Reiche Fischgründe im Nebelarchipel
Von GUY-PIERRE CHOMETTE *
MORGENDÄMMERUNG im Hafen von Nemuro am nördlichsten Zipfel Japans. Russen, soeben per Bus eingetroffen, rüsten sich zur Abreise. Die „Coral White“ hat bereits am Kai festgemacht. Es kommt zu langen Abschiedsszenen. Rund hundert Japaner haben die siebzig Russen von den südlichen Kurilen herbegleitet, die „ihren japanischen Freunden“ einen Nachbarschaftsbesuch abgestattet haben. Dutzende von Paketen werden auf das Schiff verladen, Waren, die auf den Inseln nicht zu finden sind: Teppiche, Unmengen von Regenschirmen, Plastikeimer . . . Die Russen sind an Bord gegangen und schütteln noch ein letztes Mal die Hände ihrer japanischen Freunde, allerletzte Fotos werden geschossen: „Schaut euch die Japaner an, sie sind jetzt unsere Freunde!“ Dann legt die „Coral White“ unter dem lauten Tuten der Sirene ab, und das Winken will nicht enden.
Das Schiff nimmt Kurs auf die etwa vierzig Kilometer entfernt liegende Insel Kunashiri, die südlichste der Kurilen oder – wie die Inselkette in der Region genannt wird – des Nebelarchipels. Die Kurilen, das sind rund dreißig Inseln, die sich über 700 Kilometer von der nordöstlichen Spitze der japanischen Insel Hokkaido bis zur Südspitze der russischen Halbinsel Kamtschatka erstrecken, dreißig unzugängliche, scharfen Winden ausgesetzte, so gut wie unbewohnte Inseln. Man könnte sie vergessen, so verschluckt von Nebel wie sie sind, wären sie nicht das Objekt unaufhörlicher Streitigkeiten zwischen Russland und Japan.1
Seit 1945 gehören sämtliche Inseln des Archipels zu Russland. Aber Tokio wird nicht müde, die vier südlichsten zurückzuverlangen: Kunashiri (1 500 Quadratkilometer groß), Etorofu (3 184), Shikotan (253) und Habomai (100), insgesamt 5 037 Quadratkilometer oder 1,3 Prozent des japanischen bzw. 0,03 Prozent des gegenwärtigen russischen Territoriums.
Auf Hokkaido ist Cap Nosappu, das äußerste Ende der Halbinsel Nemuro, zu einem Pilgerort der besonderen Art geworden: Von hier aus kann man die ersten, knapp sieben Kilometer entfernt liegenden Kurileninseln sehen. Eine nie erlöschende Flamme, die allen Winden tapfer standhält, symbolisiert den nicht erlahmenden Kampf der Japaner um die Rückgabe der in der Ferne verschwimmenden Inseln. In der Stadt Nemuro mit ihren 35 000 Einwohnern sind überall Transparente zu sehen, die in Englisch, Japanisch und Russisch fordern: „Die Inseln gehören zu Japan. Gebt sie uns zurück!“
„Die Inseln? Sollen die Russen sie behalten! Ich rechne nicht mehr damit, dass sie sie uns zurückgeben.“ Die Meinung der sechsundsiebzigjährigen Tomiko Hamaya ist verblüffend, schließlich stammt sie von den Kurilen. „Sie werden hier von allen unisono zu hören bekommen, dass die Japaner die Inseln zurückwollen und dass wir unsere Forderungen niemals aufgeben. Es ist einfach ausgeschlossen, darüber anders zu denken. Und ich würde meine Meinung auch nicht gerade an die große Glocke hängen. Aber wenn wir die Inseln wiederbekämen, dann würde da keiner hinwollen, das Leben ist viel zu schwer dort. Alles müsste neu gemacht werden, Strom, Wasser, Straßen, die Fabriken. Das würde viel zu teuer werden. Das einzig wirkliche Problem ist die Aufteilung der Fischfanggebiete.“
Tatsächlich liegt hier einer der Gründe, weshalb die Russen sich weigern, den Japanern ihre so genannten nördlichen Territorien zurückzugeben: Die südlichen Kurilen liegen in einem der reichsten Fischgründe der Welt. Mit der Besetzung des Archipels nahm die Sowjetunion den japanischen Fischern zugleich ihre traditionellen und besonders ergiebigen Fangzonen weg. Japanische Kutter, die in verbotenen Gewässern fahren, werden regelmäßig von russischen Patrouillenbooten gestoppt. Zur Zeit des Kalten Krieges drohten ihnen mehrjährige Lagerstrafen in Sibirien, heute verhängen die russischen Behörden drakonische Geldstrafen.2
Kamata Hideko besitzt einen kleinen Fischereibetrieb. Ihm reichen die japanischen Gewässer völlig aus: „Für uns kleine Fischer wäre es eine Katastrophe, wenn die Inseln wieder zu Japan gehören würden. Dann kämen sofort die großen japanischen Fischereigesellschaften und würden die zurückgegebenen Gewässer ausplündern und bald auch die Gebiete leer fischen, in denen wir heute schon wenig genug fangen. Mir ist es lieber, die Russen behalten die Inseln, auch wenn wir den Fisch, den sie dort fangen, bei ihnen kaufen müssen.“
Die Ansichten von Tomiko Hamaya und Kamata Hideko sind in der japanischen Bevölkerung jedoch die Ausnahme. Für Japan ist die Frage seiner „nördlichen Territorien“ ein nationales Anliegen von oberster Priorität. Seit 1945 wird der Status quo unermüdlich als Rechtsverletzung angeprangert. Japan beruft sich dabei auf den Vertrag von Shimoda, der die japanische Souveränität über die südlichen Kurilen festschreibe. Außerdem könne die sowjetische Besetzung nicht für sich in Anspruch nehmen, dass sie als Folge der Kriegsereignisse gerechtfertigt sei, da sie ja erst nach der japanischen Kapitulation erfolgte. Die Russen wiederum schützen die Jaltakonferenz vom Februar 1945 vor: Damals konnte Josef Stalin dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt das Versprechen abringen, dass die Sowjetunion im Gegenzug für den Kriegseintritt gegen Japan drei Monate nach der deutschen Kapitulation die Kurilen erhalten würde.
Im November 1997 hatten Boris Jelzin und der damalige japanische Premierminister Ryutaro Hashimoto im sibirischen Krasnojarsk versichert, „alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um noch vor dem Jahr 2000 einen Friedensvertrag zu unterzeichnen“. Der Konflikt um die Kurilen sorgt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dafür, dass jeder Versuch in diese Richtung im Ansatz erstickt. Für Japan kommt die Unterzeichnung eines Friedensabkommens erst in Betracht, wenn die Frage der „nördlichen Territorien“ vorab geregelt, sprich: die Inseln wieder in japanischen Händen sind. Vier Jahre nach der Deklaration von Krasnojarsk ist die Lage unverändert und die Enttäuschung so groß wie die seinerzeit geweckten Hoffnungen.
Dieser Enttäuschung gingen andere Enttäuschungen voraus: Unmittelbar nach der Auflösung der UdSSR 1991 schienen zunächst Michail Gorbatschow und später auch Boris Jelzin gewillt, den plötzlich obsolet erscheinenden geopolitischen Streit beizulegen. Aber dann genügten zwei, drei Jahre des Zögerns, und die Situation war erneut festgefahren: Der im postsowjetischen Russland aufkommende Nationalismus hatte die Absicht einiger Politiker, die Vergangenheit abzustreifen, bald erlahmen lassen. Welcher russische Präsident könnte es sich heute noch erlauben, einen derart unpopulären Schritt zu wagen, hat die russische Bevölkerung doch jahrzehntelang zu hören bekommen, dass die Besetzung der Kurilen eine Heldentat der Roten Armee gewesen sei?
Seit sich die innenpolitische Situation in Russland verschlechtert, überlässt Moskau die Inseln mehr und mehr ihrem Schicksal. Kein Wunder also, dass die 17 000 Russen, die dort unter äußerst widrigen Bedingungen leben, sich im Stich gelassen fühlen. Bereits 1994 und 1996 ergingen deshalb erste Warnungen an die Adresse Moskaus: Um die Regierenden für die Belange der südlichen Kurilen zu interessieren, organisierte die lokale Verwaltung ein Referendum, bei dem sich 70 Prozent der Bevölkerung für eine Wiederangliederung an Japan aussprachen. Eine weitere Warnung kam 1998 von den Inselbewohnern selbst: Sie sammelten Unterschriften für eine Petition, die dafür eintrat, die Inseln gegen einen symbolischen Minimalbetrag auf 99 Jahre an Japan zu verpachten.3
Die auf den Kurilen lebenden Russen waren einst als Pioniere gefeiert worden, die auf den unwirtlichen, aber strategisch bedeutsamen Inseln ausharrten (die Inselkette riegelt gewissermaßen das Ochotskische Meer ab und bildet so einen idealen Schutzwall für das sibirische Festland). Dieselben Menschen blicken nun nach Japan, das vor ihrer Haustür liegt und von dem sie sich baldigen Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung versprechen. Und die Japaner setzen alles daran, diesen Blick auf sich zu lenken. Konsequent baut Japan immer weiter gehende kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen zu seinen nördlichen Nachbarn auf, in der Hoffnung, die vier Inseln mehr und mehr in seine Einflusssphäre zu ziehen.
Satotaka Ishima, der Leiter des Amtes für Meeressicherheit in Nemuro, erzählt, wie die an der Meerenge lebenden Russen und Japaner sich kennen lernten: „Im Jahr 1964 wurde die Grenze zum ersten Mal ein wenig durchlässig. Damals genehmigten die Russen den früheren japanischen Bewohnern der Kurilen, ein- oder zweimal im Jahr für einen Tag auf die japanische Seite zurückzukehren, um die Gräber ihrer Angehörigen zu pflegen.“ Allmählich entwickelte sich daraus eine Gewohnheit, und als die beiden Länder 1991 beschlossen, den Eisernen Vorhang noch ein Stückchen weiter zu öffnen, kam es rasch zu intensiveren Kontakten. „Die Russen der nördlichen Territorien durften ein paar Tage ohne Visum in japanischen Gastfamilien hier in Nemuro zubringen, und umgekehrt auch die Japaner bei ihnen. So sind Freundschaften entstanden. Die ,Coral White‘ wurde damals zu einem echten Bindeglied zwischen uns.“ Diese kleine Fähre, ein ehemaliges Schulschiff, ist für die Bevölkerung vor Ort zur Legende geworden. Sie fährt nur vier-, fünfmal im Jahr hin und her, von Mai bis Oktober, wenn die See eisfrei ist. Die Passagiere werden sorgfältig ausgewählt: Auf japanischer Seite sind es ehemalige Inselbewohner, aber auch Aktivisten der Organisationen, die für eine Rückgabe kämpfen. Von russischer Seite dürfen ausschließlich Bewohner der südlichen Kurilen reisen. Etwa 3 000 Russen und ebenso viele Japaner sind seit 1992 in den Genuss dieses touristischen und kulturellen Austauschs gelangt. Und jedes Mal kommt es, hier wie dort, zum selben stilvollen Empfang, der schon ein wenig theatralisch ist, und zum selben Abschiedsritual auf dem Kai im Hafen von Nemuro.4
Die Japaner scheuen keine Mittel, um die Russen auf der gegenüberliegenden Seite anzulocken. Jüngster Beleg hierfür ist ein Zentrum für Kulturaustausch in Nemuro, das den nördlichen Territorien gewidmet ist. Es beherbergt eine Fachbibliothek, ein Dokumentationszentrum und ein Museum zur ökologischen Situation auf den Kurilen sowie einen Ausstellungs- und einen Konferenzsaal. Kurz: alles, um gegen das Vergessen anzukämpfen und sicherzustellen, dass der Rückforderungselan bei den Japanern nicht erlischt. „Ziel unseres Kulturzentrums ist es, den Japanern Rückendeckung zu geben, die von der Frage der nördlichen Territorien betroffen sind“, bescheinigt der Direktor Kentaro Iochitatsu. „Aber das Zentrum ist auch ein Ort des Austausches. Wir wollen den Russen der nördlichen Territorien und den Japanern von hier helfen, einander besser kennen zu lernen und Freundschaften zu knüpfen. Wir haben beispielsweise einen Raum eigens für die Teezeremonie konzipiert. Und wir planen eine Küche, in der die russischen und japanischen Austauschpartner sich gegenseitig Kochrezepte beibringen können.“ Gesamtkosten der Operation: 20,7 Millionen Euro.
Es versteht sich von selbst, dass die russische Seite über solche Mittel nicht verfügt, und doch steht sie nicht mit völlig leeren Händen da. So machte sie den einstigen japanischen Kurilenbewohnern beispielsweise den Vorschlag, Gruppen zu gründen, die gemeinsam Lage und Identität von Begräbnisstätten aufspüren könnten. Denn als die Sowjets 1945 auf die Inseln kamen, wurden Grab- und Mauersteine von einigen Friedhöfen für die Errichtung irgendwelcher Bauten verwendet. Seither haben Erosion und Vegetation das Ihre dazu beigetragen, um die letzten Reste dieser Friedhöfe verschwinden zu lassen. Da überdies keine präzisen Lagepläne von damals existieren, haben die jetzigen Bewohner der südlichen Kurilen ihre Hilfe angeboten: Sie wollen die Japaner bei der Suche und Wiederherstellung der verborgenen Spuren ihrer Erinnerung und Geschichte unterstützen.
In diesem ansonsten so erfolgreichen gegenseitigen Werben ist ein einziges Projekt wohl definitiv gescheitert: die Städtepartnerschaft zwischen Nemuro und Sewero-Kurilsk. Yasutoku Takamura, Museumskonservator von Nemuro, zeigt sich bitter enttäuscht darüber: „Die im Jahr 1994 begründete Städtepartnerschaft, in deren Zentrum vor allem der Fischfang steht, hat die wechselseitigen Beziehungen nicht in Schwung gebracht. Ziel war es zunächst, den Fangbetrieben von Sewero-Kurilsk den Fisch zu günstigen Preisen abzunehmen und ihnen im Gegenzug technische Hilfe zu leisten. Wir hatten gehofft, dass sich daraus ein vielfältiger kultureller Austausch entwickeln würde, zu dem es aber leider nicht gekommen ist.“ Sewero-Kurilsk liegt allerdings auch nicht auf einer der vier von Japan beanspruchten Inseln, sondern auf Paramuschir, der nördlichsten des Archipels.
Freilich geht es neben dem touristischen und kulturellen Austausch auch um den ökonomischen. Als Anfang der Neunzigerjahre in Russland die Planwirtschaft abgeschafft wurde, konnten die Fischer im Fernen Osten mit einem Mal ihren Fang an den Meistbietenden verkaufen, mit anderen Worten an Japan, das der größte Importeur von Meeresprodukten auf dem Weltmarkt ist. Binnen kürzester Zeit öffneten sich die Fischereihäfen im Norden Japans für die russischen Trawler aus Wladiwostok, von der Insel Sachalin und eben den Kurilen. Nemuro gab seinen kleinen, zum Ochotskischen Meer gelegenen Hafen auf, der vier Monate im Jahr zugefroren ist, und baute den fünf Kilometer entfernt am Pazifik liegenden, ganzjährig eisfreien Hafen von Hanasaki aus. Gigantische Umbauarbeiten haben einen Hafen entstehen lassen, wo von Jahr zu Jahr immer mehr russische Trawler einlaufen, beladen mit den berühmten „Hanasaki-Krebsen“, die die Japaner besonders gern essen und die es in Unmengen gibt – allerdings nur auf der anderen Seite der Meerenge, in russischen Gewässern.
Die russischen Kurilenfischer werden in Dollars ausbezahlt und sind somit gegen Kurseinbrüche des Rubels geschützt. Sie verdienen heute das Zehnfache ihres Lohnes in Sowjetzeiten. Ihr so gewachsenes Einkommen geben sie auf Hokkaido für Konsumgüter aus. Kein Trawler fährt leer zurück, denn auf den Kurilen herrscht rege Nachfrage nach japanischen Waren. Und so sind die russischen Seeleute auch als Transportunternehmer gefragt – für Haushaltsgeräte, runderneuerte Reifen und ab und zu einen Gebrauchtwagen.
Keiji Tetsuya hat gegenüber dem Kai, wo täglich russische Fischkutter anlegen, einen Laden eröffnet, in dem vom Motoröl über den Designertoaster bis zur allerneusten Hi-Fi-Anlage alles Mögliche zu haben ist. Vor vier Jahren hat Keiji Tetsuya Russisch gelernt, und er bemüht sich, die Vornamen aller seiner Kunden zu behalten. Er besitzt sogar ein kleines Album mit Fotos von seinen vielen „russischen Freunden“, die er nach Hause zum Essen eingeladen hat: Hier, das ist Sergej, der so gern Sake trinkt, und das ist Tatjana, eine junge Frau, die mit einem Trawler kam, um einen Gebrauchtwagen zu kaufen. Vielleicht werden es am Ende nicht so sehr die – politisch gesteuerten – touristischen und kulturellen Kontakte sein, die die beiden Seiten zueinander bringen, als vielmehr solche wirtschaftlichen Beziehungen.
Die Zeit arbeitet für Moskau. In mehreren Anläufen haben russische Unterhändler in den vergangenen Jahren dafür geworben, die Prioritäten umzukehren, also zunächst ein Friedensabkommen zu unterzeichnen und die Lösung der territorialen Frage „der nächsten Generation“ zu überlassen. Sie setzen dabei auf das schwindende Interesse der japanischen Bevölkerung daran, die vier Kurileninseln zurückzuerhalten. Am Ende könnten dann die japanischen Politiker mit ihrer Forderung, an der sie geschlossen festhalten, völlig allein dastehen. Von den 17 000 japanischen Kurilenbewohnern, die unmittelbar nach dem Krieg von den Inseln vertrieben wurden, leben heute nur noch 9 000, 2 200 davon in Nemuro. Man schätzt die Zahl ihrer Kinder auf 26 000, manche wurden noch auf den Inseln geboren, haben dort aber nur ihre ersten Lebensjahre verbracht. Für die Enkel spielen die „nördlichen Territorien“ keine große Rolle mehr, sie wandern ohnehin – wie viele junge Leute – aus dieser abgelegenen Region ab, um in den großen Städten wie Sapporo oder Tokio zu leben.
In Tokio lebt auch die dreiundzwanzigjährige Mirei, sie ist Soziologiestudentin. Die Frage nach den Kurilen erstaunt sie. Vielleicht denkt sie zum ersten Mal darüber nach. Sie gesteht, sich von dem Problem nicht wirklich betroffen zu fühlen. „Ja, natürlich, wir haben das in der Schule durchgenommen, als ich klein war oder auf dem Gymnasium, aber fragen Sie mich nicht, wie die Inseln heißen. Nein, wirklich, ich käme niemals auf die Idee, am Tag der nördlichen Territorien, ich glaube, es ist der 11. Februar,5 zu demonstrieren. Jedes Jahr machen sie ja diese Demonstrationen. Auch von meinen Freunden geht da keiner hin, noch nicht einmal mein Vater, schon lange nicht mehr.“ Ob das seit einigen Jahren wachsende Nationalgefühl der Japaner diese Tendenz wieder umzukehren vermag? Die japanische Regierung wartet die Antwort nicht ab, sondern versucht dem zunehmenden Desinteresse zu begegnen. Dabei machen sich die Japaner offenbar wirklich nicht mehr viel aus ihren „nördlichen Territorien“ – von den Bewohnern der Halbinsel Hokkaido einmal abgesehen.
Was die internationale Gemeinschaft angeht, so unterstützt sie die japanischen Forderungen nur auf dem Papier. Sie will sich aus einem Konflikt heraushalten, für den sie eigentlich nicht viel Verständnis aufbringt. Wiederholt haben die Japaner versucht, ihre amerikanischen Verbündeten dazu zu bringen, dass sie ihren Einfluss bei den Russen geltend machen: vergeblich. Die Meerenge von Nemuro bleibt eine strategisch und militärisch wichtige Zone. Angesichts der ständigen Präsenz der Amerikaner in Japan weigert sich die russische Armee, sich aus dem Gebiet ganz zurückzuziehen, obwohl Boris Jelzin das bereits 1993 in Aussicht gestellt hat. Von den 10 000 Mann, die Anfang der Neunzigerjahre auf den südlichen Kurilen stationiert waren, sind – zumindest nach offiziellen Angaben – noch immer 3 500 vor Ort.
Bei einem Treffen von Wladimir Putin mit dem ehemaligen japanischen Premierminister Yoshiro Mori im Mai 2001 in der sibirischen Stadt Irkutsk wurde einmal mehr deutlich, dass die Rückgabe der Kurilen keineswegs auf der Tagesordnung des russischen Präsidenten steht. Bereits im September 2000, als Putin während seines Tokiobesuchs von dem damals noch amtierenden Premier auf die Kurilen angesprochen wurde, musste dieser sich höflich, aber unmissverständlich sagen lassen, dass die Frage derzeit nicht zur Debatte stehe.
So bleibt es einstweilen beim Status quo. Russland möchte die Kurilen nicht herausgeben, macht jedoch immer wieder Vorschläge, wie die Verhandlungen voranzubringen wären, insbesondere für den Bereich der Entwicklungshilfe. Im November 1996 schlug der damalige russische Außenminister Jewgeni Primakow Tokio erstmals vor, ein gemeinsames Entwicklungsprogramm für die südlichen Kurilen zu starten. In erster Linie sollte es um die Modernisierung der Infrastruktur (Straßen, Häfen und Flugplätze) gehen, aber es war auch an den Aufbau einer Fisch verarbeitenden Industrie gedacht. Japan weigerte sich damals, diesen Weg einzuschlagen, ohne vorher von Moskau klare geopolitische Zusagen erhalten zu haben. Inzwischen versucht Russland, japanische Investoren auf die Inseln zu locken, ohne auf der politischen Ebene auch nur einen Schritt nachzugeben. Wie lange werden die japanischen Unternehmen dieser attraktiven Offerte widerstehen? Die Aussicht auf Ausbeutung der reichen Meeresressourcen wird die harte Position der Japaner wohl über kurz oder lang aufweichen, selbst wenn sie sich die Gewinne mit den Russen teilen müssen. Vielleicht können die Japaner sich schon bald wieder in ihren „nördlichen Territorien“ ansiedeln – allerdings ohne sie zurückzugewinnen.
dt. Passet/Petschner
* Journalist