12.10.2001

Die Wiederkehr der Vergangenheit

zurück

Die Wiederkehr der Vergangenheit

Von CHRISTIAN DE BRIE

Vor dem Hintergrund des Völkermords in Ruanda, der „ethnischen Säuberungen“ auf dem Balkan und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in Westeuropa beschloss die UN-Generalversammlung 1997 eine Dritte Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz im Jahr 2001. Die Teilnehmerländer sollten sich verpflichten, ein auf der Konferenz zu beschließendes Aktionsprogramm innenpolitisch umzusetzen. Nach mühsamen und konfliktreichen Vorbereitungen stand zu erwarten, dass das Treffen heftige Kontroversen produzieren würde, und das aus mehreren Gründen.

Zum einen musste die symbolträchtige Wahl des Tagungsorts in Südafrika – das noch immer von den Nachwirkungen der Apartheid gezeichnet ist – die schwarze Mehrheit des Landes mobilisieren, die jahrzentelang unter weißer Unterdrückerherrschaft gelebt hatte.

Zweitens forderten die afrikanischen Länder einhellig die Anerkennung des Sklavenhandels als „Verbrechen gegen die Menschheit“, wodurch – da das Verbrechen nicht verjährt – der Weg für Reparationszahlungen geebnet würde. Darüber hinaus verlangten sie Gespräche über die „Neue Afrikanische Initiative“, die am 9. Juli von der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) beschlossen wurde. Die Entwicklungsinitiative fußt auf dem von Südafrika vorgeschlagenen „Afrikanischen Millenniumsprogramm“ (MAP), das ein neues Nord-Süd-Verhältnis einklagt, vor allem hinsichtlich Investitionen, erweiterten Marktzugangs und Verbesserung der Infrastruktur.

Drittens verurteilten die Palästinenser die Unterdrückung durch Israel als – so Jassir Arafat – „kolonialistische Verschwörung mit dem Ziel der Aggression, der Zwangsvertreibung, der Usurpation von Land und der Verletzung der heiligen christlichen und muslimischen Stätten“. Israels Politik sei „rassistisch“ und müsse als solche anerkannt werden – eine Forderung, die zumal bei den arabischen Ländern Unterstützung fand.

Viertens wollten die Vereinigten Staaten und die ehemaligen europäischen Kolonialmächte – außer Frankreich – den Sklavenhandel und die Sklaverei partout nicht als „Verbrechen gegen die Menschheit“ anerkennen und lehnten die Möglichkeit von Reparationszahlungen rundweg ab. Dieser Punkt war ebenso wenig kompromissfähig wie das Ansinnen einiger Länder, den Zionismus als eine Spielart des Rassismus einzustufen und Israel zum Hauptangeklagten der Konferenz zu machen – was die Amerikaner veranlasste, die Tagung vorzeitig zu verlassen.

Zeitgleich mit der Konferenz hatten knapp 3 000 NGOs einen Gegengipfel organisiert, der die Stimme der unterdrückten Völker in anderer Weise zu Gehör bringen, Solidarität mit den Palästinensern bekunden und die Regierungskonferenz in seinem Sinn beeinflussen sollte. Die Schlusserklärung des Forums denunzierte Israel als rassistischen Staat, der sich des Völkermords schuldig mache, und drängte damit alle anderen Resolutionsvorschläge in den Hintergrund. Als Mary Robinson, Generalsekretärin der regierungsamtlichen Konferenz, die europäischen Länder und einige NGOs diese Erklärung ablehnten, kam es fast zum Eklat. Der schließlich verabschiedete Kompromissvorschlag sieht von einer Verurteilung Israels ab und erkennt die Sklaverei als „Verbrechen gegen die Menschheit“ an. Letzteres hatte zwar zur Folge, dass sich die Täter „entschuldigen“, nicht jedoch finanzielle Ausgleichszahlungen, die über das Maß von Entwicklungsprogrammen für die betroffenden Gesellschaften hinausgehen.

Auf der offiziellen UN-Konferenz waren zwar 160 Länder vertreten, doch persönlich ließen sich nicht einmal ein Dutzend Staatschefs sehen. Zur Empörung der NGOs glänzten alle Staatsoberhäupter der reichsten Länder durch Abwesenheit, was die guatemaltekische Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu so kommentierte: „Unsere Anwesenheit erinnert an die nicht gehaltenen Versprechen der Vereinten Nationen, Schluss zu machen mit kolonialen Regimen, die indigene Völker unterjocht und schändliche Institutionen der Versklavung aufgebaut haben.“

Seit ihrer Entstehung im 16. Jahrhundert hat die westliche Zivilisation ihre umfassende Vorherrschaft auf barbarische Weise zu Geltung gebracht. Kein Völkermord hat dieselben Dimensionen erreicht oder über eine derart lange Zeit angedauert. Dies erscheint den heutigen Nachkommen der Schlächter so unerträglich, dass sie bestenfalls ein Lippenbekenntnis zur Schuld ihrer Vorfahren ablegen, und auch das nur unter dem Vorbehalt, dass die Profite aus den ehemaligen Kolonialeroberungen unangetastet bleiben.

Die Vernichtung der amerikanischen Indios – zu Zeiten von Amerikas Entdeckung zählten sie noch 80 Millionen, ein halbes Jahrhundert später waren sie auf 10 Millionen dezimiert worden –, die sich bis heute fortsetzt, ging einher mit der systematischen Plünderung der einheimischen Reichtümer und dem bewaffneten Raub von Land und Boden. Danach setzte der transatlantische Sklavenhandel ein, in dessen dreihundertjähriger Geschichte rund 15 Millionen Schwarzafrikaner nach Amerika in die Sklaverei verschleppt wurden. Auch nachdem die Briten den Menschenhandel 1807 – übrigens aus keineswegs humanitären Gründen – untersagt und andere Länder nachgezogen hatten, ging er illegal noch jahrzehntelang weiter. Im französischen Kolonialreich wurde die Sklaverei bereits 1848 für gesetzwidrig erklärt, existierte de facto aber noch bis zur Abschaffung der Zwangsarbeit im Jahr 1946.

Im Westen verdammen viele die Sklaverei, um dieses historische Kapitel umstandslos entsorgen zu können. Doch die Vergangenheit ist nie zu Ende. Diese Verbrechen gegen die Menschheit waren kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern sie wurden sorgfältig geplant, gerechtfertigt und in Gesetzestexte gegossen, die jahrhundertelang Geltung behielten. Im kollektiven Bewusstsein des Westens haben sie tiefe Spuren hinterlassen, die in mancherlei Hinsicht unser Verhältnis zur außerwestlichen Welt noch immer prägen.

Erst als der völkermörderische Rassismus in der methodischen Vernichtung der Juden Europas gipfelte und die Nazis Millionen vorwiegend slawischer Menschen – unter tätiger Mithilfe aus den okkupierten Ländern – versklavten, begann sich das Gewissen des Westens zu regen. Erzwungen wurde diese Besinnung durch die ungeheure Erinnerungsarbeit der zumeist jüdischen Überlebenden und Augenzeugen und durch die Forschungsarbeit von Historikern. Diese gingen beharrlich der Frage nach, warum und wie das Undenkbare geschehen konnte: die Ausgrenzung stigmatisierter Bevölkerungsgruppen aus dem Begriff der Menschheit; die rationalen Begründungen, die erfunden und in die Köpfe gehämmert wurden, bis viele das Ungeheure akzeptierten oder tolerierten; der allgegenwärtige Terror, der jeden Gedanken an Widerstand erstickte; die erzwungene Mitwirkung der Opfer an ihrer eigenen Vernichtung, die exzessive Ausbeutung der Arbeitsfähigen bis zu ihrem Tode; die grenzenlose Habgier ihrer Henker.

Die Dynamik des Genozids ist entschlüsselt, doch der weiße Mann will nicht zur Kenntnis nehmen, dass es dieselbe Dynamik war, die jahrhundertelang gegen die indigenen Völker Amerikas und die Schwarzen Afrikas gewütet hat.

Dies anzuerkennen sind wir im Westen offenbar so wenig bereit, dass Aimé Césaire Recht zu behalten scheint mit seiner Aussage: „Was der so überaus vornehme, humanistisch gesinnte und christlich motivierte Bürger des 20. Jahrhunderts [. . .] Hitler nicht verzeiht, ist nicht das Verbrechen an sich, nicht die Demütigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den Weißen und dass er in Europa kolonialistische Methoden anwandte, die bisher den algerischen Arabern, den indischen Kulis und den afrikanischen Negern vorbehalten waren.“1

In der Tat, als die US-amerikanischen, sowjetischen, britischen und französischen Richter in Nürnberg ihres Amtes walteten, war die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten noch immer geltendes Recht und der Gulag noch ein beherrschendes Merkmal des sowjetischen Regimes. Großbritannien und Frankreich bekämpften mit Bomben und Napalm die Emanzipationsbestrebungen der kolonisierten Völker, denen sie gerade noch einen gewichtigen Beitrag zur Befreiung ihrer Kolonialmacht vom Hitler-Regime abgefordert hatten.

Einige Jahre später verbandelte sich der Westen mit der rassistischen Regierung Südafrikas und unterstützte das von Nazi-Anhängern durchsetzte Land wirtschaftlich und militärisch, bis die eigenen Interessen es geboten, dem internationalen Druck nachzugeben und den langjährigen Verbündeten fallen zu lassen. Nur Israel unterstützte das Apartheidregime bis zum Schluss und orientierte sich in der Palästinenserpolitik an diesem Vorbild.

Ethnisch oder religiös fundierter Rassismus ist freilich so wenig eine Erfindung oder ein Monopol des weißen westlichen Mannes wie die Sklaverei. Der Sklave entstand mit dem Krieg, was es dem Sieger erlaubte, dem Besiegten entweder den Hals abzuschneiden oder ihn in Eisen zu legen. Der Unterworfene stand fortan, samt Frau und Kindern, außerhalb der Menschheit, ein schlichtes, dem Eigentümer ausgeliefertes Beutestück. Ägypten und China, Griechenland, das Mongolenreich und das Osmanische Reich, nahezu alle „Zivilisationen“ haben ohne das geringste Schuldbewusstsein Sklaven ausgebeutet. In Afrika selbst handelten die Araber mit schwarzen Sklaven, und die alten afrikanischen Königreiche hatten schon vor Ankunft des weißen Mannes untereinander einen lukrativen Sklavenhandel betrieben.2

136 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten, meint Barbara Lee (demokratische Abgeordnete aus Kalifornien im Repräsentantenhaus der USA und Mitglied von „Black Caucus“), sind die Nachwirkungen der Sklaverei noch immer spürbar. Dasselbe gilt für die Konsequenzen des Sklavenhandels in Afrika. Doch entschädigt wurden bislang nur die ehemaligen Sklavenhalter, die ihre zusammengeraubten Güter eingebüßt haben. Haiti – eines der ärmsten Länder der Welt – zahlte bis 1946 insgesamt 150 Millionen Goldfrancs an Frankreich als Entschädigungssumme für die Kolonialherren, die nach der Unabhängigkeit Haitis im Jahr 1804 ihr Eigentum verloren. Die Vereinigten Staaten setzten sich in den vergangenen Jahren erfolgreich für Wiedergutmachungsleistungen an die Zwangsarbeiter des Nazi-Systems ein. Die grundsätzliche Berechtigung solcher Forderungen ist damit anerkannt, entsprechende Zahlungsmodalitäten wurden gefunden, der Gerechtigkeit wurde eine Gasse geschlagen.

Umso befremdlicher erscheint, dass die USA und die europäischen Länder in Durban jede Diskussion über die Entschädigung anderer Opfergruppen, zumal der Schwarzen, unterbunden haben. Man argumentierte, dass es sich dabei um etwas ganz anderes handele: Der Begriff der Sklaverei bezeichne ganz unterschiedliche Verhältnisse; die Verantwortlichen und Entschädigungsberechtigten ließen sich kaum identifizieren; die „Wiedergutmachungsleistungen“ würden eine neue Form der Abhängigkeit des Südens vom Norden schaffen. Diese würden in erster Linie die Herrschaft der afrikanischen Oligarchien festigen, nachdem sich Gutachter und Juristen eine goldene Nase verdient haben. All das zeigt nur eines: Man will nichts mehr von der Sache wissen.

Wissenschaft und Religion, Glauben und Wissen – auf diesen Pfeilern gründet die christliche, kapitalistische Gesellschaft des Westens. Mit diesen Mitteln erhält sie ihre Vorherrschaft, verbreitert sie die Kluft, die sich zwischen Norden und Süden, zwischen Reich und Arm auftut. Wo immer wirtschaftliche, soziale und rechtliche Ungleichheit herrschen, gedeiht der Rassismus, der ideologisch die Höherwertigkeit der einen Welthälfte rechtfertigt – und andererseits die Minderwertigkeit der anderen.

Auf tragische Weise wird dies in dem Schicksal deutlich, das die Palästinenser seit Jahrzehnten zu erleiden haben. Dass ausgerechnet dieses Schicksal international mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als das Schicksal anderer Völker, dürfte weniger daran liegen, dass die Palästinenserfrage als Vorwand für einen manifesten Antisemitismus dienen kann, der noch immer lebendig ist und auch in Durban von einigen Delegationen offen artikuliert wurde. Der Grund liegt vielmehr darin, dass im Schicksal der Palästinenser die Ungerechtigkeit besonders komprimiert erkennbar wird – sozusagen in archaischer Form, die zugleich vorausahnen lässt, wie die Beziehungen zwischen den Menschen in der Welt von morgen aussehen könnten: wie die Wiederkehr der Vergangenheit.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Aimé Césaire, „Discours sur le colonialisme“ (1955), zit. n. L. Sola-Molins, in: R. A. Plumelle-Uribe, „La férocité blanche, des non-blancs aux non-aryens, génocides occultés de 1492 à nos jours“, Paris (Albin Michel) 2001. 2 Dazu Mungo Park, „Voyage dans l’intérieur de l’Afrique“, Paris (Éditions de la Découverte) 1996.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von CHRISTIAN DE BRIE