14.09.2001

Verpasster Frieden

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Verpasster Frieden

Von ALAIN GRESH

DIE Frage der palästinensischen Flüchtlinge ist von zentraler Bedeutung in den israelisch-palästinensischen Beziehungen. Eine umfassende und gerechte Lösung dieses Problems wird entscheidend sein für die Herstellung eines dauerhaften und moralisch vertretbaren Friedens. [. . .] Der Staat Israel erklärt feierlich sein Bedauern über die Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge, ihr Leiden und ihre Verluste; er wird sich bei dem Bemühen, dieses vor 53 begonnene schreckliche Kapitel der Geschichte zu schließen, als aktiver Partner erweisen [. . .]“

Taba, ein kleiner Badeort am Golf von Akaba, Anfang des Jahres 2001. In dieser Enklave von nur einem Quadratkilometer, die 1988 von Israel an Ägypten zurückgegeben wurde, sind nach langem Tauziehen um Formalien Vertreter Israels und der Palästinenser in Klausur gegangen, um die „Rettung des Friedensprozesses“ zu versuchen. Ein Palästinenser liest das Dokument, das seiner Delegation soeben übermittelt worden ist, und er kann kaum glauben, was da steht. „Obwohl der im Entstehen begriffene Staat Israel die Resolution 181 der UN-Vollversammlung vom November 1947 [die den Vorschlag einer Teilung Palästinas in einen jüdischen und arabischen Staat vorsah] akzeptiert hatte, wurde er in das Blutvergießen und den Krieg von 1948/49 verwickelt, der für beide Seiten Leiden und Opfer mit sich brachte, darunter den Verlust von Heimat und Eigentum für jene Teile der palästinensischen Zivilbevölkerung, die zu Flüchtlingen wurden. [. . .] Konsequenz einer gerechten Regelung des Flüchtlingsproblems, in Übereinstimmung mit der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats, muss die Umsetzung der Resolution 194 der UN-Generalversammlung sein. [. . .]“

Der palästinensische Delegierte erinnert sich heute: „Als ich an jenem 23. Januar das Dokument las, war ich gespalten – einerseits Freude über diesen bedeutenden Durchbruch in den Verhandlungen, andererseits Trauer, weil ich überzeugt war, dass er zu spät kam.“ Tatsächlich gesteht Israel in diesem Text erstmals seine Mitverantwortung an der Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge ein und erklärt sich bereit, an einer Lösung des Problems mitzuwirken. Mehr noch: Diese Bemühungen sollen zur Umsetzung jener Resolution 194 vom Dezember 1948 führen, die seit damals in der UN-Vollversammlung jährlich erneuert wurde und in der es heißt: „Allen Flüchtlingen, die dies wünschen, muss so rasch wie möglich Gelegenheit gegeben werden, an ihre Wohnorte zurückzukehren und dort in Frieden mit ihren Nachbarn zu leben.“ Aus diesem israelischen Dokument (siehe Seite 9) wie aus anderen Texten und aus Gesprächen mit Beteiligten wird deutlich, welche Fortschritte in den Monaten der Verhandlungen nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels im Juli 2000 erzielt wurden.

Doch alle Anwesenden in Taba wussten, dass Ehud Barak bei den vorgezogenen Wahlen am 6. Februar keine Chance hatte – nach den Meinungsumfragen lag er über 20 Prozent hinter dem Hardliner Ariel Scharon zurück.

SIEBEN Monate später scheint der Graben zwischen den beiden Völkern tiefer denn je und der Frieden so unerreichbar wie nie. Die Repressionsmaßnahmen gegen die Palästinenser sind beispiellos hart, und täglich wächst die Zahl der Toten und Verletzten, der zerstörten Häuser und verwüsteten Felder. Was von der Autonomie der Palästinenser noch übrig ist, wird durch die Vorstöße der israelischen Armee weiter ausgehöhlt. Am schlimmsten ist die Abriegelung von Städten und Dörfern, die, wenngleich weniger spektakulär als die Raketenangriffe mit F-16-Flugzeugen, die verelendete palästinensische Bevölkerung in ihren Enklaven buchstäblich einsperrt.

Misshandlungen, Folter (sogar an Kindern1 ), Mordanschläge auf Vertreter der Autonomiebehörde und tagtägliche Demütigungen an den israelischen „Kontrollpunkten“ – trotz all dieser Schrecken werden die Palästinenser von der internationalen Gemeinschaft allein gelassen. Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass der Rückhalt, den die Hamas und andere islamistische Gruppen in der palästinensischen Bevölkerung genießen, innerhalb des letzten Jahres nur von 15 auf 25 Prozent gestiegen ist.

Auf der anderen Seite regiert die Angst, genährt durch immer neue Selbstmordattentate. Wer aus dem Haus geht, fürchtet um sein Leben und das seiner Kinder. Wieder einmal fühlen sich die Israelis – trotz aller militärischen Überlegenheit – eingekreist. Wie konnte es so weit kommen, wo man noch Anfang 2001, in Taba, einem Friedensabkommen so nahe war?

Eine große Mehrheit der Israelis teilt die Ansicht, dass Jassir Arafat beim Gipfel in Camp David im Juli 2000 ein „großzügiges Angebot“ Israels zurückgewiesen und damit, wie es Barak formulierte, „sein wahres Gesicht gezeigt“ hat. Dass die Palästinenser nach wie vor Arafat stützen, zeige demnach, dass sie schon immer nur eines im Sinn hatten: Israel zu vernichten.

Gab es wirklich ein „großzügiges Angebot“? Nach welchen Kriterien? Jedenfalls nicht nach denen des Völkerrechts, dessen Bestimmungen von Israel nach wie vor verlangen, sich aus den 1967 besetzten Gebieten zurückzuziehen und dort sämtliche Siedlungen aufzugeben, auch den Siedlungsgürtel um Ostjerusalem. Schon die Formel „großzügiges Angebot“ gibt zu denken. Das ist die Sprache des Siegers, der erwartet, dass der Besiegte sich beugt, worin die Vorstellung steckt, dass der Starke dem Schwachen den Frieden diktieren kann. Über Monate hatten die internationalen Medien nach Kräften versucht, den Palästinensern die Schuld am Scheitern des Gipfels zuzuschieben. Ein Jahr später wissen wir Genaueres über das Treffen in Camp David, und es wird deutlich, wie unredlich das israelische Angebot war.2

Der Staat, den Ministerpräsident Barak den Palästinensern damals zugestehen wollte, hätte nur über eine äußerst eingeschränkte Souveränität verfügt. Die Bevölkerung hätte sich im Alltag weiterhin der Besatzungsmacht fügen müssen. 9,5 Prozent des Westjordanlands sollten annektiert und etwa 10 Prozent – im Jordantal – „langfristig“ an Israel verpachtet werden. Das Westjordanland wäre auf diese Weise praktisch durch zwei große Siedlungsblöcke in drei Teile zerschnitten worden, darüber hinaus sollte ein territorialer Korridor den direkten Zugang von Israel nach Kiriat Arba und ins Zentrum von Hebron sichern. Israel hätte die Kontrolle über die Grenzen Palästinas zu den Nachbarstaaten behalten. In der Flüchtlingsfrage gab es keinerlei Lösungsvorschläge. Immerhin zeigte sich Barak in einem Punkt beweglich: Er war bereit, mit einem unerschütterlichen Grundsatz israelischer Politik zu brechen und erstmals Gespräche über die Teilung des „einen Jerusalem“ anzubieten, das seit 1967 als die „ewige Hauptstadt“ Israels gilt. Die Stadt hätte gemeinsame Hauptstadt beider Staaten werden können, wobei noch offen blieb, wem welche Teile zustehen sollten.

Doch in Camp David kam der Dialog nicht recht in Gang. Barak wollte nicht mit Arafat unter vier Augen verhandeln, und auch der Palästinenserführer misstraute seinem Gesprächspartner. Schließlich hatte Barak ein Jahr lang nichts getan, um die Verhandlungen mit den Palästinensern voranzubringen, und stattdessen eine erfolglose Annäherung an Syrien versucht. Und hatte er nicht die dritte Phase des Truppenrückzugs aus dem Westjordanland, die er einst zugesichert hatte, auf unbestimmte Zeit ausgesetzt? Zudem hatte sich Barak geweigert, drei Ortschaften am Stadtrand von Jerusalem (Abu Dis, Al-Eisaria und Sauwahra) der Autonomiebehörde zu übergeben, obwohl sogar sein Kabinett und das Parlament diese Maßnahme bereits abgesegnet hatten.

Die israelischen Vorschlägen in Camp David offenbaren eine sehr eigenwillige Vorstellung von Frieden und der Auslegung der Osloverträge. Für Israel scheint es selbstverständlich, dass die Rechte der Palästinenser (auf Menschenwürde, bürgerliche Freiheiten, Sicherheit, nationale Unabhängigkeit usw.) hinter den Rechten der Israelis zurückstehen müssen. Die Verträge von Oslo waren bekanntlich keine Vereinbarung zwischen gleichrangigen Partnern mit gleichen Rechten und Pflichten, sondern ein Abkommen zwischen Besatzern und Besetzten. Und seither hat die Besatzungsmacht, mit Rückendeckung der USA, in jeder Phase der Verhandlungen versucht, ihren Standpunkt kompromisslos durchzusetzen. Seit September 1993 sind ein Dutzend Verträge unterzeichnet worden, doch die darin eingegangenen Verpflichtungen hat Israel nur in sehr eingeschränktem Maße und wenn, dann meist nur mit großer Verzögerung erfüllt. „Kein Termin ist sakrosankt“, hatte Jitzhak Rabin einst erklärt. Diese immer neuen Verzögerungen zehrten die Geduld der Palästinenser zunehmend auf.

Trotz allem und gegen alle Wahrscheinlichkeit hat die palästinensische Bevölkerung über Jahre an die Verheißung von Freiheit und Unabhängigkeit geglaubt. Der Einfluss radikaler und islamistischer Gruppierungen blieb lange bescheiden. Doch nun – ein Jahr nach dem Ablauf der „Übergangsperiode“, die in den Osloverträgen für die Autonomiebehörde festgelegt war – haben die israelischen Vorschläge in Camp David deutlich gezeigt, dass Israel nicht daran denkt, die Herrschaft über die Palästinenser aufzugeben. Zumal der Ausbau der Siedlungen unaufhaltsam voranschreitet.

Zweifellos war Barak in Camp David von Arafats ablehnender Haltung überrascht. Da für Barak nicht das Völkerrecht der entscheidende Maßstab war, sondern die Haltung der politischen Klasse in Israel, musste er seine Vorschläge für sehr weitgehend halten und erwarten, dass sich die Palästinenser dem Druck wieder einmal beugen würden. Arafat dagegen war sich über eines im Klaren: Auf Konzessionen hinsichtlich eines Interimsabkommens konnte er sich einlassen, doch die „endgültige Lösung“ musste unbedingt die Vorgaben der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats erfüllen, in der die Beendigung der Besetzung des Westjordanlands, des Gazastreifens und Ostjerusalems gefordert wird.3 Doch in Camp David waren die Israelis offenbar so überzeugt von ihrer Überlegenheit, dass sie dafür kein Verständnis aufbrachten . . .

In Palästina hatte Arafat mit seiner Beharrlichkeit in Grundsatzfragen die gesamte Öffentlichkeit auf seiner Seite. Die Formel „Land gegen Frieden“ wurde hier unzweifelhaft ernst genommen. Der Gipfel war somit partiell gescheitert. Die Verhandlungen gingen weiter, Teilerfolge schienen möglich. Doch die palästinensische Bevölkerung verlor langsam die Geduld. Eine Idee israelischer Wahlkampfstrategen war der Funke, der die Explosion auslöste: der provokative Auftritt Scharons auf dem Tempelberg am 28. September 2000. Ministerpräsident Barak, der in Scharon einen leichtgewichtigeren Rivalen sah als in dessen Konkurrenten Netanjahu, hatte diese Aktion nicht verhindert, weil er hoffte, Scharon könne damit seine Position als Führer des Likud stärken.

Die Palästinenser allerdings begriffen den „Besuch“ Scharons im muslimischen „heiligen Bezirk“ schlicht als Provokation. Obwohl bei den anfänglichen Auseinandersetzungen in Jerusalem von palästinensischer Seite keine Waffen eingesetzt wurden, schlugen die israelischen Sicherheitskräfte zurück. Innerhalb von drei Tagen gab es 30 Tote und rund 5 000 Verletzte. Daraufhin begannen die Palästinenser nach sieben Jahren der Hinhaltung und enttäuschten Hoffnungen eine Volkserhebung, deren Hauptforderung die sofortige Beendigung der Besetzung war.

In Untätigkeit verstrickt

OBWOHL diese Eruption von Israel ausgelöst wurde, trug auch die palästinensische Führung zur chaotischen Entwicklung bei. Die Leiter der Autonomiebehörde, geprägt von Arafats autoritärem Regiment, gelähmt durch die Diadochenkämpfe um seine Nachfolge und verstrickt in ein Netz von Korruption, demonstrierten viele Monate eine fatale Untätigkeit.4 Man erkannte nicht, welche Gefahr ein Wahlsieg Scharons darstellte; erst in letzter Stunde begann man die arabischen Wähler in Israel – die noch unter dem Schock der harten Repressionsmaßnahmen vom Oktober 2000 standen – gegen Scharon zu mobilisieren. Die palästinensische Führung erwies sich als unfähig, ihre Ziele klar zu formulieren, eine Strategie zu entwickeln oder der israelischen Desinformationskampagne nach dem Camp-David-Gipfel mit einer eigenen Informationspolitik entgegenzutreten. Überdies bestärkte sie israelische Befürchtungen, indem sie unbedachte Erklärungen zum „Recht auf Rückkehr“ aller palästinensischen Flüchtlinge abgab und anzweifelte, dass der Tempelberg für die Juden ein geheiligter Ort sei. Arafat war überzeugt, dass bei den Verhandlungen ohnehin die USA die Fäden in der Hand hielten, übersah dabei jedoch einen wichtigen Umstand: Ohne Zustimmung der israelischen Öffentlichkeit kann es keinen Friedensvertrag geben.

Die ernsten Vorwürfe, die man gegen die Autonomiebehörde erheben kann, dürfen nicht dazu dienen, den Palästinensern die Rechte abzusprechen, die die UN-Resolutionen ihnen zusichern. Schließlich hat man 1990 auch nicht gewartet, dass in Kuwait demokratische Verhältnisse einkehren, bevor man die Beendigung der irakischen Besetzung forderte. Henry Siegman, Forschungsbeauftragter beim Council of Foreign Relations, weist darauf hin, dass die Zurückweisung eines israelischen Vorschlags durch Jassir Arafat, selbst wenn man sie für ungerechtfertigt hält, „nicht den von der internationalen Gemeinschaft anerkannten Anspruch der Palästinenser auf das Westjordanland und den Gaza-Streifen aufhebt“.5

Ministerpräsident Barak hatte erklärt, man müsse seine Vorschläge „ganz oder gar nicht“ annehmen. Dennoch musste er seine definitiven „roten Linien“ ein ums andere Mal zurückverlegen und neu ziehen. Wäre er dazu auch ohne den Druck der Intifada bereit gewesen? Ami Ayalon, ehemaliger Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, meint dazu: „Die Palästinenser haben gelernt, dass Israel nur die Sprache der Gewalt versteht.“ Aber die PLO hat auch bewiesen, dass sie sich flexibel verhalten kann, solange die Minimalinteressen ihres Volkes gewahrt bleiben.

Das Treffen in Taba, im Januar 2001, führte zu einer Annäherung zwischen den Palästinensern und den Emissären Baraks, die in früheren Verhandlungen nie erreicht worden war. In ihrer gemeinsamen Abschlusserklärung vom 27. Januar 2001 versichern beide Seiten, man sei einem Friedensvertrag noch nie so nahe gewesen. Und die in Taba erarbeiteten Dokumente zu den vier entscheidenden Bereichen (Territorium, Jerusalem, Sicherheit, Flüchtlinge) sowie die Äußerungen prominenter Verhandlungsteilnehmer6 bestätigen diese Aussage.

Die beiden Seiten hatten sich vor allem darauf geeinigt, dass – in Übereinstimmung mit der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats – als Grundlage für die endgültige Festlegung der Grenzen die Waffenstillstandslinien vom 4. Juni 1967 dienen sollten und Israel für jede Annexion palästinensischen Territoriums Entschädigung leisten würde. Nach dem Vorschlag der israelischen Delegation sollten 94 Prozent7 des Westjordanlands zurückgegeben werden (ein Territorium, auf dem 20 Prozent der jüdischen Siedler leben). Um die „fehlenden“ 6 Prozent auszugleichen, sollte das Äquivalent von 3 Prozent an israelischem Territorium abgetreten werden; die restlichen 3 Prozent sollten mit dem „sicheren Korridor“ zwischen dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen abgegolten werden, der aber nicht palästinensischer Souveränität unterstehen sollte. Israel verzichtete damit – gemessen an seinen Camp-David-Vorschlägen, auf das Jordantal, auf Schilo, den Ostteil von Ariel und auf einige isoliert gelegene Ansiedlungen wie Kedumim und Beit El, sowie auf ein Gebiet im Norden der Siedlung Modim (in dem 50 000 Palästinenser lebten). Überdies war man sich einig über den Abzug der Siedler aus dem Stadtzentrum von Hebron und die Auflösung der Siedlung Kiriat Arba.

Die palästinensische Delegation bestand allerdings auf einer „hundertprozentigen“ Rückgabe des Territoriums, und zwar mit folgender Begründung; „In einem Gefängnis sind 95 Prozent des Raums für die Gefangenen gedacht – Zellen, Aufenthaltsräume, Sporthalle, Krankenstation usw. Aber den Wärtern genügen die übrigen 5 Prozent, um die Gefangenen unter Kontrolle zu halten.“8 Man war bereit, im Austausch gegen gleichwertiges Territorium auf 2 Prozent des Westjordanlands zu verzichten (Gebiete in denen etwa 65 Prozent der Siedler leben), aber Israel bot dafür nur ein paar Sanddünen bei Helutza in der Negevwüste. Beide Seiten wollten die Vereinbarung rasch umsetzen – die Palästinenser dachten an achtzehn Monate, Israel an drei Jahre.

Jerusalem sollte ungeteilt bleiben und die gemeinsame Hauptstadt beider Staaten werden. Jossi Sarid, Vorsitzender der linken Meretz-Partei, der auch in Camp David dabei gewesen war, meint dazu: „Wir waren uns über die Grundzüge der Aufteilung einig, und zwar im Rahmen des Clinton-Plans9 . Wir sollten die jüdischen Viertel erhalten, die arabischen Viertel sollten an die Palästinenser gehen.“ Während die Palästinenser die Souveränität über den heiligen Bezirk (Haram asch-Scharif) der Moscheen forderten, der auf dem Tempelberg liegt, wollten die Israelis die Hoheitsrechte an dessen ganzer westlicher Flanke (wo sich die Klagemauer befindet). Verschiedene Vorschläge wurden geprüft, darunter auch die Idee, den gesamten Komplex für eine befristete Zeit unter die Oberhoheit des UN-Sicherheitsrats und Marokkos zu stellen.

Auch bei den Sicherheitsfragen gab es eine Annäherung der Standpunkte: Die Palästinenser stimmten einer Rüstungskontrolle in ihrem Staat zu und unter bestimmten Bedingungen auch der Einrichtung israelischer Frühwarnstationen am Jordan. Mit der Stationierung einer internationalen Beobachtertruppe an den Grenzen waren beide Seiten einverstanden.

Als besonders heikles Problem erwies sich erneut das Schicksal der 3,7 Millionen palästinensischen Flüchtlinge, die verstreut in Jordanien, Syrien, dem Libanon und den Autonomiegebieten leben. Über diese Frage hatte es nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels mehrfach polemische Auseinandersetzungen gegeben. Der französische Korrespondent Charles Enderlin meint dazu: „ . . . die Palästinenser hätten diese historische Forderung der PLO nur dann zurücknehmen können, wenn sie dafür einen lebensfähigen Palästinenserstaat, mehr oder weniger das ganze Westjordanland und den Gaza-Streifen, sowie den arabischen Teil Jerusalems als Hauptstadt erhalten hätten.“10

Die Verhandlungen in Taba bestätigen seine Einschätzung. Man war sich einig, dass eine gerechte Lösung nach Maßgabe der UN-Resolution 242 zur Umsetzung der Resolution 184 der UN-Vollversammlung führen müsse, und hatte auf dieser Grundlage konkrete Lösungsvorschläge erarbeitet. Den Flüchtlingen sollten fünf Alternativen angeboten werden: Rückkehr nach Israel, Rückkehr in an die Palästinenser abgetretene israelische Gebiete, Rückkehr in den Palästinenserstaat, endgültige Ansiedlung am derzeitigen Wohnort (Jordanien, Syrien usw.), sowie Ausreise in ein anderes Land (einige Staaten, darunter Kanada, signalisierten ihre Bereitschaft, größere Kontingente palästinensischer Einwanderer aufzunehmen). Die Vertreter der palästinensischen Seite bestanden auf dem freien Entscheidungsrecht der Palästinenser, machten aber zugleich deutlich, dass sie den jüdischen Charakter des Staates Israel nicht in Frage stellen wollten. Diese Zusicherung war bereits 1988 bei der Unabhängigkeitserklärung gegeben worden.

Nach Aussage von Jossi Sarid hatte die palästinensische Seite sogar zugestanden, dass „die letzte Entscheidung über die Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel bei den israelischen Stellen liegt“. Israel erklärte sich bereit, zusätzlich zu den „Familienzusammenführungen“ weitere 40 000 Rückkehrer innerhalb von fünf Jahren aufzunehmen. Den Palästinensern jedoch erschien jedes Angebot unterhalb von 100 000 Flüchtlingen inakzeptabel. Wie der palästinensische Informationsminister Jassir Abed Rabbo berichtet, war die Einigung über diese Zahl tatsächlich die letzte Hürde vor einer Vereinbarung. Beide Seiten waren sich auch einig darüber, dass die Hilfe für die Flüchtlinge im Libanon oberste Priorität hatte. Im dem bereits zitierten israelischen Dokument heißt es sogar: „Der Staat Israel erkennt seine moralische Verpflichtung an, an einer baldigen Lösung für die schwierige Lage der Flüchtlinge in den Lagern Sabra und Schatila mitzuwirken.“

Geplant war auch die unverzügliche Einrichtung eines internationalen Hilfsfonds und einer internationalen Kommission, um die Entschädigung der Flüchtlinge in die Wege zu leiten. Zudem einigte man sich darauf, dass die Frage der Entschädigung jener Juden, die aus arabischen Ländern nach Israel ausgewandert waren, nicht Gegenstand dieser bilateraler Verhandlungen sein solle.11

Doch bei allen Fortschritten wussten beide Seiten, dass die Zeit abgelaufen war: die israelischen Wahlen waren bereits entschieden. „Hätten die Wahlen erst im Mai stattgefunden, wären wir innerhalb von zwei oder drei Wochen zur Unterzeichnung gekommen“, meint Jassir Abed Rabbo. Jeder wusste, dass nach einer zu erwartenden Wahlniederlage Baraks alle Vereinbarungen, die man in Taba treffen konnte, zurückgenommen werden würden. Nach Abed Rabbo fehlte zudem die Zeit, einen Vertrag auszuarbeiten, „und eine bloße gemeinsame Erklärung hätte nichts bedeutet – ein solcher Text hätte keinen verbindlichen Charakter besessen“.

Zudem hatte die palästinensische Seite das Problem, wie man der eigenen Öffentlichkeit die neuerliche Konzession verkaufen sollte, die ja ohne konkrete Gegenleistung bleiben würde, wenn sich der neue Ministerpräsident Scharon an eine einfache Erklärung nicht gebunden fühlen würde. Auch die Idee, ein Gipfeltreffen zwischen Arafat und Barak unter dem Motto „Die letzte Friedenschance“ anzuberaumen, wurde nach kurzer Erwägung verworfen.

Damit der Ertrag der vorangegangenen Monate nicht völlig verloren ging, beauftragten beide Seiten den Sondergesandten der EU, Miguel Angel Moratinos, der die Verhandlungen verfolgt hatte, mit einem Schlussbericht – zweifellos für die Archive der Historiker, aber auch im Hinblick auf einen möglichen zukünftigen Verhandlungstisch.

Was die aktuelle Lage betrifft, so muss es heute zwar vor allem darum gehen, die palästinensische Bevölkerung zu schützen, was vorerst nur zivile internationale Missionen leisten können. Doch letztlich kann allein eine politische Lösung aus dem tödlichen Kreislauf herausführen. Daran haben Anfang Juli in einer mutigen gemeinsamen Erklärung Persönlichkeiten aus beiden Lagern erinnert: palästinensische Minister (Jassir Abed Rabbo, Nabil Amr, Hischam Abdul Razzek) und Intellektuelle (Hanan Aschrawi, Sari Nuseibeh, Salim Tamari) wie auch der frühere israelische Justizminister Jossi Beilin und israelische Schriftsteller (Amos Oz, A. B. Yehoshuah, David Grossman).

In dieser Erklärung heißt es: „Wir, Israelis und Palästinenser, kommen in einer für unsere beiden Völker äußerst schwierigen Situation zusammen, um ein Ende des Blutvergießens, das Ende der Besetzung und die unverzügliche Wiederaufnahme von Verhandlung und Friedensbemühungen zu fordern. [. . .] Den Konflikt zwischen unseren Völkern durch Verhandlungen zu lösen ist möglich. [. . .] Um Fortschritte zu erzielen müssen das internationale Recht und die Anwendung der Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats akzeptiert werden. Auf diese Weise kann eine Lösung gefunden werden, die ausgehend von den Grenzen von 1967 zwei Staaten ermöglicht, die nebeneinander bestehen und deren gemeinsame Hauptstadt Jerusalem ist.“

Die einzige andere Option ist, wie alle wissen, ein wahrer Albtraum: die fortgesetzte Eskalation, die in eine regionale Auseinandersetzung münden muss, und ein Krieg, der nur Verlierer kennen würde.

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Siehe dazu die Recherchen von Joseph Algazi, in Ha’aretz und in der International Herald Tribune (Paris) vom 20. August 2001. 2 Im Unterschied zu den Palästinensern ließ die israelische Delegation während des Gipfels immer wieder gezielt Informationen an die Medienvertreter durchsickern. Als sie am Ende eine Art offizielle Version vom Verlauf des Gipfels in die Welt setzten, wurde diese zunächst von den israelischen, später von den meisten westlichen Medien übernommen. Siehe Aluf Benn, „The Selling of a Summit“, Ha’aretz vom 26. Juli 2001. Erst nach einem Jahr veröffentlichten die Palästinenser ihre Sicht der Dinge in einem sehr detaillierten Bericht, der wesentlich plausibler scheint als die Version vom „großzügigen Angebot“. Siehe dazu Akiva Eldar, „What Went Wrong at Camp David : The Official PLO Version“, Ha’aretz vom 24. Juli 2001. 3 Palestine Report, 1. Februar 2001, www.jmcc.org. 4 Die schärfste Kritik aus dem eigenen Lager stammt von Yezid Sayigh, einem in London lebenden palästinensischen Intellektuellen, der auch als Berater der palästinenischen Delegation bei den offenen Friedensverhandlungen in Madrid (Oktober 1991) tätig war. Siehe „Arafat and the Anatomy of a Revolt“, Survival, London (The International Institute for Strategic Studies), Bd. 43, Nr. 3, Herbst 2001. 5 Henry Siegman, „Middle East Conflict: Seek Palestinian Confidence in What?“, International Herald Tribune vom 17. Juli 2001. 6 Geführt wurde die Delegation vom Präsidenten des palästinensischen Legislativrats, Abu Ala’, und vom israelischen Außenminister Schlomo Ben-Ami. Die Delegationsmitglieder waren auf palästinensischer Seite Nabil Chaath, Saeb Erakat, Jassir Abed Rabbo, Hassan Asfur, Mohamed Dahlan, und auf israelischer Seite Yossi Beilin, Amnon Lipkin-Schahak, Gilad Scher, Israel Hassun und Jossi Sarid. 7 Über diese Prozentzahlen lässt sich allerdings streiten. Darin sind weder die 72 Quadratkilometer von Ostjerusalem (1,3 Prozent des Westjordanlands) enthalten, noch die ebenfalls von Israel annektierte entmilitarisierte Zone (vor allem im Gebiet von Latrun), die 1,8 Prozent des Westjordanlands ausmacht. 8 Akiva Eldar, „What Went Wrong ...“, (Anmerkung 2). 9 Der Clinton-Plan ist die Zusammenfassung der Vorschläge, die der damalige US-Präsident am 23. Dezember 2000 zu den wichtigsten Fragen des Verhältnisses von Israelis und Palästinensern gemacht hat. Der vollständige Text ist im Nahostdossier auf der website von Le Monde diplomatique nachzulesen: www.monde-diplomatique.fr/cahier/proche-orient/. 10 Libération vom 26. Februar 2001. Enderlin hat im Laufe der Zeit mit allen prominenten Teilnehmern der Verhandlungen gesprochen, unter der Auflage, dass ihre Mitteilungen nicht vor Ende 2001 publiziert werden dürfen. 11 Israel und Ägypten gelang es nach dem Friedensvertrag nicht, dieses Problem zu regeln.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von ALAIN GRESH