch Agadez, das das übliche Treiben zusätzlich anheizte. Alle Welt verfolgte aufmerksam das afrikanische Gipfeltreffen in Syrte, vor allem die Rede von Oberst Gaddafi. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Die afrikanische Einheit wurde ausgerufen.4 Flugs machten die optimistischsten Gerüchte die Runde, dem die „Anwerber“, die die Neuankömmlinge gegen Gebühr an die Reiseagenturen vermitteln, zusätzliche Nahrung verliehen: „Gaddafi ruft die ausgewiesenen Afrikaner zur Rückkehr auf.“ Und in der Tat strömten ein bis zwei Wochen nach dem Treffen von Syrte mehr Menschen denn je gen Libyen, darunter auch Migranten, die zuvor ausgewiesen worden oder vor den Repressionsmaßnahmen geflüchtet waren. Das Geschäft läuft also wieder. Ibrahim, Inhaber einer Reiseagentur, weiß nicht mehr, wo er noch Lastwagen hernehmen soll; die Zigarettenschmuggler – die angeblich Verbindungen zur Umgebung Gaddafis besitzen – bezahlen manchmal das Doppelte der üblichen Mietpreise, bis zu 15 000 Francs oder 2 300 Euro. Schließlich findet Ibrahim einen Platz für mich auf einem „illegalen Lastwagen“, der keiner der eingetragenen Agenturen gehört, sondern von einem Tubu-Händler gemietet wurde. (Die Angehörigen dieser Ethnie, die zum Teil die libysche Staatsangehörigkeit erworben haben, können sich in Libyen freier bewegen.) Damit sich die Fahrt auch lohnt, wird neben den Migranten auch Handelsware mitgenommen. Wir sind also „nur“ achtzig auf der Ladefläche. Der Händler hat es eilig und will nicht das Risiko eingehen, den Lastwagen zu überladen.
Das Einsteigen geht nie ohne heftige Wortgefechte ab und dauert Stunden. Jeder hat Angst, keinen oder einen schlechten Platz zu bekommen auf diesen „Kathedralen-Lastwagen“, auf denen sich Menschen über Waren türmen. Die Polizei ist ebenfalls zur Stelle, weniger jedoch um nach dem Rechten zu sehen – immerhin handelt es sich um eine „Schwarzfahrt“ –, als um Wegegeld zu erpressen. Während die Agentur von jedem Migranten eine Gebühr erhebt, errichten die Ordnungskräfte entlang der Reiseroute zahlreiche „Kontrollposten“ und bitten die Ausländer unter den Fahrgästen kräftig zur Kasse. Das Lösegeld schwankt zwischen 10 000 und 20 000 CFA-Francs (15 bis 30 Euro). Allein bis zur Stadtgrenze von Agadez passieren wir vier Checkpoints, offenbar mehr als sonst. Jedenfalls wird es unserem Fahrer irgendwann zu viel, er schert aus und setzt die Reise auf ungewöhnlichen Wegen fort. Es dauert nicht lange, bis die Polizisten uns einholen. Wütend ob der Unbotmäßigkeit unseres Transports, befehlen sie allen Nigerianern abzusteigen, durchwühlen ihr Gepäck und schreien ein ums andere Mal: „Drogen! Drogen!“ Einer der Polizisten geht durch die wartende Menge, ein Bündel Geldscheine in der Hand, wie um zu sagen: Wer nicht zahlt, bleibt hier. Nach und nach kramen die Migranten das geforderte Wegegeld aus der Tasche und steigen wieder ein. Als ich mich für einen jungen Nigerianer einsetze, der lediglich 500 CFA-Francs (0,76 Euro) zu bieten hat, klärt mich ein Polizist auf: „Wir tun das nur aus Menschlichkeit. Wir wissen zwar, dass sie alle falsche Papiere haben, aber wir wollen sie nicht aufhalten. Sie zahlen, und wir lassen sie durch.“
Ganz anders das Verhalten der Bevölkerung. Auf unserem Weg aus der Stadt hinaus begrüßen uns immer wieder Passanten, die an diesem Spätnachmittag – der üblichen Abfahrtszeit solcher Transporte – zahlreich auf der Straße sind. Die städtische Bevölkerung begegnet den Migranten mit großer Sympathie. Dank der neuerlichen Migration konnte Agadez an seine Vergangenheit als Umschlagplatz im Transsaharahandel anknüpfen. Im 16. Jahrhundert lag Agadez, damals eine wohlhabende Stadt mit 50 000 Einwohnern, im Schnittpunkt der großen Karawanenwege, die den Mittelmeerraum mit dem Königreich Hausa, Mali mit Ägypten verbanden. Ironie der Geschichte: Neben Gold waren Sklaven die wichtigste Handelsware. Anteilsmäßig wurden damals genauso viele Sklaven nach Libyen und Algerien verbracht, wie heute Migranten in diese Länder unterwegs sind.5 Diese Vergangenheit als Handelsplatz, an dem die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen nebeneinander lebten, erklärt wohl die außergewöhnliche Sympathie, die den Migranten heute entgegengebracht wird. Von Intolerenz kaum eine Spur. Dabei sind viele Migranten gezwungen, länger als geplant in Agadez zu bleiben, um sich mit kleinen Jobs ein wenig Geld für die Reise zu verdienen. Nicht wenige Frauen arbeiten vorübergehend als Prostituierte. In den zahlreichen Bordellen der Stadt finden sich ebenso viele Ausländerinnen wie Einheimische.
Während unser Lastwagen unter den Abschiedsrufen der Passanten aus Agadez hinausschaukelt, versuchen wir auf der Warenladung nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Zahllose Plastikkanister mit dem Wasservorrat der Migranten hängen an der Karrosserie, denn die Fahrt nach Dirkou wird voraussichtlich länger dauern als die üblichen vier Tage. Sorgen scheint sich deswegen niemand zu machen: Die „Chance“ ist da, und mit ein wenig Glück werden wir es schaffen. Und wenn wir in Dirkou sind, sehen wir weiter.
Verwunderlich ist diese Zuversicht, weil es für viele nicht der erste Versuch ist. Da ist Seydou, der dem Tod wie durch ein Wunder entkam. Als er 1996 mit 16 anderen Migranten aus Libyen zurückkehrte, blieb sein Laster 300 Kilometer vor Agadez liegen. Seydou und ein anderer Targi beschlossen, sich zu Fuß durchzuschlagen; sie wussten aus zahllosen Geschichten, wie verheerend Warten sein kann. Zwei Tage lang marschierten sie durch die Wüste, legten 90 Kilometer zurück und wurden unweit des Brunnens „Arbre du Ténéré“, einer der wenigen Wasserstellen in dieser endlosen Wüste, von einer Militärpatrouille gefunden. „Es war gut, dem Tod ins Auge zu sehen. Das hat mich gelehrt, dass Libyen mich zu einem lebenden Toten gemacht hatte. Ich war ein Nichts in Libyen, ein Sklave, wie sie sagen.“ Seydou will von diesem Land nichts mehr wissen. Seine Reise wird in Dirkou enden, wo er ein kleines Geschäft mit Ersatzteilen betreibt.
Khodjo aus Ghana und Rabie aus Nigeria wollen es noch einmal in Libyen versuchen, obwohl auch sie nur knapp dem Tod entgingen. Diesmal wollen sie aber nicht in der Wüste bleiben, sondern versuchen, bis nach Ezzaouia nahe Tripolis zu gelangen, wo eine größere afrikanische Gemeinschaft lebt. Die in Libyen alltäglichen Pöbeleien gegen Schwarzafrikaner kennen sie aus eigener Erfahrung. „Der Rassismus beschränkt sich nicht auf Schikanen von Polizei und Chefs.“ In einem Aufwallen von Fremdenfeindlichkeit wurden in Libyen im September und Oktober vorigen Jahres 100 bis 500 Afrikaner massakriert.6
Internierungslager im Süden Libyens
RABIE schlief mit vierzig seiner Landsleute in einer Art Unterkunft, die er selbst als Ghetto bezeichnet, als um drei Uhr morgens etwa zwanzig Libyer, ausgerüstet mit Eisenstangen und Steinen, die Türen aufbrachen. Rabie wurde am Kopf getroffen, die Narbe ist noch gut sichtbar unter seinem kurzen Haarschnitt. Bei seiner Flucht musste er seine gesamte Habe und seine Ersparnisse (500 000 CFA oder 7 200 Euro) zurücklassen, und . . . das Bild eines alten Mitbewohners, der in seinem Blut lag. Die Botschaft Nigers, wohin er sich mit 150 Landsleuten flüchtete, wurde angegriffen und am nächsten Tag niedergebrannt. Es brauchte noch einen langen Tag mit etlichen Toten, bevor die Polizei einschritt und die Verfolgten in ein Militärcamp brachte. Rabie blieb dort vierzig Tage.
Khodjo arbeitete zusammen mit einem Landsmann an der Straße zum Flughafen auf einer Baustelle für ein Wohnhaus. Der Besitzer selbst evakuierte sie in seinem Kleinlaster und fuhr sie, versteckt zwischen der Ladung, in ein Militärlager. Schließlich erreichten sie ein Lager, in dem 6 000 Ghanaer und 8 000 Nigerer untergebracht waren. Der ghanaische Präsident Jerry Rawlings stattete dem Camp einen flüchtigen Besuch ab und führte etwa 100 seiner Landsleute direkt in die Heimat zurück. Khodjo wartete noch drei Wochen, bis er in einem zweiten Flugzeug zusammen mit 450 seiner Landsleute zurückkehren konnte.
Nach übereinstimmenden Berichten trugen die gewalttätigen Ausschreitungen alle Züge eines Pogroms. Lynchmorde und Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Doch auch die Erzählungen über den normalen Alltag sind durchweg wenig erbaulich. Vor allem die afrikanischen Frauen als Verkörperung zweifacher Andersartigkeit sind im streng gesitteten Libyen Zielscheibe von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit. „Für die ist jede afrikanische Frau eine Prostituierte.“ Und Trägerin von Aids. Die alltäglichen Belästigungen nehmen Formen an, die von einer regelrechten Prostituiertenhatz sprechen lassen. Linda hielt die dauernden Beleidigungen nicht mehr aus. Sie zog sich nach Dirkou zurück und arbeitet nun bei einer Afrikanerin, die ein kleines Lokal betreibt.
Ein Lastwagen kommt uns entgegen, Migranten, die aus Libyen nach Agadez zurückkehren. Eine Abiturientin aus Kamerun ruft uns zu: „Das Land ist verrückt, ich bin fast wahnsinnig geworden, ich bin geflohen.“ Die Frauen – die 15 bis 20 Prozent der Migranten ausmachen – sind noch „illegaler“ als die Männer. Ledige fälschen ihre Papiere und geben sich als verheiratet aus, um der Beschimpfung als Prostituierte vorzubauen.
Nach Augenzeugenberichten soll es in Südlibyen mehrere Internierungslager geben. Einer unserer Gewährsleute erzählte von einem Lageraufenthalt 1996, lange vor den Massakern im September vorigen Jahres. Vier junge Nigerianer, die am 27. März in Dirkou ankamen, behaupteten, sie seien aus einem Militärlager namens Kara geflohen, rund 80 Kilometer südlich von Gatrone gelegen. Vier Monate hätten sie dort mit tausenden anderen Afrikaner verbracht. Die Stimmigkeit der uns vorliegenden Augenzeugenberichte, in denen immer wieder dieselben Lager- und Offiziersnamen auftauchen, lässt die Existenz solcher Anstalten als glaubwürdig erscheinen. Von Misshandlungen ist da die Rede, von mittelalterlichen Haftbedingungen, von Todesfällen aufgrund schlechter Lebensbedingungen, von Hinrichtungen wegen versuchten Ausbruchs und Rebellion.
Gerade Libyen, das sich als afrikanische Führungsmacht zu profilieren sucht, steht bei den afrikanischen Migranten im Ruf eines rassistischen Sklavenhalterstaats. Doch trotz des dort erlebten Schreckens starten viele Migranten wie Rabie und Khodjo einen zweiten Versuch. „Wer das einmal durchgemacht hat, hat keine Angst mehr.“ Was bleibt ihnen auch übrig, wo alle anderen Auswege versperrt sind. Boubakar bestätigt diese Aussichtslosigkeit in zweifacher Weise. Erstens hat Boubakar das Abitur in der Tasche. Immer mehr Migraten – ein Fünftel der von uns Befragten – besitzen ein hohes Bildungsniveau. Und zweitens hatte Boubakar nie die Absicht, nach Libyen auszuwandern. Erst am Stadtrand von Paris drängte sich ihm dieses Migrationsziel als einziger noch verbleibender Ausweg auf. Als er am Flughafen Charles de Gaulle abgewiesen wurde, zögerte er keinen Augenblick und beschloss, sein Glück auf anderen Wegen zu suchen. Nach einem Monat hatte er genügend Geld gespart – weniger als beim ersten Versuch –, um die Reise zu wagen.
Und nun sitzt Boubakar mit Dutzenden anderer Migranten auf diesem Lastwagen Richtung Fezzan, dem libyschen Südwesten. Dass er in Frankreich abgewiesen wurde, hat er noch immer nicht ganz verdaut. Es war am 20. Februar. Seine Papiere waren in Ordnung, sein Visum einwandfrei. Außer europäischen Reisenden und afrikanischen Händlern, die nach Dubai weiterflogen, befanden sich an Bord des Air-Algérie-Flugs aus Niamey zwölf Malier und drei Nigerianer. Mit Ausnahme eines Nigerianers, der vom Konsul seines Landes abgeholt wurde, durfte niemand einreisen. Bei Boubakar lautete die Begründung, er habe keine Hotelreservierung. Nur in Libyen kann er hoffen, genügend Geld für einen zweiten Versuch zu sparen, denn sein eigentliches Ziel heißt nach wie vor Europa. Diesmal will er aber auf illegalen Wegen einreisen, per Schiff. Auch Abdullah aus Senegal will eigentlich nach Europa. Bei seinem ersten Versuch wurde er auf halbem Wege in Algerien aufgegriffen und zurückgebracht. Bis nach Ghardaja nördlich der Sahara hatte er es bereits geschafft. Doch auf dem Weg ins marokkanische Rif wurde er von einer Polizeirazzia überrascht und von Gefängnis zu Gefängnis bis ins südalgerische Tamanrasset gebracht, von wo aus die Abschiebung nach Niger erfolgte. Glaubt man der algerischen Presse, so entwickelt sich der Fluchtweg, der Abdullah zum Verhängnis wurde, zunehmend zur bevorzugten Migrationsroute pakistanischer Flüchtlinge. Nachdem der bisherige Weg über Osteuropa aufgrund verstärkter Grenzkontrollen kaum mehr gangbar ist, laufe die illegale Einwanderung nach Europa nun über Agadez.7
Fünf Tage waren wir nach Dirkou unterwegs, fünf Tage glühender Hitze, fünf Nächte schneidender Kälte, in denen wir eng zusammenrückten, um nicht zu sehr zu frieren. Dirkou mit seinem rechtwinkligen Straßennetz und den zahllosen kleinen Läden wuchs in den letzten fünf Jahren im Rhythmus der anschwellenden Migrationsströme, gleich den Bergbaustädten in der Wüste. Junge Männer beherrschen das Straßenbild. Von der Euphorie, die die Vermittler der „Reiseagenturen“ in Agadez versprühen, ist nicht mehr viel zu spüren. In Dirkou stockt die Wanderung. Neben Neuankömmlingen drängen sich Migranten, die an der Grenze aufgegriffen und zurückgeschickt oder des Landes verwiesen wurden. In Dirkou übernehmen im Allgemeinen Libyer den weiteren Transport. Doch seit einiger Zeit machen sie sich rar und verlangen den doppelten Preis. Mindestens 160 Personen müssen sich nun einen Lastwagen teilen, und die Umwege werden immer länger, um den Grenzkontrollen zu entgehen.
Am begehrtesten sind die Toyotas ehemaliger Militärs aus Tschad, die auf der Seite der Islamisten kämpften und seither die libysche Staatsangehörigkeit angenommen haben. Sie kennen das Terrain genau und unterhalten gute Beziehungen zum libyschen Militär. Doch selbst sie kommen nicht mehr, die Grenze ist dicht. Sogar die Zigarettenschmuggler, die ansonsten freie Fahrt haben, sitzen in Dirkou fest. Das Gerücht geht um, aus einem libyschen Militärlager seien Waffen gestohlen worden. Nach Auskunft der Gendarmerie sollen die Diebe Richtung Tschad geflüchtet sein. Demnach ginge der Überfall auf das Konto der bewaffneten Opposition, und dies zu einem Zeitpunkt, da im Tschad Wahlen stattfinden. In der libyschen Armee herrscht höchste Alarmbereitschaft, aber für die Migranten scheint der Zwischenfall auf einem anderen Planeten zu spielen: „Und wenn der Dritte Weltkrieg ausbricht, wir müssen hier irgendwie durch.“
dt. Bodo Schulze
* Dozent am Geographischen Institut der Universität Aix-Marseille I, Forscher am Institut de Recherche et d’Étude du Monde Arabe et Musulman (Iremam)