14.09.2001

Weißrussland setzt auf die KGB-Connection

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Weißrussland setzt auf die KGB-Connection

Von BRUNO DRWESKI *

Als Alexander Lukaschenko nach seiner Wahl zum Präsidenten Weißrusslands im Juni 1994 eine Politik der Integration seines Landes mit Russland verfolgte und zahlreiche Verträge mit seinem östlichen Nachbarn schloss, zeigten sich viele westliche Beobachter amüsiert. Doch inzwischen hat die Union mit Russland eine konkrete Grundlage gewonnen. Obwohl das autokratische Regime Lukaschenkos noch nicht einmal das eigene Land zu stabilisieren vermochte, strebt es zugleich die Neubegründung eines „eurasischen Raumes“ an.

Ende letzten Jahres hatten Russland und Weißrussland mit Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan eine eurasische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Moldawien, das von Kommunisten regiert wird – bei den jüngsten Wahlen erhielt die kommunistische Partei 50 Prozent der Stimmen – bemüht sich um einen Beitritt zur russisch-weißrussischen Union. Armenien arbeitet auf wirtschaftlicher und strategischer Ebene eng mit Moskau zusammen. Auch Usbekistan scheint sein Misstrauen gegenüber Moskau abgelegt zu haben. Und der ukrainische Präsident Leonid Kutschma, der eine Politik des Gleichgewichts zwischen Moskau und der Nato betrieben hatte, sah sich dieses Jahr gezwungen, mehrere Wirtschaftsabkommen mit Russland zu unterzeichnen und dem Verkauf einiger führender ukrainischer Unternehmen an russische Oligarchen zuzustimmen.

Georgien, Aserbaidschan und Turkmenistan, die einzigen Mitglieder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), die einer Annäherung an Russland noch argwöhnisch gegenüberstehen, stecken weit tiefer in der Krise als die übrigen Länder. Selbst im baltischen Litauen gibt es Stimmen, die einen Beitritt zur GUS dem weitaus steinigeren Weg in die Europäische Union vorziehen würden. Der russisch-weißrussische Unionsvertrag hat zwar keine bedeutenden supranationalen Institutionen geschaffen, ist aber doch mehr als eine leere Hülse.

Zehn Jahre nach seiner Unabhängigkeit hat Weißrussland noch keine klare Identität herausgebildet. Das autoritäre Regime ist geprägt von „Sowjetnostalgie“, von der Faszination für einen „Marktsozialismus“ nach chinesischem Vorbild und dem Programm eines „Liberalismus ohne Chaos“. Das Regime ist Ergebnis des Zusammenwirkens einer Reihe von Faktoren: einer Gesellschaft, die Patentlösungen misstraut, einer verkrusteten Nomenklatura, dem Druck des „globalen“ Weltmarktes und der Notwendigkeit, Partner für die ökonomische und strategische Kooperation zu finden.1

Aus dieser Konstellation erklärt sich auch die Wiederannäherung an Russland, die freilich nicht auf eine „Annexion“ hinausläuft, denn Minsk verfolgt eine andere Sozial- und Wirtschaftspolitik als Moskau. Das Bündnis mit Russland basiert zwar auf einer langen historischen Gemeinsamkeit. Doch die hat den spezifischen Charakter Weißrusslands keineswegs ausgelöscht, das aufgrund seiner strategischen Lage auch nicht bloß eine russische Provinz darstellt.

Geschichtlich gehören die Weißrussen, wie die Russen und Ukrainer, dem slawisch-byzantinischen Kulturkreis an. Weißrussland blieb von der langen „tatarischen Nacht“2 verschont, die sich über die Ukraine gelegt hatte und die Geburt des russischen Staates sowie seine Strukturen dauerhaft prägte. Jahrhundertelang stellte Weißrussland das kulturelle und sprachliche Zentrum des Großfürstentums Litauen dar, das durch die Vereinigung mit Polen einen vielsprachigen, multireligiösen Staat bildete, der dem Westen gegenüber offen war. Dank seiner Lage an der Grenze von lateinischer und byzantinischer Welt konnte es sich eine gewisse religiöse bzw. ideologische Offenheit bewahren. Der weißrussische Landadel wurde allmählich polonisiert und bildete nach den Teilungen im 18. Jahrhundert eine Art Schutzschild gegen den Druck der zaristischen Regierung. Gleichwohl hat sich die Bauernschaft der russischen Kultur angenähert, und zwar in dem Maße, wie diese volkstümliche und später revolutionäre Züge herausbildete. Die Russische Revolution fand deshalb in Weißrussland, trotz gleichzeitig aufkommender nationalistischer Strömungen, ein besonders starkes Echo.

Nach einer Periode der politischen Autonomie, des gesellschaftlichen und kulturellen Erwachens in den Zwanzigerjahren, war das stalinistische Regime geprägt durch die Eliminierung eines Großteils der gebildeten Eliten, die Zwangsindustrialisierung und den sozialen Aufstieg der bäuerlichen Massen. Unter dem Terror der deutschen Besatzung entstand eine starke Widerstandsbewegung, die dazu beigetragen hat, den „multinationalen“ Sowjetpatriotismus im Land zu verankern. Diese Entwicklung war auch deshalb so stark, weil die Weißrussische Republik nach dem Krieg Russland auf dem Wirtschaftssektor überholte und sich zu einem führenden Industriezentrum der UdSSR entwickelte.

Nach der Katastrophe von Tschernobyl (etwa 75 Prozent der Emissionen ging auf weißrussisches Territorium nieder), schloss sich Weißrussland der von der Perestroika eingeleiteten Dezentralisierung an und begann, seine nationalen Eigenarten wiederzuentdecken. Die Gesellschaft zeigte jedoch wenig Verständnis für die nationalistischen Forderungen, zumal in einem Land, das eben mit Mühe und Not dem Absturz in Elend und Ungewissheit entkommen war, der Abbau der sozialen Errungenschaften der Sowjetära kaum Begeisterung auslösen konnte.

Ein Blick auf die Geschichte macht klar, wieso die Verschlechterung des Lebensstandards und die breite Unterstützung des Volkes für die Union mit den anderen Nationen der ehemaligen UdSSR dazu beigetragen haben, die antikommunistische Opposition zu schwächen. Nach wie vor will Weißrussland das Bindeglied zwischen der russischen Sphäre und seinen westlichen Nachbarn sein. 1991 konnte das Land diese Funktion nicht weiter ausüben. Schuld daran war die kritische ökonomische Situation nach dem Wegbrechen des „sowjetischen Marktes“, aber auch die Unfähigkeit der westlichen Staaten, mutige, attraktive und für beide Seiten vorteilhafte Perspektiven für eine Kooperation mit den Ländern der Ex-UdSSR anzubieten.

Lukaschenkos chaotische Innenpolitik und das Fehlen eines umfassenden sozialen Programms sind auch deshalb noch nicht auf breiten Protest gestoßen, weil sich die repressiven Methoden des Regimes nur geringfügig von den in den Nachbarstaaten gepflegten unterscheiden. Deutlich ist, dass Präsident Putin über das internationale Image des weißrussischen Regimes nicht glücklich ist. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass das letzte demokratisch gewählte weißrussische Parlament 1996 zwar mit autokratischen Methoden, aber ohne Blutvergießen aufgelöst wurde, was 1993 in Moskau nicht der Fall war. Auch hat Lukaschenko keine Massenrepression angeordnet, wie es Putin ohne größeren Protest in Tschetschenien tat. Andererseits hat der weißrussische Präsident nie gezögert, seine politischen Gegner einzuschüchtern. Die Menschenrechtsorganisationen verweisen auf mehrere oppositionelle Politiker, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden sind.

Die zwischen Putin und Schröder vereinbarte deutsch-russische Partnerschaft, die dem deutschen Kapital den eurasischen Markt öffnen soll, dürfte auch in der gesamten Ex-UdSSR zu einer Reorientierung nach Moskau geführt haben. Durch die Verabschiedung neuer Gesetze hat Russland die Niederlassung deutscher Unternehmen erleichtert, die deutsche Regierung scheint dafür die russische Position bezüglich der geplanten Erdgasleitung von Jamal zu unterstützen; dies würde den Handlungsspielraum der Ukraine gegenüber dem Kreml verringern.

Die Annäherung zwischen Minsk und Moskau stellt nur den ersten Schritt in einem Prozess dar, der unabhängig von den politischen Entwicklungen auch in den meisten Ländern der Ex-UdSSR vonstatten geht. Ein Problem für die russisch-weißrussische Union ist allerdings die unterschiedliche wirtschaftspolitische Strategie, die beide Länder eingeschlagen haben. Alexander Lukaschenko hat sich stets einer groß angelegten Privatisierung widersetzt, die seinen Handlungsspielraum gegenüber westlichen Unternehmen beschneiden und den russischen Oligarchen einen Einflusspielraum eröffnen würden. Insofern sich Weißrussland trotz der Krise noch immer als Industriezentrum der gesamten Ex-UdSSR behauptet, brauchen Alexander Lukaschenko und die hinter ihm stehenden weißrussischen Wirtschaftslobbys sich dem Kreml nicht unterzuordnen. Die Unabhängigkeit ist für Minsk insofern von Vorteil, als es von den Konjunkturschwankungen des benachbarten Riesenstaates abgeschirmt ist.

Durch seine Strategie der Annäherung an Moskau und seine populistische Rhetorik konnte Alexander Lukaschenko den Teil der Wählerschaft ansprechen, die der UdSSR nachtrauert; darüber hinaus wird er von der russisch-orthodoxen Kirche und den Direktoren der staatlichen Unternehmen unterstützt. Beistand erfuhr Lukaschenko nach anfänglichem Zögern auch durch Jelzin und später durch dessen Nachfolger Putin – und dies trotz seines undurchschaubaren Charakters, seiner Unnachgiebigkeit bei Wirtschaftsverhandlungen, der säumigen Zahlungen für Energielieferungen und seiner Weigerung, die russischen Oligarchen am Privatisierungsprozess zu beteiligen. Im Wesentlichen zielt die Annäherung auf eine militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit ab. So hat die Kooperation die Wiederbelebung des militärisch-industriellen Sektors beider Länder und einen gemeinsamen Widerstand gegen die Nato-Osterweiterung ermöglicht. Weißrussland hat eine Fülle von Handelsabkommen mit russischen Unternehmen und russischen Regionen abgeschlossen, die sich oft aus Tauschabkommen entwickelt haben. Weißrussland darf also hoffen, demnächst wieder, wie schon vor 1991, zur „Montagehalle“ der Ex-UdSSR zu werden.3

Die großsprecherische Rhetorik über eine „Union“ mit Russland und Serbien, wie sie Lukaschenko nach dem Nato-Angriff von 1999 geäußert hatte, wurde bereits deutlich vor Milošević’ Sturz eingestellt. Auch dies belegt, dass die Annäherung der beiden Nachbarn auf einer soliden wirtschaftlichen, strategischen und historischen Basis gründet, die von dem Voluntarismus des weißrussischen Präsidenten weitgehend unabhängig ist. Wladimir Putin dürfte lieber mit einem „präsentableren“, weniger eigensinnigen und auf das postsowjetische Tableau fixierten Präsidenten kooperieren, mit einem Partner, der zudem bereitwilliger auf den Druck der „neuen Kapitalisten“ reagieren sollte, die ein Auge auf die Filetstücke der weißrussischen Industrie geworfen haben. Die internen Rangeleien in höchsten Regierungskreisen deuten darauf hin, dass der Kreml versucht, seine Leute im Verwaltungsapparat des Präsidenten zu platzieren, um die „Reformer“ zu unterstützen. Diese Gruppe mit engen Kontakten zum früheren russischen KGB tritt für eine Privatisierung ein, deren größte Nutznießer die russischen Oligarchen wären. Sie steht dabei gegen die „Hardliner“, die an einem Fortbestand des zentralistischen Staates interessiert sind. Wladimir Putin bemüht sich allerdings, eine Machtprobe mit Alexander Lukaschenko zu vermeiden. Dessen Regime scheint zwar die Luft auszugehen, zugleich aber steht er als Garant dafür, dass die Ukraine bei der Versorgung des Westens mit Erdöl und Erdgas umgangen und unter Druck gesetzt werden kann.

Die seit einigen Jahren eingeschlagene Unionspolitik beruht auf der persönlichen Beziehung der beiden Potentaten in Moskau und Minsk. Lukaschenko ist damit allerdings in eine Dynamik hineingeraten, die er nicht mehr völlig im Griff hat. Mit seiner Ablehnung einer groß angelegten Privatisierung hat er dem Land zwar einen eigenständigen Entscheidungsspielraum erhalten, es aber zugleich durch seine Politik des „Handlungsreisenden“ in ein Netz von „eurasischen“ Beziehungen eingebunden. So konnten die weißrussischen Unternehmen ihren angestammten Platz im postsowjetischen Raum häufig zurückerobern, ohne damit freilich die Phase des Zerfalls zu überwinden.

Wie sieht die Zukunft aus? Wird die allgemeine Privatisierung unvermeidlich kommen, obwohl inzwischen das nach 1989 praktizierte Modell des Übergangs zum Kapitalismus einer kritischen Prüfung unterzogen wird? Das würde zweifellos die Position der mit den deutschen Investoren verbündeten russischen Kapitalisten stärken.4 Lukaschenkos Politik ist zwar chaotisch, verrückt und antidemokratisch, aber eben nicht nur das. Sie hat auch eine Phase der Wiedererstehung eines geopolitischen und geoökonomischen Raumes eingeleitet, den man 1991 voreilig beerdigt hatte. Kann dieser Weg in Zukunft mit, trotz oder auch ohne Lukaschenko weiterverfolgt werden?

dt. Matthias Wolf

* Dozent am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco), Autor von „La Biélorussie“, Paris (PUF) 1993.

Fußnoten: 1  Siehe Alexandra Goujon, Jean-Charles Lallemand, Virginie Symaniec (Hg.), „Chroniques sur la Biélorussie contemporaine“, Paris (L’Harmattan) 2001. 2  Gegen Ende des Mittelalters verwüsteten tatarische Heere die Ukraine. Kiew versuchte zwar, seine einstige Macht und seine Rolle bei der Bildung eines russischen Staates wiederzuerlangen, doch ein neuer unabhängiger orthodoxer Staat entstand mit dem Zentrum Moskau. 3  Bruno Drweski, „Biélorussie. Les limites d’un système“, Le courrier des pays de l’Est, Nr. 439, April/Mai 1999. 4  Pierre Hillard, „Les normes politiques et économiques allemandes s’exportent à l’est“, Bastille République Nation, Nr. 6, 8. Juni 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von BRUNO DRWESKI