14.09.2001

Steuerpolitik und Kapitalakkumulation in Frankreich

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Steuerpolitik und Kapitalakkumulation in Frankreich

Von THOMAS PIKETTY *

WIE hat sich die Ungleichheit bei der Verteilung von Einkommen, Löhnen und Vermögen im Frankreich des 20. Jahrhunderts entwickelt? Welche Gründe gibt es für diese Entwicklungen? Waren die Zeitgenossen, die die Auswirkungen dieser ungleichen Verteilung selbst erlebten, sich ihrer bewusst? Und wenn ja, in welchem Maß haben sie darauf Einfluss genommen? Meine Untersuchung beruht auf Quellen der Finanzverwaltung, die bisher nie über einen längeren Zeitraum untersucht worden sind, sowie auf Stellungnahmen und politischen Programmen zur Frage der Umverteilung.

Langfristig hat die Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen im 20. Jahrhundert abgenommen.1 Anders als manche optimistischen Theorien vermuten lassen, ist diese Annäherung zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommen jedoch in keiner Weise ein umfassendes und unumkehrbares Phänomen. Bemerkenswert ist vor allem, dass sich die Ungleichheit der Löhne – abgesehen von den vielen kurz- und mittelfristigen Schwankungen – im Lauf des Jahrhunderts kaum verändert hat. So verfügten die 10 Prozent der besser bezahlten Angestellten in diesem Zeitraum stets über das 2,5- bis 2,6fache Durchschnittseinkommen aller erwerbstätigen Franzosen. Und das eine Prozent der am meisten verdienenden Arbeitnehmer bezog ein Gehalt, das in etwa dem sechs- bis siebenfachen Durchschnittseinkommen entsprach.

Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Arbeitswelt vollkommen verändert, und die durchschnittliche Kaufkraft hat sich in etwa verfünffacht. Dennoch ist die Hierarchie der Entlohnungen unverändert geblieben. Diese beeindruckende Stabilität hat bestimmt nicht nur mit anhaltenden Unterschieden der Qualifikation und der Ausbildung zu tun. Sie verdankt sich auch einem nahezu allumfassenden Konsens, der diese Gehaltshierarchien von jeher unterstützt. Die Ungleichheit der Löhne ist von keiner politischen Bewegung – egal welcher ideologischen Ausrichtung – ernsthaft in Frage gestellt worden.

Und dennoch hat sich die Ungleichheit der Einkommen im Lauf des 20. Jahrhunderts verringert. Das liegt im Wesentlichen an den Einbußen bei den sehr hohen Kapitaleinkommen. Die größten Vermögen (und die ihnen entspringenden hohen Kapitaleinkommen) brachen im Zuge der Krisen zwischen 1914 und 1945 durch Kriegsschäden, Inflation und die Konkurse der Dreißigerjahre regelrecht zusammen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg haben solche Vermögen und Einkommen nicht wieder jene astronomischen Ausmaße erreicht, wie sie vor 1914 existierten. Am überzeugendsten lässt sich diese Tatsache mit den dynamischen Auswirkungen progressiver Besteuerung auf die Akkumulation und Entstehung großer Vermögensverhältnisse erklären.

Die enorme Konzentration des Vermögens am Beginn des 20. Jahrhunderts war das Ergebnis eines Jahrhunderts der Akkumulation in Friedenszeiten. Zwischen 1815 und 1914 konnten die großen Vermögen ohne Sorge vor Einkommens- oder Erbschaftssteuern anwachsen. Bis 1914 waren selbst die höchsten Steuersätze noch lächerlich niedrig. Doch nach den Erschütterungen der beiden Weltkriege änderte sich das entscheidend. Die Steuern auf große Einkommen und Erbschaften waren nun extrem hoch. Bei den größten Einkommen überschritten sie seit den Zwanzigerjahren die 90-Prozent-Marke.

Unter solchen Umständen wurde es schlicht unmöglich, Besitz in einer Größenordnung anzuhäufen, die vor den Kriegsjahren noch üblich gewesen war. Man kann die Bedeutung dieses Wandels gar nicht genug betonen: Die Kluft, die die 0,01 Prozent der höchsten Einkommen (in der Praxis waren dies immer und zum allergrößten Teil Kapitaleinkommen) vom Durchschnittsverdienst trennte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch fünfmal größer als nach 1945. Die Kapitaleinkommen als solche sind nicht verschwunden, aber ihre Konzentration hat stark abgenommen. Während die proportionale Verteilung des Volkseinkommens auf Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen in Frankreich über das gesamte Jahrhundert stabil geblieben ist, hat sich die Verteilung innerhalb beider Kategorien also ganz unterschiedlich entwickelt: Die Verteilung der Arbeitseinkommen ist so gut wie unverändert geblieben; das Kapitaleinkommen ist heute weitaus weniger gebündelt.

Im Übrigen wird die Behauptung, die Ungleichheiten hätten sich bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verringert, durch nichts bestätigt. Ohne die Erschütterungen der Jahre 1914 bis 1945 hätte Frankreich wahrscheinlich nicht so schnell den Gipfel der Ungleichheit überwunden, den es zur Jahrhundertwende erreicht hatte. Erst durch die menschlichen und finanziellen Katastrophen von zwei Weltkriegen und der Wirtschaftskrise der Dreißigerjahre wurde die steuerliche Umverteilung zu einer bestimmenden Kraft.

Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass der Abbau der Ungleichheit ein Ergebnis der Schicksalsschläge auf den Schlachtfeldern und an den Börsen ist. Es ist indes durchaus legitim, in den Krisen der Jahre 1914 bis 1945 eine endogene Reaktion auf die unhaltbare Ungleichheit zu sehen, die den Kapitalismus um die Jahrhundertwende auszeichnete.

Ist eine Rückkehr zu Verhältnissen wie im 19. Jahrhundert denkbar? Historische Vergleiche könnten hier einige Anhaltspunkte bieten. In allen entwickelten Industrieländern wurden die Großvermögen zwischen 1914 und 1945 weitgehend und langfristig dezimiert. In den USA – wo die Kapitalkonzentration vor 100 Jahren und die Kriegsschäden weit geringer waren als in Europa – hat sich diese Entwicklung zwischen 1980 und 2000 auffällig rasch umgekehrt. In dieser Zeit hat die Ungleichheit in den USA wieder das Niveau des frühen 20. Jahrhunderts erreicht. Könnten nicht auch die europäischen Länder – und hier vor allem Frankreich – in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts wieder jene enorme Konzentration der Vermögen und Einkommen aufweisen, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschte?

Eine solche Annahme wäre ohne Zweifel sehr gewagt. Eine eingehende Betrachtung des vergangenen Jahrhunderts in dieser Sache zeigt nicht zuletzt, dass die Entwicklung der Ungleichheit weitgehend unvorhersehbar ist. Besonders bei der Ungleichheit der Löhne haben sich trotz der langfristigen Stabilität im Lauf des Jahrhunderts Phasen der Ausweitung und der Eindämmung in komplexer Weise abgewechselt. Die Brüche in dieser Entwicklung fallen oft mit jenen der allgemeinen Geschichte Frankreichs zusammen. So führten die beiden Weltkriege zu einem wesentlichen Ausgleich in den Lohnhierarchien, der allerdings in den Jahren nach diesen Kriegen rasch wieder zunichte gemacht wurde. Doch auch die Jahre 1936, 1968 und 1982/83 markieren bedeutende Wendepunkte in der Geschichte der Ungleichheit der Löhne. Es ist kaum zu erwarten, dass im Lauf unseres Jahrhunderts nicht ähnliche Fluktuationen und Brüche stattfinden. Und es wäre anmaßend zu behaupten, man könne sie vorhersehen.

Trotz aller Vorbehalte ist die Vorstellung einer Rückkehr ins 19. Jahrhundert durchaus objektiv zu begründen, und zwar in erster Linie mit dem Wandel der Produktionssysteme, wie man sie in den entwickelten Ländern um die Wende zum dritten Jahrtausend beobachten kann. Dieser Wandel zeichnet sich durch den Niedergang traditioneller Industriezweige und die Entstehung einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft aus (obwohl noch jede Epoche den Niedergang einer alten Industrie und den Aufstieg einer neuen erlebt hat). Er wird vermutlich eine rasche Zunahme der Ungleichheit begünstigen. Nicht zuletzt ermöglicht das starke Wachstum, das die neuen Branchen verbuchen, die Anhäufung beachtlicher Erwerbseinkommen. In den Vereinigten Staaten war diese Entwicklung bereits in den Neunzigerjahren offensichtlich. Es gibt keinen Grund, warum sie nicht auch Europa erreichen sollte.

Die Bildung von sehr großen Vermögen am Anfang des 21. Jahrhunderts lässt sich durchaus mit jener der vergangenen Jahrhundertwende vergleichen. Sie ist nicht zuletzt – vielleicht sogar: vor allem – durch die groß angelegte Senkung der Grenzsteuersätze auf sehr hohe Einkommen möglich geworden. Es ist natürlich viel einfacher, ein Vermögen zu machen (oder wieder zu gewinnen), wenn die Grenzsteuersätze höchstens 30 bis 40 Prozent betragen (durch einzelne Steuerbefreiungen sogar noch weit weniger), als bei Grenzsteuersätzen von 70, 80 oder noch mehr Prozent. Solche hohen Raten waren in den Jahren des Wirtschaftswunders auch in Großbritannien und den Vereinigten Staaten üblich.

In den USA und – wenn auch in geringerem Maß – in Großbritannien hat man die zunehmend ungleiche Verteilung des Reichtums mit starken Steuersenkungen gefördert. Von ihnen profitieren seit Ende der Siebzigerjahre vor allem die höchsten Einkommensklassen.

In Frankreich und dem übrigen Kontinentaleuropa herrschten jedoch andere politische und ideologische Bedingungen. In der englischen und amerikanischen Öffentlichkeit wurde die Wirtschaftskrise der Siebzigerjahre sehr bald als ein Versagen der Politik staatlicher Einmischung gedeutet, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (unter anderem in Form der progressiven Besteuerung) durchgesetzt hatte. In den Ländern des europäischen Kontinents wehrte sich die Öffentlichkeit dagegen lange Zeit, Institutionen zu hinterfragen, die mit den vom Wirtschaftswachstum gesegneten Jahren verbunden waren.

Doch dieser transatlantische Unterschied hat sich inzwischen verringert. Die Stagnation der Kaufkraft in den Achtziger- und Neunzigerjahren hat zu einem gewissen Widerwillen gegen die Einkommenssteuer geführt. Zugleich ist die (tatsächliche oder angenommene) größere Mobilität des Kapitals und der so genannten Spitzenkräfte zu einem gewichtigen Argument geworden, das verschiedene Länder dazu veranlasste, die Großeinkommen steuerlich zu entlasten.

Insgesamt sieht es offenbar so aus, dass dieses Jahrhundert mit ein paar fetten Jahren für die Besitzer großer Vermögen beginnt. Aber kann diese wirtschaftliche und mentale Situation andauern? Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts zeigt, dass Gesellschaften mit allzu großer Ungleichheit in sich labil sind. Und eine eingehende Betrachtung des vergangenen Jahrhunderts bestätigt, dass eine zu große Kapitalkonzentration nicht nur aus der Sicht der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch in puncto wirtschaftlicher Effizienz negative Folgen haben kann. Die Abflachung der Ungleichheit der Besitzverhältnisse, wie sie in der Zeit zwischen 1914 und 1945 eingetreten ist, mag durchaus den Niedergang der alten Kapitalistendynastien beschleunigt und den Aufstieg einer neuen Generation von Unternehmern begünstigt haben. Damit könnte sie auch zur Dynamisierung der westlichen Industrien in den Wirtschaftswunderjahren beigetragen haben. Die progressive Besteuerung ist darauf angelegt, Bedingungen vorzubeugen, wie sie vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs herrschten; ihre Demontage könnte langfristig zu einer gewissen wirtschaftlichen Sklerose führen.

dt. Herwig Engelmann

* Directeur d’études an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung seiner Studie „Les hauts revenus en France au 20ième siècle – Inégalité et redistributions, 1901–1998“. Sie erscheint als Buch am 5. September bei Grasset in Paris.

Fußnote: 1 Diese Untersuchung stützt sich vor allem auf eine systematische Auswertung von Quellen der Finanzverwaltung: Einkommenserklärungen (seit Einführung der Einkommenssteuer 1914), Gehaltserklärungen (seit Einführung der Lohnsteuer 1917) und Erbschaftserklärungen (seit Einführung der progressiven Besteuerung auf Erbschaften im Jahr 1901).

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von THOMAS PIKETTY