12.10.2001

Der zaudernde Reformator

zurück

Der zaudernde Reformator

Von GARETH MCFEELY *

Die Flitterwochen sind vorbei in Accra. Seit den Wahlen vom Dezember 2000, die – erfreulicherweise – zum ersten friedlichen Machtwechsel in der Geschichte Ghanas führten, ist die Regierung des neuen Präsidenten John Agyekum Kufuor mit den ganz gewöhnlichen Problemen des Landes konfrontiert: Inflation, mangelnde Sicherheit, schlechte Ernten und dazu die drückende Hinterlassenschaft seines Vorgängers, des ehemaligen Luftwaffenoffiziers Jerry John Rawlings, der fast zwanzig Jahre lang an der Spitze des Landes gestanden hatte und jetzt Aids-Beauftragter der Vereinten Nationen ist.1 Aus der Sicht der neuen Regierung wäre Rawlings allerdings durchaus zuzutrauen, dass er noch einmal versuchen könnte, sich an die Macht zu putschen.

Anders als vor der Wahl allgemein befürchtet, kam es nach der Stimmabgabe nicht zu einem „dritten Wahlgang“ seitens der Straße oder der Armee. Das lag unter anderem daran, dass die neuen Machthaber jedem Versuch, den Rawlings in diese Richtung hätte unternehmen können, von vornherein den Boden entzogen, indem sie geschickt eine ganze Reihe von „Enthüllungen“ über den Amtsmissbrauch und die Korruption seines Regimes lancierten und somit seinem Image als „lebender Heiliger“ oder „ghanaischer de Gaulle“, dem zu allererst die Rettung des Vaterlandes am Herzen liege, beträchtlichen Schaden zufügten.

Persönlich gerät der ehemalige Präsident nur selten ins Visier, doch gegen zahlreiche seiner unmittelbaren Mitarbeiter und vor allem gegen seine Frau wird der Vorwurf der Korruption erhoben – eines der großen Themen des neuen Regimes. Gleich bei seiner Amtseinführung hatte Präsident Kufuor diesbezüglich eine Politik der „Nulltoleranz“ angekündigt: Das bekam sogar einer seiner eigenen Minister zu spüren, der inzwischen seinen Hut nehmen musste, nachdem 46 000 Dollar – eigentlich vorgesehen als Belohnung für die Fußballnationalmannschaft – verschwunden waren.2

Noch wichtiger als die Frage der Korruption ist für die neue Regierung allerdings diejenige der Menschenrechtsverletzungen. Hier verlangt man von Rawlings entsprechende Auskünfte: In unabhängigen Zeitungen und auf Websites erscheinen regelmäßig Listen mutmaßlicher Opfer.3 Vor allem erwartet man Aufklärung über die Ermordung dreier Richter und eines pensionierten Generals im Jahre 1982. Vier regierungsnahe Personen wurden inzwischen verurteilt, doch man munkelt, dass die eigentlichen Auftraggeber dieser Verbrechen nach wie vor auf freiem Fuße sind. Die sterblichen Überreste acht höherer Offiziere – darunter drei ehemalige Staatschefs, die nach Rawlings’ erstem Staatsstreich von 1979 hingerichtet worden waren – wurden vor kurzem an ihre Familien übergeben.4

Verschiedene Politiker der heute regierenden New Patriotic Party (NPP), der auch Präsident Kufuor angehört, waren in den Achtzigerjahren dem Machtmissbrauch des Rawlings-Regimes ausgesetzt. Der gegenwärtige Präsident, obwohl seinerzeit selber inhaftiert, ist im Umgang mit der Frage, ob dem Expräsidenten oder seinen Angehörigen mit Strafverfolgung zu Leibe zu rücken sei, moderater als die meisten seiner Mitstreiter. Er möchte lieber eine „Wahrheits- und Ausssöhnungskommission“ nach südafrikanischem Vorbild einsetzen. Im Parlament fand Anfang August eine Debatte zu diesem Thema statt, und die Regierung stellt eine umfassende öffentliche Beratung in Aussicht.

Trotzdem bleibt der Eindruck bestehen, dass der Präsident und seine Regierungsmannschaft die „Übel der Vergangenheit“ hauptsächlich deshalb so lautstark betonen, um zu vertuschen, dass sie keine rechten Antworten auf die Fragen finden, die das Land sich stellt. Einige Minister der Regierung Kufuor bezichtigen den Nationaldemokratischen Kongress (NDC), die Partei des bisherigen Staatschefs, er habe „für die Probleme des Landes ständig äußere Schwierigkeiten verantwortlich gemacht“5 . Dabei bedienen sie sich selbst ganz ähnlicher Mittel, indem sie die „von außen kommenden Schocks“ durch die „Fehler“ der ehemaligen Regierungspartei ersetzen.

Vision „Ghana 2010“

KNAPP ein Jahr nach dem Machtwechsel, so viel ist sicher, befindet sich die ghanaische Exekutive noch immer auf der Suche nach einer eigenen Linie, nach dem eigentlichen Ziel ihrer Regierungspolitik. Sie macht zahlreiche vage Versprechungen, äußert sich aber nicht über die „Details“, mit denen sich die Schwierigkeiten des Landes konkret lösen ließen.

Kaum gewählt, verkündete der neue Präsident in seinem Optimismus, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen werde sich in vier bis acht Jahren – das heißt, bis zu dem Zeitpunkt, „wenn ich abtreten werde“ – von zurzeit 370 Dollar (407 Euro) auf 1 000 Dollar steigern. Vor einigen Monaten gab er zudem seine Absicht bekannt, die Staatsschulden Ghanas noch vor Ablauf seiner ersten Amtszeit zu tilgen – wobei er sich allerdings nicht weiter darüber verbreitete, woher das notwendige Geld zur Bereinigung der Konten und zur Realisierung der Vorhaben seiner Regierung denn kommen soll.6

Bei aller Kritik am Rawlings-Regime muss die neue Regierung doch anerkennen, in welchem Ausmaß es Rawlings gelungen ist, die Bürger des Landes zu beeinflussen: Der ehemalige Präsident hatte seine Vision „Ghana 2020“ entwickelt. Er hatte ein Land vor Augen mit – nach den Kriterien der Weltbank – „mittlerem Volkseinkommen“, das gleichwohl eine gewisse Prosperität erreicht. Von dieser Konzeption hat sich die Regierung Kufuor zunächst einmal verabschiedet, um sie durch einen nicht ganz so ambitionierten Plan zu ersetzen, der das Jahr 2010 anvisiert. Doch die neue Strategie findet in der Bevölkerung praktisch keine Beachtung. Einige der großen Werbetafeln für „Ghana 2020“ – die von Taxifahrern oft voll Stolz kommentiert werden – schmücken nach wie vor die Straßen der Hauptstadt. Hieß es nicht schon beim Sturz Kwame Nkrumahs, des ersten Präsidenten Ghanas, im Jahre 1966, es sei eben sehr viel leichter, „ihn zu kritisieren, als ihn zu ersetzen“?7

Dieser Mangel an Ideen der neuen Regierungsmannschaft wird von zahlreichen Beobachtern mit der Tatsache erklärt – und manchmal sogar entschuldigt –, dass niemand, auch nicht Kufuors Partei selbst, mit dem Sieg vom Dezember 2000 gerechnet hatte. Expräsident Rawlings räumte ein, dass seine eigene Partei in ihrer Siegesgewissheit zu selbstsicher und bisweilen sogar arrogant geworden war8 : Der NDC-Kandidat John Atta Mills glaubte beispielsweise, es sich erlauben zu können, als Einziger nicht an der von einer amerikanischen NGO organisierten Wahlkampfdebatte teilzunehmen.9

„Keine der beiden großen Parteien“, so Ben Ephron, Chefredakteur der unabhängigen Tageszeitung The Dispatch, „hatte einen derartigen Erdrutsch bei den Wahlen vorhergesehen.“ Dieser dramatische Umschwung trug der NPP die Präsidentschaft sowie die Hälfte aller Abgeordnetenmandate ein. „Weder die eine noch die andere Partei hatte begriffen, in welchem Ausmaß die elektronischen Medien – allen voran die verschiedenen privaten Radiosender und das Internet – die Spielregeln verändert haben.“

Die Kommentare der Hörer eines Senders wie Joy FM lassen erkennen, welch ungeheure Erwartungen die Ghanaer mit dem politischen Wechsel verbinden. Bislang war niemand in der Lage, sie zu erfüllen. Die Wähler, die die neuen Minister konsequent an ihren Worten und Versprechungen messen, nehmen sich das Recht heraus, ihre Zufriedenheit wie ihr Missfallen ausgesprochen lebhaft zum Ausdruck zu bringen.

Die Bedeutung dieser neuen Diskussionsforen wurde offenkundig, als die Regierung am 9. März 2001 den Beschluss fasste, dem Entschuldungsprogramm von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), der so genannten HIPC-Initiative für „hoch verschuldete arme Länder“, beizutreten.10 Dieser Ankündigung war eine häufig stürmisch verlaufende Debatte vorausgegangen. Selbst die Financial Post, sonst eher zurückhaltend im Ton, brachte die emotionsgeladene Schlagzeile: „HIPC-Debatte: Der Kampf um die Seele Ghanas könnte in dieser Woche zu Ende gehen.“11

Jener Teil der Öffentlichkeit, der seine Befürchtungen über die Radiosender kundgetan hatte, sieht in der Entscheidung eine Art wirtschaftlicher Rekolonisierung, eine Kränkung für das Selbstwertgefühl eines Landes, das eben erst auf dem besten Wege war, mit Hilfe eines demokratisch erzielten Machtwechsels selbst über sein Schicksal zu bestimmen. Präsident Kufuor hat offenbar höchstpersönlich versucht, die heftigen Reaktionen derjenigen zu besänftigen, die sich über den neuerlichen Verlust von Unabhängigkeit Sorgen machen; denn so unpopulär seine Entscheidung auch sein mag, so sein Argument, dient sie letzten Endes doch dem Interesse des Landes.

Um zu beweisen, dass der Beitritt zum Entschuldungsprogramm konkrete Vorteile mit sich bringt, startete der Staatschef im August einen Plan zur „dringenden Sozialhilfe“. Ziel sind dabei die allerärmsten Regionen des Landes, deren Bewohner über jeweils weniger als umgerechnet 100 Euro jährlich zu ihrer Ernährung verfügen – sie sollen von den Mitteln, die durch die HIPC-Initiative „freigesetzt“ werden, profitieren.

Noch bevor das Protestgeschrei wegen des Beitritts zum HIPC-Programm laut geworden war, hatte die Regierung gezeigt, dass sie in der Lage ist, auch schmerzhafte Maßnahmen zu ergreifen – und hatte beispielsweise den Benzinpreis Ende Februar um 64 Prozent angehoben. Eine hundertprozentige Subventionierung sei nicht mehr zu finanzieren, erklärten Regierungsmitglieder, wenn man das Land auf anderen Gebieten voranbringen wolle. Diese Maßnahme löste zwar keine verschärften sozialen Spannungen aus, führte allerdings unmittelbar zu Erhöhungen der Transport- und Lebensmittelpreise (um 30 beziehungsweise 40 Prozent) und wirkte sich damit auf die beiden wichtigsten Faktoren der Privathaushalte aus.

Immerhin ging die Benzinpreiserhöhung mit dem Versprechen einher, die nationale Krankenversicherung zu reformieren: Nach dem zurzeit geltenden System, das in der Bevölkerung ausgesprochen unbeliebt ist, muss man jede Behandlung im Voraus bezahlen. Das neue System soll bis Jahresende in Kraft treten, aber noch weiß niemand, wie es funktionieren wird, und auch nicht, wie der Übergang von einem zum anderen organisiert und finanziert werden soll.

Auch das Mindesteinkommen wurde um die Jahresmitte angehoben. Unter der Regierung Rawlings betrug es 4 200 Cedi pro Tag (das entspricht 0,65 Euro). Die neue Regierung hatte sich für eine Erhöhung von 20 Prozent ausgesprochen, die Gewerkschaften forderten 50 Prozent; man einigte sich dann auf 31 Prozent, die immer noch unterhalb der Inflationsrate liegen (in diesem Jahr durchschnittlich 35 Prozent). Den Gewerkschaften gelang es im Übrigen nicht, irgendwelche Sanktionsmaßnahmen zur Einhaltung dieses neuen Mindestlohnes durchzusetzen. Im Privatsektor setzen die ghanaischen Arbeitgeber häufig selbst „ihr“ betriebseigenes Mindesteinkommen fest. Sie wissen schließlich genau, dass ihre Angestellten – auch die qualifizierten – kaum Chancen haben, eine andere Stelle zu finden.

dt. Matthias Wolf

* Irischer Journalist

Fußnoten: 1 1979 gelang Rawlings ein Staatsstreich. Dann überließ er die Macht einem gewählten Präsidenten, den er 1981 an der Spitze einer Militärjunta ablöste, um sich 1992 zum – „zivilen“ – Staatschef wählen zu lassen. 2 Der Minister, Malam Yusif Isa, war Vorsitzender der People’s National Convention, einer kleinen Partei, die sich auf die panafrikanische Ideologie von Expräsident Nkrumah beruft, dem Vater der Unabhängigkeit Ghanas. Zurzeit verbüßt Isa eine vierjährige Gefängnisstrafe. 3 Beispielsweise: http://www.prosecute-rawlings.com/. 4 „Diese Männer waren bestimmt keine Engel“, heißt es dazu im Ghanaian Chronicle vom 13. August 2001, aber ihr Verschwinden „bedeutete auch nicht gerade die Wiederherstellung der Gerechtigkeit in Ghana“. 5 Sampson K. Boafo, Minister für die Region Ashanti, The Independent, Accra, 30. März 2001. 6 „Public Agenda“, Accra, 11. Juni 2001. 7 F. K. Buah, „A History of Ghana“, London (Macmillan) 1980. 8 The Daily Graphic, Accra, 27. Dezember 2000. 9 The Economist, London, 18. November 2000. 10 HIPC II heißt die Initiative zum Schuldenerlass für die hoch verschuldeten ärmsten Entwicklungsländer (Highly Indebted Poor Countries), die auf dem Kölner G 8-Gipfel 1999 beschlossen wurde. Siebzig Milliarden Dollar sollen den Ländern erlassen werden, teils aus Schulden bei den Regierungen der Industriestaaten, teils beim Internationalen Währungsfonds. Kritiker fordern einen noch umfassenderen Erlass. 11 The Financial Post, Accra, 5. März 2001.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von GARETH MCFEELY