14.09.2001

Eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte

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Eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte

Von IBRAHIM WARDE *

Seit 1982 hat sich das Gesamtvermögen islamischer Finanzinstitutionen um mehr als das Vierzigfache erhöht. Heute wird dieses Vermögen auf über 230 Milliarden Dollar geschätzt.1

Als Erste der großen westlichen Banken richtete 1996 die New Yorker Citibank einen islamischen Geschäftszweig ein und eröffnete eine Filiale in Bahrein. Andere Banken folgten, und inzwischen verfügen fast alle Geldinstitute zumindest über ein „Fenster zur islamischen Welt“, oder sie bieten ihrer islamischen Klientel spezielle Dienstleistungen an. Es gibt sogar einen Dow-Jones-Index für den islamischen Markt, der Hunderte von Firmen (nicht nur islamischer Länder) erfasst, die den Bestimmungen der Scharia genügen.

Angesichts der häufig geäußerten Ansicht, der Islam sei mit der seit dem Ende des Kalten Krieges herrschenden „Neuen Weltordnung“ nicht vereinbar, mag diese Entwicklung überraschen.2 Wie können sich Einrichtungen, die den „Wucher“ ablehnen, in der technologieorientierten Welt der globalen Geldströme so erfolgreich behaupten? Wie kommen sie in der Sphäre des globalen Finanzsystems zurecht, in dem allein die Rendite zählt? Wieso erblüht die islamische Geldwirtschaft ausgerechnet mit dem Niedergang des „politischen Islam“, als dessen typische Ausdrucksform sie galt?3

Die modernen Formen des islamischen Bankwesens entstanden Anfang der 1970er-Jahre, als in der islamischen Welt zwei entscheidende Entwicklungen zusammenkamen: der Anstieg des Ölpreises und die Ausbreitung panislamischer Bewegungen. Mit der militärischen Niederlage im „Sechstagekrieg“ von 1967 war die säkulare panarabische Bewegung des Nasserismus am Ende. Unter dem Banner des Panislamismus übernahm Saudi-Arabien die Führungsrolle unter den arabischen Staaten der Region.4

1970 wurde die Organisation Islamischer Staaten (OIC) gegründet. Das beförderte auch die Bestrebungen, das traditionelle islamische Bankwesen an die Gegenwart anzupassen. Verschiedene islamische Religionsgelehrte, vor allem in Pakistan, hatten dazu schon Jahre zuvor Vorschläge erarbeitet. Überall in der islamischen Welt entstanden Forschungseinrichtungen, die sich mit Fragen von Wirtschaft und Finanzwesen nach Maßgabe des Islam befassten.

1974, als sich der Ölpreis vervierfacht hatte, beschloss man auf dem Gipfeltreffen der OIC in Lahore, eine von allen Regierungen gemeinsam unterhaltene „Islamische Bank für Entwicklung“ (IDB) zu gründen. Diese Bank mit Sitz in Dschidda sollte den Grundstein für ein neues, islamisch geprägtes Bankensystem legen. Ein Jahr später nahm die „Dubai Islamic Bank“ den Geschäftsbetrieb auf – die erste moderne islamische Bank, die nicht unter Regierungsaufsicht stand. Es entstand ein internationaler Verband islamischer Banken mit dem Ziel, verbindliche Normen auszuarbeiten und gemeinsame Interessen zu verteidigen. Pakistan war 1979 das erste Land, das sein gesamtes Bankenwesen vollständig unter die Vorschriften des Islam stellte, 1983 gefolgt vom Sudan und dem Iran.

Jene Korangelehrten, die auf der Grundlage eines reichen Bestands von Korankommentaren – aus vorkapitalistischer Zeit – Regeln für die aktuelle Geldwirtschaft formulieren wollten, standen vor einem Problem. Der Handel spielte in der islamischen Tradition eine wichtige Rolle (der Prophet Mohammad selbst war Kaufmann), doch im Koran wird in Vers 275 der 2. Sure darauf hingewiesen, dass „Verkauf erlaubt, die Zinsen aber verboten“ seien. Was hier verboten wird ist riba – wörtlich etwa „Zugewinn“. Manche Kommentatoren verstehen darunter nur die „Wucherzinsen“, die meisten jedoch jede Art von Zinsgewinn.

Wichtige religiöse Autoritäten – etwa der Rektor der Al-Azhar-Universität in Kairo, einer der ältesten und berühmtesten Stätten islamischer Gelehrsamkeit – haben inzwischen bestimmte Formen von Zinseinnahmen abgesegnet, doch für die Mehrheit der Korangelehrten ist riba nach wie vor gleichbedeutend mit jeder Form von Zins.5 Grundsätzlich akzeptieren die Gelehrten die Formel „Zeit ist Geld“, doch sie lehnen fixe, „vorab festgelegte“ Zinssätze bei Kreditgeschäften ab, weil auf diese Weise ein Kreditgeber seine Schuldner ausbeuten könnte.

In der Frühzeit des Islam vollzogen sich Finanzgeschäfte vorwiegend in einer Art Partnerschaft zwischen Geldgebern und Debitoren: Man teilte Gewinne und Verluste, ähnlich wie bei den heutigen Geschäften mit „Risikokapital“, die einen Finanzier auf Gedeih und Verderb an die Firma binden, in die er investiert. Im Mittelalter waren die reichen Händler auf der arabischen Halbinsel, die das Geld für die Ausstattung der Karawanen aufbrachten, natürlich am Erlös einer erfolgreichen Handelsreise beteiligt. Aber sie trugen auch das Risiko, ihren Einsatz ganz oder teilweise zu verlieren, wenn die Waren verloren gingen, oder gestohlen oder mit Verlust verkauft wurden.

Partnerschaftliche Finanzierungsgeschäfte

BEI der Einrichtung eines modernen islamischen Bankwesens konzentrierte man sich auf partnerschaftliche Modelle mit gemeinsam getragenen Gewinn- und Verlustchancen, die finanzschwachen Unternehmern mit guten Geschäftsideen bessere Möglichkeiten boten. Man hoffte, damit wirtschaftlich mehr zu bewegen als mit den üblichen Schuldverschreibungen. Darüber hinaus sollte das System Leuten, die aus religiösen Gründen Geldgeschäfte ablehnten, die Möglichkeit bieten, ihr angesammeltes Kapital produktiv in den ökonomischen Kreislauf einzuspeisen. Und schließlich sollten die Banken, der islamischen Pflicht zum Almosen (zakat)6 gehorchend, Stiftungen für verschiedene wohltätige und soziale Zwecke einrichten und unterhalten.

Die ersten islamischen Banken traten also mit dem Ziel an, partnerschaftliche Finanzierungsgeschäfte abzuwickeln – mudaraba (partnerschaftliche Vermögensverwaltung) und muscharaka (gemeinsame Unternehmungen) –, doch zumeist finanzierten sie „Cost-plus“-Operationen (Einsatz plus Gewinn), mit Verträgen, die als murabaha bezeichnet werden: Die Bank kauft die Güter, die ein Investor benötigt, und verkauft sie ihm dann mit Gewinn. Für die Erträge aus Einlagen bei der Bank (Scheckkonten, Sparkonten oder Investmentfonds) galt das Prinzip der Teilung von Gewinn und Verlust: Die Erträge aus Investitionseinlagen richteten sich nach dem Erfolg der Beteiligungen; Sparguthaben wurden entsprechend den Gewinnen der Bank insgesamt verzinst.

Doch die Erfahrungen mit der Gewinn- und Verlustteilung waren enttäuschend, und viele Banken gaben diesen Geschäftszweig auf. Überdies hatte es einige spektakuläre Pleiten islamischer Geldinstitute gegeben: 1988 mussten in Ägypten die Islamischen Gesellschaften zur Geldverwaltung (IMMC) ihre Tätigkeit einstellen, und 1991 ging die Internationale Bank für Handel und Kredit (BCCI) in Konkurs.

Damals sah man im islamischen Bankwesen lediglich ein vorübergehendes Phänomen, das nur aus der Ära hoher Rohölpreise zu erklären sei. In Wirklichkeit jedoch erfuhren die islamischen Geldinstitute einen starken Wachstumsschub. Seit Anfang der 1990er-Jahre war auch die islamische Welt in den Sog des deregulierten und stärker technologieorientierten internationalen Finanzsystems geraten und bekam die Folgen des politischen, wirtschaftlichen und demografischen Wandels zu spüren, der auf verschiedene Faktoren zurückging: die Auswirkungen der iranischen Revolution, den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Entstehung neuer islamischer Staaten, die veränderten Bedingungen auf dem Ölmarkt, den Aufstieg der asiatischen „Tigerstaaten“, den zunehmenden Einfluss des Islam im Westen, oder das Aufkommen einer neuen islamischen Mittelschicht.

Vor diesem Hintergrund muss man die gegenwärtigen Bemühungen um eine „Wirtschaftsmoral“ des Islam verstehen. In den 1970er-Jahren war es vorwiegend um scholastische Probleme gegangen, um Auslegungen und Rechtsgutachten auf Basis des Koran. Heute ist für die „Neuerungsbewegung“ (idschtihad) die praktische Frage zentral, wie man moderne Finanzinstrumente mit den Grundsätzen des Islam versöhnen kann. Nach neuerer Auffassung gilt nicht mehr das Prinzip, dass alle Formen, die es in der Frühzeit des Islam nicht gab, als unislamisch gelten müssen. Das widerlegt nicht nur das gängige Vorurteil, der Islam sei erstarrt und vormodern, sondern verdeutlicht gerade die Anpassungsfähigkeit, die es dieser Religion ermöglicht hat, sich seit vierzehn Jahrhunderten auf allen Kontinenten zu behaupten: In islamischer Diktion sind dies die Prinzipien der Abkehr von der Tradition (’urf) zwecks Einbindung örtlicher Gebräuche, des öffentlichen Interesses (maslaha) oder der sozialen Notwendigkeit (darura).

In dieser Situation liefen die traditionellen renditeorientierten Geschäftsbanken Gefahr, in religiös bestimmte Konflikte zu geraten. Dagegen schlug die Stunde des Erfolgs für die neuen islamischen Institute, die den Unterschied zwischen dem Geldgeschäft und anderen Bereichen der Finanzierung zu verwischen suchten, ihre Zinseinkünfte versteckten und neue Formen von Finanzoperationen erprobten. Indem sie die Zinserträge als unerheblich behandelten (und „Gebühren“ zu ihrer Haupteinnahmequelle erklärten), gelang es den islamischen Bankern, die Kontroverse um riba, den Zins, zu unterlaufen. Im Rahmen der Deregulierung konnten so allerorts maßgeschneiderte Angebote für die islamische Kundschaft vorgestellt werden.

Auf der ideologischen Ebene ging die antidirigistische Haltung der Islamisten gut zusammen mit dem neuen „Washington Consensus“. Der Westen wollte Privatisierung, Deregulierung und Rechtssicherheit, aber auch den Islamisten waren Privateigentum, Unternehmensfreiheit und die Achtung von Verträgen sehr wichtig. Dass sie dabei großen Wert auf die Almosenpflicht und andere Formen religiös begründeter Umverteilung des Reichtums legten, war ein Gegengewicht zu den Tendenzen der Reagan-Thatcher-Ära, den Sozialstaat abzubauen. In vielen Ländern beriefen sich die Unternehmer auf den Islam, um gesetzliche Beschränkungen zu umgehen und den Einfluss des Staates in der Wirtschaft zurückzudrängen.

Für Malaysia und Bahrain zum Beispiel war die Islamisierung der Hebel, um eine Modernisierung des Finanzwesens durchzusetzen. Dabei ging es vor allem darum, die Vorliebe des Privatsektors für Zinsgewinne und die wettbewerbsfeindlichen Haltungen der eingesessenen Führungsschichten zu bekämpfen, die kein Interesse an einer Änderung der Verhältnisse hatten.7 Nach der Financial Times gehören die islamischen Finanzinstitute inzwischen zu den Vorreitern der Innovation und der wirtschaftlichen Dynamik.8

Womöglich sind auch gerade die Auswüchse des globalen Finanzsystems für den gegenwärtigen Aufschwung der islamischen Banken verantwortlich.9 So wie sich im Westen angesichts fragwürdiger Unternehmensstrategien eine neue Debatte über moralische Verpflichtungen in der Wirtschaft entwickelt hat, hat das „unmoralische“ Gebaren der Banken in der islamischen Welt zu Versuchen geführt, ein moralisch vertretbares Finanzwesen zu schaffen. Während im Westen die kirchlichen Ursprünge vieler Geldinstitute vergessen sind und das aus der jüdisch-christlichen Tradition hervorgegangene Bankwesen längst als säkular gilt, musste das Konzept einer islamischen Geldwirtschaft in einer Zeit der Neuentdeckung des Glaubens10 großes Interesse erwecken. Gerade weil der Islam alle wirtschaftlichen Unternehmungen positiv sieht und sie gleichzeitig strengen ethischen Geboten unterwirft, ermöglichte ein islamisches Bankwesen tragfähige Kompromisse zwischen Ethik und Geldgeschäften.

Die Anfänge eines genuin islamischen Bankwesens gehen auf Initiativen in den ölreichen Ländern (vor allem Saudi-Arabien) und in Ägypten und Pakistan zurück. Inzwischen ist allerdings auch die Vielfalt der Formen innerhalb der islamischen Welt deutlich geworden: Heute gibt es in mindestens 75 Ländern islamische Banken, die eine Vielzahl von Finanzprodukten anbieten. Auch zwischen den Ländern, deren gesamtes Finanzwesen den Maßgaben des Islam unterliegt, bestehen große Unterschiede, was die praktische Umsetzung dieses Prinzips und die Rahmenbedingungen angeht. Auch kommen die wichtigsten Anregungen und islamischen Rechtsgutachten zu diesen Fragen inzwischen aus muslimischen Gemeinschaften in der Diaspora.

Heute expandieren die Banken vor allem in Bereichen jenseits der traditionellen Geschäftszweige und in Finanzbranchen, die früher als „unislamisch“ galten (etwa Versicherungen – takaful –) oder in den 1970er-Jahren noch gar nicht existierten (Kleinkredite und vor allem Investitionsgeschäfte). Immer populärer werden auch Investmentfonds, die keine unislamischen Aktien enthalten, also Firmen ausschließen, die eine hohe Schuldenlast aufweisen oder moralisch zweifelhaften Geschäften (wie Glücksspiel, Alkoholverkauf und anderen verbotenen Aktivitäten) nachgehen. Daneben gibt es auch ein ebenso gefragtes Angebot von Aktienpaketen, die säkularen Prinzipien wie der „sozialen Nützlichkeit“ genügen. Das islamische Bankwesen wird sich zweifellos noch mit vielen strategischen, wirtschaftlichen, politischen, gesetzlichen und religiösen Problemen auseinander setzen müssen, doch es sieht ganz so aus, als ob diese Finanzinstitute auch weiterhin auf Erfolgskurs bleiben werden.11

dt. Edgar Peinelt

* Forschungsbeauftragter an der Harvard University. Von ihm erschien zuletzt: „Islamic Finance in the Global Economy“, Edinburgh (Edinburgh University Press) 2000.

Fußnoten: 1 www.islamicbanking-finance.com 2 Samuel P. Huntington, „Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert“, München (Goldmann) 1998. 3 Siehe etwa Olivier Roy, „L’Echec de l’Islam politique“, Paris (Seuil) 1992. 4 Edward Mortimer, „Faith and Power: The Politics of Islam“, New York (Random House) 1982. 5 Es ist noch nicht sehr lange her, dass Christentum und Judentum ähnliche Ächtungen des Zinsgeschäfts verfügt haben. Siehe dazu Rodney Wilson, „Christian and Muslim Economic Thought“, New York (New York University Press) 1997. 6 Die Almosenpflicht (zakat) ist eine der „fünf Säulen“ des Islam – die übrigen vier sind: Bekenntnis zum Glauben, tägliches Gebet, Fasten während des Monats Ramadan und (für diejenigen, die es sich leisten können) die Pilgerfahrt nach Mekka. 7 Siehe Georges Corm, „A quand l’ajustement structurel du secteur privé dans le monde arabe?“, Le Monde diplomatique, Dezember 1994. 8 Roula Khalaf, „Dynamism is held back by state control: As family dynasties stifle creativity in most of the industry, the Islamic sector is showing signs of the greatest vibrancy“, Financial Times, 11. April 2000. 9 Ibrahim Warde, „La derive des nouveaux produits financiers“, Le Monde diplomatique, Juni 1994. 10 Yahia Sadowski, „ ,Just‘ a Religion: For the Tabblighi Jama’at, Islam is not totalitarian“, The Brookings Review, Sommer 1996 (Vol. 14, Nr. 3). 11 Siehe Ibrahim Warde, „Islamic Finance in the Global Economy“, Edinburgh (Edinburgh University Press) 2000.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von IBRAHIM WARDE