12.10.2001

Mazedonische Albträume

zurück

Mazedonische Albträume

Von unserem Korrespondenten JEAN-ARNAULT DÉRENS

„Gibt es in diesem Land überhaupt noch jemanden, der nicht lügt?“ Die bange Frage eines Intellektuellen aus Skopje ist durchaus angebracht: Seit im Februar 2001 die jüngsten Zusammenstöße begannen, spielen sich in der kleinen Republik Mazedonien komplizierte Ränkespiele ab, deren Ausgang nicht absehbar ist, zumal keine der drei Konfliktparteien – die mazedonische Regierung, die albanische Guerilla und die internationale Gemeinschaft – ihr wirkliches Ziel offen ausspricht.

So heißt es in den offiziellen Verlautbarungen der UÇK, man verfolge keinerlei separatistische Absichten, sondern kämpfe ausschließlich für die Rechte der albanischen Minderheit in Mazedonien.1 Dabei gibt es in ihren Reihen durchaus eine radikal nationalistische Fraktion, die, beflügelt von ihren Erfolgen im Kosovo, den alten „großalbanischen Traum“ von der Vereinigung aller albanischen Siedlungsgebiete auf dem Balkan realisieren möchte.

Auch die zugelassenen Parteien der Albaner in Mazedonien – die Demokratische Partei der Albaner (DPA) von Arben Xhaferi, die der Regierung schon seit 1998 angehört, und die Partei der demokratischen Prosperität (PDP), die ihr mit der Bildung der „Koalition der nationalen Einheit“ im Mai dieses Jahres beigetreten ist – haben sich stets doppelzüngig geäußert. So will die DPA, obwohl sie der Koalitionsdisziplin verpflichtet ist, nicht von der albanischen Guerilla abrücken. Damit versucht sie eine Art Vermittlerrolle zwischen der Guerilla und der Regierung in Skopje zu spielen – doch zufällig decken sich ihre Forderungen mit den offiziellen UÇK-Positionen.

Formell besitzen die Albaner in Mazedonien eine Reihe von Garantien und Privilegien, von denen andere nationale Minderheiten nur träumen können. Dass die Praxis anders aussieht, hat in der Tat mit Diskriminierungen zu tun; das eigentliche Problem jedoch ist die fehlende Legitimität des Staates selbst. Vor dem Zerfall Jugoslawiens arbeiteten viele der mazedonischen Albaner jenseits der innerjugoslawischen Grenze im Kosovo, oder sie studierten an der kosovarischen Universität Priština. Heute haben sie diesen „Rückraum“ eingebüßt. Die neuen Grenzen haben die Albaner in Mazedonien und im südserbischen Preševotal nie akzeptiert. Während nationalistische Kreise in Mazedonien sich am „Traum vom eigenen Staat“ berauschten, galt den Albanern die unabhängige Republik allenfalls als Betriebsunfall der Geschichte.

Alle führenden Politiker Mazedoniens – von den Protagonisten des Bündnisses der nationalistischen Rechten VMRO-DPMNE, zu denen Staatspräsident Boris Trajkowski und Ministerpräsident Ljupčo Georgewski gehören, bis zu den Vertretern der sozialdemokratischen Opposition, die im Mai in die große Koalition eingetreten ist – beteuern ihre Entschlossenheit, die territoriale Integrität der kleinen Republik zu verteidigen. Allerdings haben sich an der Frage, wie die Krise zu bewältigen sei, im rechten Bündnis zwei deutlich unterschiedene Haltungen herausgebildet. Während Staatspräsident Trajkowski ehrlich entschlossen scheint, eine Verhandlungslösung zu finden, stellte sich Ministerpräsident Georgewski sofort an die Spitze einer Fraktion von „Falken“.

Damit wird erneut deutlich, dass in diesem Bündnis zwei völlig verschiedene Vorstellungen von der Zukunft des Landes herrschen. Die historischen Wurzeln der VMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) reichen zurück bis auf die Nationale Befreiungsbewegung gegen die osmanische Herrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich die bulgarische Identität der slawischen Bevölkerung Mazedoniens auf die Fahnen geschrieben hatte. In den 1930er-Jahren kam es innerhalb der VMRO zu blutigen Richtungskämpfen zwischen dem probulgarischen Flügel und der Fraktion, die für ein unabhängiges Mazedonien eintrat.

Die heutige VMRO, die in Skopje mitregiert, ist also nur Zweig einer alten politischen Bewegung. Und auch in Westbulgarien, im so genannten Pirin-Mazedonien2 , gibt es zwei Organisationen dieses Namens – die sich gegenseitig in bulgarischem Patriotismus überbieten. Im offiziellen Programm des Parteienbündnisses VMRO-DPMNE wird der eigenständige Nationalcharakter Mazedoniens betont, wie auch die „Wiedervereinigung“ mit dem griechischen und bulgarischen Teilen der geografischen Region Mazedonien. Aber die Ultranationalisten in der VMRO-DPMNE sind nach wie vor empfänglich für Lockrufe aus Bulgarien. Gelegentlich wird der Verdacht laut, auch Ministerpräsident Georgewski treibe ein doppeltes Spiel. Er wolle letztlich eine Teilung des Landes und verschärfe darum den Konflikt: Wäre Mazedonien das „Albanerproblem“ erst einmal los (also das nordwestliche Viertel seines heutigen Staatsgebiets), bliebe ein Territorium, in dem die Slawomazedonier die Bevölkerungsmehrheit bildeten, so dass es am Ende zu einer Vereinigung dieses „Kleinmazedoniens“ mit Bulgarien kommen könnte.

Die internationale Gemeinschaft, die zehn Jahre lang für den Erhalt der territorialen Integrität Mazedoniens eingetreten ist, hat keine politische Linie. Auf dem diplomatischen Parkett hat sie lediglich rein symbolische Erfolge erzielt – wie die Zangengeburt einer Regierung der nationalen Einheit, die wegen der unüberwindbaren Meinungsverschiedenheiten völlig unfähig ist, das Land zu führen. Und der Nato-Einsatz „Essential Harvest“ beschränkte sich bei der Entwaffnung der Guerilla auf 3 500 Waffen – eine lächerliche Zahl aus der Sicht der Behörden in Skopje, die von 60 000 abzuliefernden Waffen ausging.

Bei den Mazedoniern hat die aufgeblasene Inszenierung der Waffenübergabe durch die UÇK-Einheiten zwangsläufig neuen Zorn und neues Misstrauen geschürt. Der internationalen Gemeinschaft wird mittlerweile unverhohlen vorgeworfen, Partei für die Albaner ergriffen zu haben. Für die Zukunft Mazedoniens wäre nichts Schlimmeres denkbar als ein erneuter Waffengang. Doch die nächste Runde könnte durchaus von den regulären mazedonischen Truppen eröffnet werden – oder von paramilitärischen Verbänden, die überall aus dem Boden schießen. Dann könnten die eben nicht wirklich entwaffneten Albaner wiederum gegen den mazedonischen „Extremismus“ Front machen.

Genau wie im Bosnienkrieg fürchtet die internationale Gemeinschaft vor allem die Ausweitung des Konflikts. Dass es in Sofia sofort zu Solidaritätsbekundungen mit den „mazedonischen Brüdern“ kam, führte zu neuen Spekulationen über die regionalpolitischen Absichten Bulgariens. In den Mazedonien-Konflikt waren von Anfang an mehrere Staaten verwickelt: Zum einen bildet das serbische Kosovo das Hinterland für die albanische Guerilla in Mazedonien, zum anderen muss Montenegro befürchten, dass auch auf seinem Staatsgebiet eine albanische Separatistenbewegung antreten wird. In allen slawischen Ländern der Region wurde mit Besorgnis zur Kenntnis genommen, dass die internationale Truppe im Kosovo – von immerhin 42 000 Mann in diesem Sommer – offenbar nicht in der Lage ist, die Grenzen dieses kaum mehr als 10 000 Quadratkilometer großen Gebietes zu sichern.

Einerseits wollte es die internationale Gemeinschaft nicht übernehmen, die territoriale Integrität Mazedoniens wirksam zu schützen, andererseits machte auch die meist uneindeutige oder widersprüchliche Haltung der albanischen wie der mazedonischen Führer die Krisenlage höchst unübersichtlich. So kann DPA-Führer Arben Xhaferi behaupten, die Albaner seien eigentlich die einzigen Garanten für das Fortbestehen Mazedoniens, wenn man ihnen nur mehr Rechte gewähren würde – womit er implizit die Teilungspläne verurteilt, die dem Ministerpräsidenten und seinen Beratern unterstellt werden.

Es scheint außer Frage zu stehen, dass Mazedonien als Staat nur überleben kann, wenn es eine multinationale Gesellschaft herausbildet. Doch auch das Projekt eines „Staates der Bürger“, wie ihn Staatspräsident Trajkowski vor Augen hat, gilt den albanischen Führern nur als ein weiterer Versuch, die slawische Vormachtstellung aufrechtzuerhalten. Ihnen schwebt eher ein „Staat der zwei Gesellschaften“ vor, etwa nach dem Vorbild Belgiens, aber eine solche Lösung ist auf dem Balkan kaum zu verwirklichen. Und eine Entwicklung hin zu einem Bundesstaat würde fast zwangsläufig das Ende Mazedoniens bedeuten: Ein geeinter und zentral regierter Staat, der faktisch schon jetzt kaum noch existiert, wäre damit endgültig Vergangenheit.

Dennoch darf in Skopje über eine Veränderung der Staatsgrenzen nach wie vor nicht öffentlich nachgedacht werden. Wegen solcher Erwägungen musste im Mai 2001 der Präsident der mazedonischen Akademie der Künste und Wissenschaften, Georgi Efremov, seinen Abschied nehmen. Nach Berichten der Tageszeitung Večer soll innerhalb der Akademie die Möglichkeit eines „Gebietstauschs“ diskutiert worden sein. Demnach ging man von der Idee aus, dass Mazedonien sich von den überwiegend albanisch bevölkerten Regionen trennen müsse, um dafür einige slawomazedonische Dörfer im Südosten Albaniens, in der Nähe von Pogradec und Korce, zu erhalten. Efremov hat öffentlich dementiert, solche Gespräche initiiert zu haben, aber die Heftigkeit der Auseinandersetzung um diesen Fall zeigt, wie empfindlich man in Mazedonien auf das Thema reagiert.

Dabei war die Möglichkeit einer Neudefinition der Grenzen in allen Balkanländern in diesem Sommer ein heißes Thema.3 Schon im Februar hatte Lord David Owen, der frühere EU-Sonderbeauftragte für Bosnien, einen umfassenden Plan für Grenzveränderungen vorgelegt. Seither gab es Vorschläge von allen Seiten. Die in der bosnisch-serbischen Republik erscheinende, aber überall in der Bundesrepublik Jugoslawien vertriebene Wochenzeitung Reporter etwa legte eine Gebietskarte vor, die aus einem US-Institut für Balkanfragen stammte und die Grenzen des alten Jugoslawien nicht mehr als Tabu behandelt4 : Von Bosnien-Herzegowina blieb nur ein muslimischer Kleinststaat, der Rest war aufgeteilt zwischen Kroatien und einem riesigen „Staat Serbien“, dem auch der Norden des Kosovo und ganz Montenegro zugeschlagen wurden. Dieses „kleine Großserbien“ präsentierte der Plan als Kernstück einer territorialen Neuordnung der Balkanregion. Der zweite Gewinner wäre Albanien, dem ein Großteil des Kosovo und der Westen Mazedoniens zugeschlagen würden. Jenseits des früheren Jugoslawien sah der Plan vor, die westlichen Randgebiete der rumänischen Provinz Transsylvanien an Ungarn abzutreten, während die Türkei Krcali erhalten sollte, einen kleinen, vorwiegend von Türken bewohnten Verwaltungsbezirk im Osten Bulgariens. Neben Montenegro, das gänzlich von der Landkarte verschwinden würde, wären die beiden großen Verlierer eines solchen Plans offenkundig die zur Aufteilung bestimmten Staaten Bosnien-Herzegowina und Mazedonien.

Nachdem in der ersten Phase der westlichen Balkan-Politik der Versuch unternommen wurde, unvereinbare Positionen zu versöhnen (ein gemeinsamer bosnischer Staat, der aus zwei „Gebietseinheiten“ besteht, und ein autonomes, aber weiterhin der Bundesrepublik Jugoslawien zugehöriges Kosovo), könnte es in der nächsten Phase darum gehen, genau jene Logik der Teilung durchzusetzen, gegen die sich die internationale Gemeinschaft bislang stark gemacht hat. Aber die Prinzipien von gestern dürften für diese Lösung des „gesunden Menschenverstandes“ letztlich kein Hindernis sein, denn immerhin könnte man auf diese Weise die beiden „großen“ nationalen Fragen der Balkanregion lösen: die albanische und die serbische.

Genau so sieht es seit langem auch Jugoslawiens Staatspräsident Vojislav Koštunica. Anfang des Jahres konnte Jugoslawien endlich jene „besonderen Beziehungen“ zur Serbischen Republik in Bosnien aufnehmen, die im Vertrag von Dayton festgeschrieben sind, aber nicht realisiert werden durften, solange Slobodan Milošević an der Macht war. Viele serbische Nationalisten sehen darin nur den ersten Schritt auf dem Weg zur Vereinigung von Serbien und der Republika Srpska – und dieses politische Lager sieht natürlich auch Montenegro als serbisches Territorium.

Die Veränderung der Grenzen zielt in erster Linie darauf, zugunsten einiger „großer“ Nationen Gebiete aufzulösen, in denen noch Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Nationalität, Sprache und Religion zusammenleben. So geht es etwa in der mazedonischen Politik nur noch um die Konfrontation zwischen Albanern und Mazedoniern – von den übrigen Gruppierungen im Land (4 Prozent der Bevölkerung sind Türken, mindestens 5 Prozent Roma, zudem gibt es muslimische Slawomazedonier usw.) ist nicht mehr die Rede. Auch in den möglichen Teilungsplänen für das Kosovo spielen nur die Forderungen von Albanern und Serben eine Rolle, obwohl dort die anderen, kleineren Bevölkerungsgruppen etwa 10 Prozent ausmachen.

Seit beinahe zwei Jahrhunderten hat die Schaffung von Nationalstaaten auf dem Balkan zum allmählichen Verschwinden aller Gemeinschaften geführt, die so etwas wie die Brückenbauer zwischen den Fronten waren. Diese standen unter dem Zwang, sich den Bevölkerungsgruppen zu assimilieren, denen sie nach Sprache und Religion am nächsten standen. Und so würde eine neuerliche Korrektur der Grenzen nach nationalstaatlichen Maßgaben auch die letzten Überreste jener Bevölkerungsmischung beseitigen, die jahrhundertelang die Balkanregion kennzeichnete.

Ist dies eine unabwendbare Entwicklung und womöglich der Preis dafür, dass der Balkan in der Moderne ankommt? Wir dürfen niemals vergessen, dass solche Homogenisierungsprozesse unvermeidlich mit Kriegen verbunden sind. In Bosnien haben die Kriegshandlungen von 1992 bis 1995 nicht nur fast 200 000 Menschenleben gekostet, sondern auch den Geist der Koexistenz zerstört, der zuvor – zumal in Städten wie Mostar und Sarajewo – geherrscht hatte. Schließlich geht es auch beim Krieg in Mazedonien nicht um die paar Flecken Bergland, die von der albanischen Guerilla beherrscht werden und in die sich die mazedonischen Ordnungskräfte schon seit Jahren nicht mehr hineintrauen. Es geht um die Gebiete mit gemischter Bevölkerung, um die Hauptstadt Skopje natürlich, aber auch um Städte wie Kumanovo, wo Mazedonier (60 Prozent), Albaner (20 Prozent), Serben (10 Prozent), Roma und Walachen zusammenleben.

Die Logik der Herausbildung homogener Nationalstaaten liefe darauf hinaus, aus den Ruinen des alten Jugoslawien drei neue große Staaten entstehen zu lassen: Kroatien, Serbien und Albanien. Ob das Kosovo in neuen Grenzen unabhängig oder Albanien zugeschlagen wird, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Alle Landstriche und Städte, für die in diesem Plan kein Platz ist, könnten allenfalls als dauerhafte Protektorate der internationalen Gemeinschaft fortbestehen. Und eine friedliche Einigung über neue Grenzverläufe ist beim besten Willen nicht vorstellbar. Zu glauben, dass alle betroffenen Völker sich auf eine neue Karte des Balkan verständigen könnten, ist Illusion.

Alle an den Balkankriegen der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit beteiligten Parteien behaupten, sie kämpften gegen das Unrecht, das ihnen in der Geschichte widerfahren sei. Entsprechend würde eine neuerliche Aufteilung der Region ausreichend Gründe für die Kriege von morgen liefern. Wenn sich also statt eines vernünftigen Konzepts für einen dauerhaften Frieden eine Lösung durchsetzen würde, die im großen Stil die bestehenden Grenzen verschiebt, dürfte dem Balkan wohl eher ein Hundertjähriger Krieg bevorstehen.

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Nach den Daten der von der OSZE überwachten Volkszählung von 1994 stellten die Albaner 23,8 Prozent der 2,1 Millionen Einwohner Mazedoniens. Nach ihren eigenen Angaben machen die Albaner allerdings bis zu 40 Prozent der Bevölkerung aus. 2 1913 wurde das „alte“ Mazedonien geteilt: Vardar (50 Prozent des Territoriums) ging an Serbien, die Gebiete an der Ägäis fielen an Griechenland und die Region Pirin an Bulgarien. Die heutige, seit 1992 unabhängige Republik Mazedonien umfasst das Territorium des serbischen Vardar. 3 Siehe dazu „Dans les Balkans, redessiner les frontières est le must de l’été“, in Le Temps, 27. Juli 2001. 4 Siehe das Dossier „Stare i nove mape za podelu Kosova“ in Reporter (Banja Luka), 13. Juni 2001.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von JEAN-ARNAULT DÉRENS