Ein europäisches Volksempfinden gibt es nicht
Von ANNE-CÉCILE ROBERT
DER europäische Gipfel von Nizza im Dezember 2000 hat es nicht geschafft, die EU-Institutionen glaubhaft zu reformieren.1 Der Beitritt neuer Mitgliedstaaten, der frühestens ab 2004 vorgesehen ist, macht einen solchen Umbau aber zwingend.2
Angesichts der politischen und sozialen Widersprüche beim Aufbau Europas war das Scheitern von Nizza unvermeidlich. Doch in Hinblick auf die für 2004 beschlossene Regierungskonferenz flüchten sich die fünfzehn lieber in „institutionelle Sandkastenspiele“ („Föderation“, „Föderation von Nationalstaaten“, „Verfassung“ usw.), statt die Widersprüche eines Europa zu lösen, das in vieler Hinsicht bereits föderal geworden ist. Wobei es sich allerdings um einen juristischen und wirtschaftlichen Föderalismus ohne demokratische Grundlage handelt – statt um einen politischen Föderalismus, der auf allgemeinen Wahlen basiert.
Dies erklärt sich aus dem Zusammenwirken zweier Faktoren. Zum einen verläuft der Aufbau Europas nach der „Räderwerk“-Methode, ist also ein ständig neu herbeigeführter Kompromiss zwischen dem Erhalt der nationalen Souveränitäten und ihrer Überwindung zugunsten höherer Institutionen, die mit Kompetenzen vornehmlich wirtschaftlicher Art ausgestattet sind. Zu diesem Zweck kann die Gemeinschaft Rechtsvorschriften erlassen, die den nationalen Bestimmungen und Gesetzen übergeordnet sind. Diese Vorschriften sollen schrittweise mit qualifizierter Mehrheit der Minister statt einstimmig verabschiedet werden (ein Mitgliedstaat kann also zur Anwendung eines Gesetzestextes gezwungen werden, den er abgelehnt hat). Seit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Juli 1987 werden die meisten Richtlinien, die den Binnenmarkt betreffen, auf diese Weise erlassen. Die Integrationseffekte des Systems werden weiter verstärkt durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und die EU-Kommission, die mit dem Initiativrecht und eigenen Befugnissen in Wettbewerbsfragen ausgestattet ist.3
Zum zweiten zielen die Römischen Verträge, die eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) etabliert haben, auf die Realisierung eines großen Binnenmarkts. Diese Grundentscheidung wurde von den ursprünglich sechs und inzwischen fünfzehn Mitgliedstaaten nie in Frage gestellt und in den Achtzigerjahren in ihrer liberalsten Version bestätigt. Seitdem ist dieses Ziel zum kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den EU-Mitgliedern mutiert, während es in allen darüber hinausgehenden Fragen erhebliche politische Unstimmigkeiten gibt. So akzeptieren die Mitgliedstaaten zwar, dass die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit auf Bereiche ausgeweitet wird, die den Gemeinsamen Markt betreffen, halten jedoch bei anderen Themen, die der eine oder andere Mitgliedstaat als heikel betrachtet – etwa Steuern oder sozialpolitische Fragen betreffend –, am Konsensprinzip fest. Und auf dieses Prinzip der Einstimmigkeit kann nur durch einstimmigen Beschluss verzichtet werden.
Mit der Einführung des Euro und der Gründung der unabhängigen Europäischen Zentralbank (EZB) haben die fünfzehn einen technisch-wirtschaftlichen Föderalismus etabliert, ohne ein demokratisches Gegengewicht zu schaffen. Seitdem herrscht völlige Stagnation. Da es kein europäisches Alternativprojekt gibt, sind die Positionen festgefahren. Manchen Kräften geht es darum, das „Schloss“ der Einstimmigkeit zu knacken und eine Föderation aufzubauen (die europäischen Grünen, die Regierungen der Bundesrepublik und Belgiens). „Das nationale Interesse ist das Interesse des Kapitals“, schreibt etwa Alain Lipietz.4 Andere erklären angesichts der katastrophalen sozialen Auswirkungen des freien Marktes die Einstimmigkeit zum einzigen Bollwerk gegen die totale Kommerzialisierung, weil nur so die gesellschaftlichen Gruppierungen auf ihre Regierungen Druck ausüben können. Andere Stimmen – vor allem aus Großbritannien – sind begeistert, dass der Aufbau Europas auf den Binnenmarkt beschränkt bleibt. Aber all diese Kräfte stellen nie die entscheidende Frage: Wozu eigentlich Europa? Ein Konsens über das Projekt Europa wäre aber die Vorbedingung, um sich über sein Funktionieren klar zu werden (Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheit, Rolle der EU-Kommission usw.).
Unter Umgehung dieser Fragen plädieren mehrere Staats- und Regierungschefs – etwa Bundeskanzler Gerhard Schröder, der französische Staatspräsident Jacques Chirac, Premierminister Lionel Jospin und der belgische Premier Guy Verhofstadt – für die Einführung einer europäischen Verfassung. Eine Verfassung ist freilich genau das, was einen Staat von einer internationalen, vertraglich fixierten Organisation unterscheidet. Der Vorschlag, eine europäische Verfassung auszuarbeiten, läuft also im Grunde darauf hinaus, die Union zu einem Staat zu machen. Das würde einen radikalen Perspektivwechsel bedeuten, würde bedeuten, eine europäische Volkssouveränität zu konstituieren, die weit über das „Zusammenleben-Wollen“ hinausgeht.
Nach Auffassung der deutschen Politiker haben die Europäer dieses Stadium der Integration schon erreicht; zudem lasse ihnen die Globalisierung keine andere Wahl. Zwar akzeptieren sie widerstrebend die Bedeutung nationaler Gefühle, halten diese aber für überholt. So postuliert Jürgen Habermas, vom deutschen Beispiel ausgehend, einen „Verfassungspatriotismus“, der eine aus unterschiedlichen Identitäten bestehende Gemeinschaft zusammenkitten soll. Jacques Delors hingegen, der ehemalige Präsident der EU-Kommission, ist sich nicht so sicher: „Ich habe mich von den Föderalisten getrennt“, sagte er kürzlich, „weil ich nie geglaubt habe, dass die Nationen verschwinden würden. Globalisierung bedeutet, dass die Nation präsent ist.“5 Und da es kein „europäisches Volksempfinden“ gibt, keinen öffentlichen europäischen Raum und kein europäisches Volk – welche Instanz wäre hinreichend legitimiert, eine Verfassung auszuarbeiten?
Die Klärung des institutionellen Systems setzt die Klärung der Frage voraus: Wo ist der Ort demokratischer Repräsentanz in der Europäischen Union? In den nationalen Regierungen und ihren Parlamenten oder in den europäischen Institutionen, also namentlich im Straßburger Parlament? Aus Sicht der deutschen Politiker liegt die demokratische Legitimation eindeutig beim Europäischen Parlament, das mehr Zuständigkeiten bekommen müsse. Bundeskanzler Gerhard Schröder plädiert etwa für die Umwandlung des Ministerrats in eine zweite Kammer, wobei die Kommission zur „starken“ Exekutive würde.
Für die französischen Politiker können dagegen die Exekutivorgane, als Ausdruck der Souveränität, die Völker legitim repräsentieren: „In meinem Land“, erklärte Außenminister Hubert Védrine, „ist man nicht der Auffassung, die Regierungen seien nicht demokratisch.“6 Und Premierminister Lionel Jospin weist den staatlichen Institutionen eine Schlüsselrolle zu. Dagegen hat seine Formel „Föderation der Nationalstaaten“ überhaupt keinen Sinn, kombiniert sie doch zwei sich ausschließende Konzepte, zwei Formen von Patriotismus. Zudem ist die „föderale“ Perspektive unter den Mitgliedstaaten höchst umstritten und erregt heftigstes Misstrauen bei den Beitrittskandidaten, von denen die meisten ihre politische Souveränität gerade erst zurückgewonnen haben.
Die Union muss also nicht durch eine Verfassung, sondern durch eine neue Charta und einen neuen Vertrag umgestaltet werden, den etwa ein Europakongress von nationalen Abgeordneten erarbeiten könnte. Ziel der Charta müsste es sein, sowohl das Projekt Europa erneut auf einige große politische Idee zu richten, als auch klarzustellen, welche Prinzipien die Beziehungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten bestimmen sollen: Subsidiarität, Proportionalität der europäischen Aktionen mit festgesetztem Ziel, loyale Kooperation der Staaten usw. Diese Grundprinzipien werden vom EuGH stets neu präzisiert, was eigentlich die Aufgabe einer durch allgemeine Wahlen kontrollierten politischen Instanz sein sollte. Die Charta müsste die Ziele der Union hierarchisieren, also etwa den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Vollbeschäftigung oder die Umwelt zu vorrangigen Zielen gegenüber dem Freihandel und dem freien Wettbewerb machen. Eine solche Hierarchie würde nicht nur die europäische Politik, sondern auch die Entscheidungen des EuGH beeinflussen. Der neue Vertrag müsste eine konsolidierte Version aller früheren Verträge sein; er müsste die Leitlinien der großen gemeinsamen Politik bestätigen wie auch das institutionelle System vereinfachen, das mittlerweile fast undurchschaubar geworden ist. Vertrag und Charta müssten durch ein Referendum in allen Mitgliedstaaten verabschiedet werden.
Die Union kann sich demokratisieren, ohne dass es dazu eines hypothetischen politischen Föderalismus bedürfte. Im Rahmen der Verträge kann ein europäisches Prinzip der Gewaltenteilung ausgearbeitet werden, das die legislative und die exekutive Funktion eindeutig definiert. Der Ministerrat könnte dabei die Rolle des Gesetzgebers übernehmen und wäre gegenüber einer Versammlung der Vertreter der nationalen Parlamente verantwortlich. Die Kommission, die volle Befugnisse zur Ausführung von „Gesetzen“ erhalten müsste, wäre stets dem Europäischen Parlament verantwortlich.
Die Möglichkeit „verstärkter Kooperation“, die der Vertrag von Nizza bestätigt, darf nicht dazu führen, dass eine reformierte Union verwässert und destabilisiert wird. Sie gestattet einer Anzahl von Mitgliedstaaten (mindestens acht), in einem bestimmten Bereich eine Vorreiterrolle zu spielen. Das Europäische Parlament sollte sich zu jedem Projekt im Namen des allgemeinen Interesses äußern und es gegebenenfalls ablehnen dürfen. Außerdem muss die Möglichkeit bestehen – entgegen der Restriktion, die Großbritannien in Nizza durchgesetzt hat –, das System auch auf militärische Fragen auszudehnen, um aus der Unterwerfung unter die Nato und dem faktischen Protektorat der Vereinigten Staaten herauszukommen.
Zudem darf es keine EU-Erweiterung geben, solange die institutionellen Reformen in Zusammenhang mit der neuen Charta nicht umgesetzt sind. In Nizza traten die fünfzehn eine unverantwortliche Flucht nach vorne an und verkündeten, dass die Beitritte auf jeden Fall und unter allen Umständen erfolgen.7 Stattdessen wäre ein Moratorium nötig, bis sich die Union konsolidiert hat. Auch sollten alternative Lösungen zu einem Beitritt ausgearbeitet werden (etwa das Modell eines paneuropäischen Konföderalismus). Schließlich müssen in jedem Mitgliedstaat die öffentliche Diskussion über die Europapolitik neu belebt und die parlamentarischen Kontrollen verstärkt werden. Beispielhaft steht hierfür das dänische Folketing, das der Regierung hinsichtlich der Gesetzgebung der Gemeinschaft ein imperatives Mandat erteilen kann.
Der ideologische Konsens und die Abdankung der Staaten belasten den Aufbau Europas in bedrohlicher Weise. Jede neue Etappe muss in sämtlichen Mitgliedstaaten der Union durch allgemeine Wahlen bestätigt werden, um Europa aus der Politik des Fait accompli herauszuführen. Für die Neugestaltung der Union ist dies unerlässlich. Im Vertrag von Nizza ist der Keim zu einer Krise angelegt. Es sollte eine jener Krisen sein, die zur Heilung führen.
dt. Matthias Wolf