Cuba libre – unterdosiert
Von FRANÇOISE BARTHELEMY *
Am Rand des historischen Stadtkerns von Matanzas, dem ehemaligen Zentrum der kubanischen Zuckerindustrie, steht die Casa de la Cultura Bonifacio Byrne, ein trotz sichtlichen Verfalls immer noch eindrucksvolles Gebäude. Es fehlt an Möbeln, weshalb die wenigen vorhandenen Stühle für den Musikunterricht erst aus dem Patio mit einem Seil in den ersten Stock gehievt werden müssen. Hier erlernen die Schüler, die in Grund- und weiterführenden Schulen eigens dafür ausgewählt wurden, die unterschiedlichsten Instrumente: Laute und Kontrabass, Bongo und das aus einem Kürbis bestehende Rhythmusinstrument Güiro. „Unser regionales Kulturzentrum wurde 1991 eröffnet, fing seine Arbeit also genau mit dem so genannten Ausnahmezustand in Friedenszeiten an. Der war die Konsequenz aus dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers“, erklärt die quirlige Ileana Barrera mit Stolz in der Stimme.
Vor dem Zerfall des Ostblocks wickelte Kuba 85 Prozent seines Außenhandels mit den sozialistischen Ländern ab, 70 Prozent davon allein mit der UdSSR, nach deren Zusammenbruch die US-Handelsblockade gegen Havanna erst voll spürbar wurde. Die Insel stürzte in die schwerste Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Die Jahre 1990 bis 1994 waren die schlimmsten: Das Bruttoinlandsprodukt ging um fast 38 Prozent zurück, was die Bevölkerung bitter zu spüren bekam.
Als wollte sie an die glücklichen Tage von einst anknüpfen, rappelt sich die Insel nun langsam wieder auf. Ileana Barrara ist studierte Historikerin und Sprecherin der Folkloregruppe Afro-Cuba. Sie sorgt für die Verbindung zwischen dem schulischen und dem künstlerischen Bereich. „Dies ist ein offenes Haus, für Jung und Alt. Wir haben 50 Mitarbeiter“, erklärt sie. „Ende letzten Jahres beschlossen Fidel und der Kultusminister Abel Prieto, insgesamt fünfzehn solcher Institute im ganzen Land zu gründen, in denen tausende von Kunst- und Musiklehrern ausgebildet werden sollen. Sie erhalten fünf Jahre lang speziellen Unterricht in Tanz, Theater und Musik und bekommen eine umfassende Ausbildung. Auch für die bildenden Künste existiert jetzt in jeder Provinz eine solche Schule.“
Die ersten künstlerischen Ausbildungszentren waren 1960 entstanden. Bis Mitte der Achtzigerjahre funktionierten sie ganz gut. Ihr Niedergang setzte ein, als die Absolventen begannen, ihre Chancen auf eine lukrativere Karriere wahrzunehmen. Als dann Anfang der Neunzigerjahre der Tourismus zum neuen Motor der gesamten kubanischen Wirtschaft wurde, setzte sich dieser Karrieretrend, der allgemein immer stärker wurde, auch bei Lehrern, Ingenieuren und Ärzten durch. Denn dank dem Tourismus bildeten sich immer deutlicher zwei parallele Währungssysteme heraus: Für Ausländer und privilegierte Kubaner gab es den Dollarmarkt, während für die große Mehrheit der „durchschnittlichen“ Kubaner weiterhin der Peso galt.
Die Konfrontation mit dem Marktwert von Gütern war besonders für die idealistisch gesinnten Genossen eine schmerzhafte Erfahrung. „Bis 1990 waren unsere Bücher Kunstgegenstände, die wir in einer Auflage von 200 Stück selbst hergestellt und hauptsächlich verschenkt haben“, seufzt Agustina Ponce, die Leiterin des Vigía-Verlags. „1990 mussten wir uns auf die Logik des Marktes einlassen. Das war schmerzlich und entsprach auch nicht unseren Ideen bei der Verlagsgründung.“
Agustina Ponce, die 1958 geboren wurde und deren Eltern in der kubanischen Revolution mitgekämpft haben, ist selbst Mitglied der Kommunistischen Partei Kubas (PCC). Ganz allmählich hat auch sie den Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft hinter sich gebracht. Heute verkauft der Vigía-Verlag einen Großteil seiner Produkte gegen Dollars, um mit den Devisen die notwendigen Rohstoffe erstehen zu können, vor allem Recyclingpapier. „Zum Glück bekommen wir auch Spenden aus den USA, Kanada, Frankreich, Spanien oder von kubanischen Freunden, die hier oder anderswo leben, häufig auch Farben, Pinsel, Krepp, Tinte und anderes“, fügt Agustina Ponce hinzu.
Im Jahr 1989 produzierte das staatliche Verlagswesen über 4 000 Bücher, womit die ganze Branche inklusive der Schulbücher auf insgesamt 50 bis 60 Millionen gedruckter Exemplare kam. Allerdings sind Kubanerinnen und Kubaner solch leidenschaftliche Leser, dass die Nachfrage trotzdem nie gesättigt war. In den Jahren 1993 bis 1994, als alle gängigen Konsumgüter knapp wurden und täglich für bis zu acht Stunden der Strom ausfiel, ging die Buchproduktion schlagartig auf das Niveau von 1959 zurück. „Viele dachten, das ist das Ende“, erregt sich der Dichter und Essayist Roberto Fernández Retamar, der die Zeitschrift Casa de las Américas leitet und 1989 mit dem nationalen Literaturpreis ausgezeichnet wurde. „Ich bin 70 Jahre alt. Die Zeitschrift, das ist mein Leben. Ich war nicht ,mit im Boot‘, sondern ich war selbst das Boot. Na, und wir haben es geschafft, die Krise zu überwinden. Diese Leistung hat vor allem die Bevölkerung erbracht, nicht allein die Regierung. Schließlich sind wir auch in geistiger Hinsicht eine große Bürde losgeworden. Die Beziehungen zum Comecon1 waren nämlich nicht nur ökonomischer Natur, sondern hatten auch kulturelle Auswirkungen. Zwischen 1971 und 1976, in der Zeit nach Che Guevaras Tod, war die Revolution eindeutig sektiererisch geworden. Damals wurde sogar ein Schriftsteller wie José Lezama Lima verteufelt! Diesen Kurs hatten wir zwar schon seit längerem wieder aufgegeben, aber erst dadurch, dass wir plötzlich ganz auf uns selbst gestellt waren, sind wir völlig frei geworden. Bücher in einem derartigen Umfang zu subventionieren, wie das bei uns gemacht wurde – das konnte auf Dauer nicht gut gehen.“
Kuba hat eigene Wege gefunden, um zu überleben und seine Wirtschaft sogar wieder anzukurbeln – und zwar ohne sich den Strukturanpassungsprogrammen beugen zu müssen, die so vielen anderen Staaten aufgezwungen wurden, und ohne den eigenen Wirtschaftsraum zu öffnen und damit zu riskieren, dass der heimische Markt von den Gütern des mächtigen Nachbarlandes überschwemmt wurde. Obwohl die vielen Entbehrungen, mit denen die Bevölkerung leben muss, bislang lediglich gelindert und noch nicht beseitigt werden konnten, ist das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2000 um 5,6 Prozent angestiegen und liegt somit nur noch geringfügig unter dem guten Wachstumsresultat des Vorjahres von 6,2 Prozent.2
Mit der allgemeinen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage kann sich auch das Verlagswesen langsam erholen. Dennoch brachte der Verlag Letras Cubanas, ein wichtiger Belletristik- und Sachbuchverlag, im Jahr 2000 immer noch lediglich 78 Titel heraus. Anders der José-Marti-Verlag, der lange Zeit auf politische Literatur und das Werk von José Marti3 spezialisiert war. Er erlebte 1992 zunächst einen regelrechten Absturz. Das Verlagsprogramm schrumpfte von durchschnittlich knapp 130 Titeln jährlich auf ganze 20 Titel zusammen. Inzwischen hat sich das Verlagsprogramm durchgehend gewandelt. „Die Notlage hat uns die Augen geöffnet“, sagt Cecilia Infante, die den Martí-Verlag seit 1993 leitet. „Wir machen jetzt verstärkt Koproduktionen mit ausländischen Verlagen, vor allem mit Partnern aus Europa und Lateinamerika. Wir publizieren viel mehr Literatur, Dichtung, Kurzgeschichten und Romane. Heute werden alle unsere Bücher gegen Dollar verkauft, ob auf dem Binnenmarkt oder im Exportgeschäft. Und wir freuen uns einfach, wenn wir Touristen mit unserem hervorragenden Reiseführer ‚Lernen Sie Kuba kennen‘ unter dem Arm abreisen sehen oder mit dem Buch über die berühmte Kaffeesorte Bodeguita del Medio.“
Den Optimismus können die beiden Studenten, die im Zentrum von Havanna auf den Stufen vor dem Capitol sitzen, nicht teilen: Iván wollte seiner Freundin zum Geburtstag „Das Geisterhaus“ von Isabel Allende schenken. Er konnte das Buch zwar bestellen, aber kaufen konnte er es letztlich nicht – es kostete unerschwingliche 15 Dollar.
Die ersten Dollarbuchhandlungen entstanden vor nunmehr fünf Jahren. In den letzten zwei Jahren hat ihre Anzahl erheblich zugenommen. „In der Moderna Poesía beispielsweise findest du die besten Bücher aus den besten Verlagshäusern“, sagt Ada. „Manchmal gibt es innerhalb ein und desselben Buchladens eine Abteilung für Peso-Einkäufe und eine für ‚harte Währung‘. Dort ist alles viel attraktiver: von der Papierqualität über den Druck bis hin zu Autoren und Themen. Für Pesos dagegen musst du dich mit alten Schwarten im Stil von ‚Fidel und die Religion: Gespräche mit Frei Betto‘4 zufrieden geben oder mit den Klassikern des Marxismus und dem Gesamtwerk von José Marti. Es ist zum Wahnsinnigwerden.“
Direkt hinter dem Capitol beginnt das belebte Altstadtviertel Habana Vieja. Dort gibt es verschiedene hübsche Plätze, Kirchen, Paseos, alte Befestigungsmauern, Paläste, verzierte Türen und Fenster, aber auch Fassaden in allen möglichen Stilen. An der Plaza de Armas liegt das Instituto del Libro. „Die kubanische Bevölkerung, aber vor allem unsere Jugend liest erheblich weniger als früher“, bedauert der Dichter Adel Morales, Vizepräsident des Instituts und Direktor der Zeitschrift La Letra del Escriba. „Eine ganze Generation ist mit Bücherknappheit groß geworden. Das aufzuholen wird seine Zeit dauern. In diesen zehn Jahren sind die Leute nicht nur in sparsamer, sondern auch in kultureller Hinsicht ärmer geworden. Nur Autoren haben wir in Hülle und Fülle.“
Anders als auf den benachbarten Karibikinseln oder in Mittel- und Südamerika gehört Kultur auf Kuba zum Alltag. Hier wird eine Filmpremiere zum Massenereignis, die Menschen gehen viel ins Theater, und auch in den Medien wird über die kulturellen Angebote gut informiert. Das gilt erst recht für die Musik, die für die Kubaner einfach zum Leben dazugehört.
„Bücher spielten bei uns bis 1990 eine sehr wichtige Rolle. Mit der Krise kam es zu einem harten Bruch in der Beziehung zwischen Autor und Leser“, erklärt der Schriftsteller Leonardo Padura Fuentes5 in seinem Haus in Mantillas, einem Vorort von Havanna. „Aber letztendlich war die Krise ein Segen. Dadurch konnte zum ersten Mal seit dem Sieg der Revolution eine gewisse Distanz zwischen Schriftstellern und Staatsapparat entstehen. Als die Verlage völlig darniederlagen, mussten sich die Autoren wohl oder übel nach anderen Möglichkeiten umschauen, um ihre Werke zu veröffentlichen. So gewannen die Schriftsteller ein Stückchen Freiheit, indem sie sich im Ausland einen Platz eroberten. In Frankreich beispielsweise gab es 1988 überhaupt nur zwei Namen, die für die gesamte kubanische Literatur standen: Severo Sarduy und Guillermo Cabrera Infante6 . Heute ist die Palette viel breiter und umfasst sowohl Schriftsteller, die auf Kuba leben, als auch im Ausland ansässigen Autoren. Dies gilt im Übrigen ganz allgemein für Kunst und Kultur. Die strikte Einteilung in Insel- und Exilkubaner war ohnehin ins Absurde übersteigert worden. Auf der politischen Ebene ist es freilich nach wie vor sehr schwierig, gewisse Debatten auszutragen, die im kulturellen Bereich aber durchaus geführt werden. Die jüngsten Entwicklungen sind von zwei Phänomenen geprägt: Zum einen ist heute allgemein anerkannt, dass es ,die kubanische Literatur‘ als solche gibt, unabhängig davon, welche politischen Positionen die einzelnen Autoren vertreten oder wo sie leben. Und zweitens hat der Staat die direkte Kontrolle über die Ergebnisse des Schaffensprozesses verloren.“
In den ersten zwanzig Jahren nach der Revolution hatte die kubanische Kulturpolitik Schriftsteller und Künstler auf den Weg des „sozialistischen Realismus“ eingeschworen. Doch als sich das Land vor nunmehr zehn Jahren in den Worten des Schriftstellers Reynaldo González „nackt im Spiegel sah, also so, wie es wirklich ist“, kamen lange tabuisierte Themen wieder an die Oberfläche. So durfte das Exil wieder als menschliche Tragödie behandelt werden und nicht mehr nur als rein politische Frage, und die Bücher konnten sich auch wieder mit sozialen Randgruppen, mit Rassismus, Kriminalität, Korruption und Homosexualität beschäftigen.
Weder Autoren noch Themen sind also tabu, wobei es eine einzige wichtigen Ausnahme gibt: Am Regime, seiner Entwicklung und seinen Würdenträgern, angefangen bei Fidel Castro, darf keinerlei Kritik geübt werden; und unabhängige Medien gibt es in Kuba natürlich ebenfalls nicht. Der neue Freiraum zeigte sich auch bei der letzten Feria del Libro im April 2001 mit ihren 200 000 Besuchern, 1 400 vorgestellten Titeln und 500 000 verkauften Büchern. Der Dramaturg und Romancier Antón Arrufat, der in den Sechzigerjahren wegen seines Theaterstücks „Siete contra Tebas“ („Sieben gegen Theben“) politisch isoliert war, wurde nun von allen Seiten gelobt. Der große Dichter Gastòn Baquero (1914–1997), der auf Grund seiner politischen Einstellung und seiner Entscheidung, die Insel zu verlassen, über Jahrzehnte einfach ignoriert worden war, wird nun endlich von kubanischen Verlagshäusern verlegt und damit sozusagen nachträglich rehabilitiert.
Viele Beobachter halten es dem heutigen Kultusminister Abel Prieto zugute, frischen Wind in die Institutionen gebracht und die Umbrüche in der staatlichen Kulturpolitik vorangetrieben zu haben.7 „Nachdem wir feststellen mussten, dass das Bildungsniveau unserer Bevölkerung mit dem kulturellen Niveau und den damit verbundenen ethischen Werten nicht mehr recht mithalten kann, haben wir ein Programm zur ,Massifizierung‘ der Kultur eingeführt“, erzählt der Minister. „Ich weiß, das Wort klingt furchtbar. Im Grunde geht es aber um Maßnahmen, die die Allgemeinbildung umfassend fördern sollen: Fernsehprogramme mit dem Titel ,Universität für alle‘, in denen verschiedenste Fächer unterrichtet werden, von Fremdsprachen über Geografie, spanische Grammatik, Landesgeschichte und Weltgeschichte bis hin zu vergleichenden Religionswissenschaften.“ Diese Sendungen werden frühmorgens ein erstes Mal ausgestrahlt und im Laufe des Tages wiederholt, sodass möglichst viele Menschen sie sehen können. „Hinzu kommen Maßnahmen vor Ort, wie zum Beispiel die Ausbildung von Kunst- und Musiklehrern sowie Kulturarbeit auf Gemeindeebene. Kultur ist derzeit der Dreh- und Angelpunkt für die soziale Entwicklung unseres Landes.“
In Vista Alegre, einem grünen Stadtviertel von Santiago de Cuba befindet sich die renommierte Casa del Caribe, die von dem Intellektuellen und Schriftsteller Joël James Figarola geleitet wird.8 Figarola ist zugleich Mitglied im Nationalen Rat der kubanischen Schriftsteller- und Künstlervereinigung UNEAC. Dieser Rat trifft halbjährlich mit Fidel Castro zusammen.
Beim letzten Treffen ging es um das Anwachsen der sozialen Randgruppen und die Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken. Die Marginalisierung von immer mehr Kubanerinnen und Kubanern ist nicht nur auf Arbeitslosigkeit und Armut zurückzuführen, sondern vor allem auf die Perspektivlosigkeit, die viele Jugendliche empfinden. Figarola ist der Ansicht, man müsse der Marginalisierung mit der Stärkung genau jener Werte entgegengewirken, die für die Randgruppen so wichtig sind: Mut und Freundschaft, Respekt für die Familie und vor allem die Mutter, sowie magisch-religiöse Wertvorstellungen, die jedoch weniger mit einfachem Glauben als mit dem Kult der Schönheit und des Lebens zu tun haben. Und schließlich käme es – wie die Künstlerin Caridad Ramos hinzufügen würde – auf praktizierte Solidarität an.
Die hoch begabte Bildhauerin Caridad Ramos hat mit ihren 45 Jahren bereits ein beachtliches Werk geschaffen. In ihrer letzten Ausstellung mit den Titel „Ambivalencias“, die im Mai 2001 gezeigt wurde, setzt sie sich mit der männlichen Vormachtstellung in einer Gesellschaft auseinander, die „immer schon von den Männern beherrscht wurde“, mit der Doppelmoral und der Einsamkeit von Frauen auf der Suche nach einer selbstbestimmten Sexualität. Die Bildhauerin stammt aus einer armen Bauernfamilie, die ihr nach ihrer Erinnerung viel gegeben hat: „Das wenige, was wir hatten, mussten wir miteinander teilen. Solidarität war für uns lebenswichtig. Erst durch die Revolution bekam ich eine Chance, die meine Mutter niemals hatte: Ich konnte studieren.“
Caridad Ramos arbeitet im Projekt „Golondrina“ (Schwalbe) mit, das 1995 entstanden ist. Es vereint unter seinem Dach etwa 85 Menschen aller Altersstufen, die in verschiedenen Ateliers und Studios Musik machen, malen und bildhauern, Theater und Puppentheater spielen. Sie alle werden von sieben Kunst- und Musiklehrern betreut. Das Projekt ist zwar materiell alles andere als gut ausgestattet, dennoch sind die Teilnehmer wirklich begeistert. Innovative Arbeiten haben hier ebenso ihren Platz wie die Tradition. Die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei zwar eine sehr harte Zeit gewesen, meint Caridad Ramos, „aber sie hat uns doch weiter geholfen. Denn in dem Verhältnis zur UdSSR hatten wir keine Luft zum Atmen. Wir hingen eben am Tropf, lebten in Abhängigkeit. Zu viel Fürsorge kann schnell erdrückend werden. Man wird träge.“
Noch weiter geht Alfredo Guevara, der das Festival des neuen lateinamerikanischen Films organisiert und für das intellektuelle wie kulturelle Leben der Insel eine wichtige Figur ist. Für ihn hat der Zusammenbruch der UdSSR mit seinen zunächst furchtbaren Auswirkungen auch einen neuen Weg gewiesen und Möglichkeiten eröffnet, die Welt neu zu denken und Kuba in ihr einen neuen Platz zuzuweisen. „Die größte Leistung der kubanischen Revolution war vermutlich gar nicht der Guerillakrieg oder ihr schließlicher Sieg, sondern die Tatsache, dass sie es geschafft hat, innerhalb eines einzigen Jahres einen alternativen Entwicklungsplan für das Land auszuarbeiten. Natürlich gab es mit den Bereichen Biologie, Informatik und Tourismus schon gewisse Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren konnte. Der Rückgriff auf den Tourismus ist zugegebenermaßen nicht besonders originell für ein Entwicklungsland. Aber wir haben immerhin dafür gesorgt, dass der Tourismusboom – der ja eine durchaus problematische Form der wirtschaftlichen Öffnung darstellt – kontrolliert und schrittweise vonstatten ging. In der Vergangenheit hat unsere kleine Insel gegen den Goliath im Nachbarland, der uns schon immer schlucken will, mithilfe von Erdöl und Waffen Widerstand geleistet. Heute haben wir den Tourismus.“
Diese Einschätzung ist freilich sehr optimistisch. Immerhin hat der Massentourismus auch die – zeitweise geduldete, dann wieder verfolgte – Prostitution mit sich gebracht, die mittlerweile zum Symbol des Niedergangs der revolutionären Werte geworden ist. Während der Übergang zur Marktwirtschaft die Gleichheit als gesellschaftlichen Wert in den Hintergrund drängt und die faktische Ungleichheit anwachsen lässt, droht das Land sozial auseinander zu fallen. Derzeit leben schätzungsweise mindestens 15 Prozent der kubanischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze – und zwar trotz der erfolgreichen Ankurbelung der Wirtschaft. „Wir sind uns dessen bewusst“, räumt Alfredo Guevara ein. „Deshalb arbeiten zehntausende junge Kubaner von der kommunistischen Jugend oder der kommunistischen Studentenvereinigung in den armen Stadtteilen und bringen den Menschen Nahrung für Körper und Geist.“
Im Jahr 2000 kamen 1 750 000 Touristen auf die Insel. Für 2001 werden insgesamt zwei Millionen erwartet. In aller Regel sind sie auf das Nächstliegende scharf: mulatas, palmeras, maracas (Mulatinnen, Palmen und Maracas). Wie lässt sich verhindern, dass dieser Massentourismus der Kultur schadet? Ist es denn nicht legitim, mit einem Laden für Schnickschnack oder mit einem Marktstand für kitschige kunstgewerbliche Ware ein paar Dollars verdienen zu wollen? Seit 1998 gilt eine Vereinbarung zwischen Kultus- und Tourismusministerium, die vor allem das Ziel hat, dass die Touristen gerade auch die lokale Kultur und ihre Schätze kennen lernen.
Varadero, ein lang gezogener, vom Atlantik umspülter Sandstreifen, die Hochburg des Kubatourismus: endlose Strände, die sich unmittelbar vor den Hotels erstrecken. Allerdings können sich nur Ausländer an ihnen freuen. Kubanisch ist hier lediglich das Personal. Meist handelt es sich bei Zimmermädchen und Kofferträgern um ehemalige Lehrer oder Ingenieure. Ein schockierender Zustand, der nach Auskunft der Machthaber aber nur vorübergehend sein soll.
Das luxuriöse Fünfsternehotel Palace Varadero Meliá, das zur spanischen Hotelkette Meliá gehört, wurde am 14. Dezember 1991 von Fidel Castro persönlich eröffnet. Hier verkehren Spanier, Kanadier, Deutsche, Franzosen, Portugiesen, Argentinier. Über der Tür zum Büro des kubanischen Hoteldirektors Nelson Hernández Sosa hängt ein Porträt von Che Guevara. An der Wand ist ein Wahlspruch von José Martí zu lesen: „Die Größe eines Menschen bemisst sich nicht an dem, was er tatsächlich erreicht, sondern daran, welche Ziele er sich setzt.“
„Wir stellen gegenüber unseren Gästen den Reichtum und die Vielfalt unserer Kultur heraus, und zwar auf allerhöchstem Niveau“, erklärt Hernández. „Es hat uns einige Überzeugungskraft gekostet, Alicia Alonso, die Primadonna des kubanischen Staatsballetts, zu einem Auftritt bei uns zu bewegen. Doch am Ende ist sie gekommen. Das Symphonieorchester von Matanzas dagegen hat sich nicht lange bitten lassen. Kultur und Bildung sind es, die einem Volk seine Würde verleihen, und gleichzeitig ziehen sie Touristen an, die wesentlich wissbegieriger sind, als man glauben möchte.“
Auf einem der Pfade, die zum Restaurant führen, gibt es einen Stand mit Hornschnitzarbeiten. Er wird von Roberto Pérez Viscaino aus Matanzas betrieben. Pérez Viscaino war gerade frisch verheiratet, als die Mühen der Neunzigerjahre begannen und seinem Traum, Maler zu werden, ein jähes Ende setzten. Seit zehn Jahren arbeitet er nun acht Stunden täglich im Hotel, um anschließend in der Nacht zu malen. Seine Schwiegermutter, die 1994 als Bootsflüchtling nach Amerika übersetzte, lebt und arbeitet in Las Vegas. Sie ist Kellnerin in einem Spielsalon. Nachdem er selbst mit dem Gedanken des Exils gespielt hatte, entschied er sich am Ende, doch zu bleiben. „Es stimmt, hier gibt es eine Menge Schwierigkeiten, aber unterm Strich . . .“, überlegt er. „Wir sind eine kleine Insel mit einem wild gewordenen Nachbarn. Ich bin in Brasilien gewesen. Ich habe die Gewalt gesehen, den Analphabetismus, den Hunger und die Straßenkinder. Wenn du das dann vergleichst, denkst du, dass es hier im Grunde gar nicht so übel ist. Hier lebt man immerhin in Sicherheit. Du musst nicht um dein Leben fürchten, um deine Kinder. Natürlich würde ich gerne reisen. Dafür bräuchte ich eine Einladung, aber ich bin ganz zuversichtlich. Meine Bilder haben in Japan und Indien schon ein paar Auszeichnungen bekommen. Mit liegt vor allem daran, dass mein Werk bekannt wird, Geld damit zu verdienen ist mir nicht so wichtig.“
Seit der wirtschaftliche Aufschwung seine ersten Früchte trägt, sind die Töne der Regierenden schärfer geworden, und das lässt nicht gerade auf eine politische Öffnung hoffen. Kuba demonstriert angesichts des angeblich so alternativlosen neoliberalen Modells einen gewissen Stolz, dass man auch die Hürden der jüngsten Zeit genommen hat, „und zwar nicht mit Bohnen, Getreide oder Kalorien, sondern mit Bewusstsein, Moral und Patriotismus“, wie Fidel Castro vollmundig erklärt hat. Das Land schreibt sich heute mehr denn je den Aufbau eines Sozialismus auf die Fahnen, eines „besseren“ Sozialismus als der, den es bislang hatte.
Auf dem Weltsozialforum von Porto Alegre9 rief die kubanische Delegation, nachdem sie herzlich begrüßt worden war, zu einer „Globalisierung des Widerstands“ auf. Könnte es sein, dass die „castristische Diktatur“ wieder neue Sympathien weckt, unter anderem auch in Europa? Die internationale Atmosphäre könnte in diese Richtung wirken. Auf der Insel selbst handelt es sich allerdings eher um eine ideologische Dauerberieselung, die so plump und erdrückend ist, dass Zweifel an ihrer Wirkung aufkommen müssen: Die „informativen runden Tische“, bei denen sich in einem der beiden staatlichen Fernsehsender allabendlich Journalisten und Politiker gegenseitig die Bälle zuspielen, um das aktuelle Geschehen zu kommentieren, ziehen sich endlos hin.
Zu allem Überfluss werden die Kommentare des Abends von Radio und Zeitungen wiederholt, und zwar im Wortlaut. Ein anderes Beispiel sind die Predigten anlässlich der „Offenen Tribünen“, die jede Woche in einer der Provinzen abgehalten werden, um etwa gegen die US-amerikanischen Manöver auf der puertoricanischen Insel Vieques zu wettern, und zu denen, ob sie wollen oder nicht, jedes Mal hunderte von Kubanern erscheinen.
Doch trotz dieser Töne, die spitze Zungen als teque sonsonete, cantinela (die ewige Leier, das alte Lied) bezeichnen, kann niemand bestreiten, dass Kuba kulturell äußerst lebendig ist. Das zeigen auch Publikationen wie die 1995 gegründete und von Rafael Hernández geleitete Zeitschrift Temas, die einen erstaunlich freimütigen Ton anschlägt. Oder auch die hervorragende La gaceta de Cuba, die unter der Leitung von Norberto Codina erscheint.
„Ich setze für Kuba immer noch auf den Sozialismus“, sagt Aida Bahr, die seit drei Jahren die Geschicke des Verlags Ediciones Oriente lenkt. „Unser Land versucht nicht ohne Schwierigkeiten, sich an die Marktwirtschaft anzupassen. Wenn man uns die Restrukturierung ungestört abschließen lässt, hat Kuba die besten Voraussetzungen, um seine Situation zu verbessern: Eine gebildete Bevölkerung – hier ist am meisten investiert worden, in die Menschen, ins Humankapital – eine viel versprechende biotechnologische Industrie, eine erstklassige medizinische Wissenschaft. Wir haben keine Veranlassung, eine Wende um hundertachzig Grad zu vollziehen, die uns nur in das Elend führen würde, das unsere Nachbarstaaten derzeit erleben.“
Diese Aussage wird sicherlich nicht jeden überzeugen können. Doch auf der Arbeitskonferenz von Internationalem Währungsfonds und Weltbank Ende April hat immerhin auch die Weltbank eingeräumt, dass Kuba, das anders als manches andere Entwicklungsland auf keine IWF- Kredite zurückgreifen konnte, bessere Sozialindikatoren aufweist als die meisten anderen Entwicklungsländer.10
dt. Miriam Lang
* Journalistin