16.11.2001

Erinnere dich!

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Erinnere dich!

Von SAMUEL TOMEI *

Gleich den für die Rache der Götter zuständigen Erynnien bemühen Leitartikler, Experten und Politiker unermüdlich die Geschichte im Dienste einer Zeigefingermoral. So warnt man uns regelmäßig vor allerlei Reinkarnationen Hitlers: 1956 war es Gamal Abdel-Nasser, 1991 Saddam Hussein, erst kürzlich noch Slobodan Milošević. In der Geschichte jedoch reimt sich comparatio selten auf ratio, sind Vergleiche nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss. Im Übrigen verfielen unsere Kanzelredner anlässlich der Intervention im Kosovo in eine propagandistische Echolalie, die zeigt, wie wenig sie selbst offenbar von den vermeintlichen Lehren der Vergangenheit beherzigt haben.

Die Vergangenheit als Leitfaden für richtiges Verhalten in der Gegenwart verankern zu wollen entspringt einer lobenswerten Absicht; doch immer wieder auf die Pflicht zur Erinnerung hinzuweisen, die unser Verantwortungsgefühl schärfen und uns in die Lage versetzen soll, unsere aktuelle Wirklichkeit zu meistern, führt auf Abwege.

Die Erinnerung wach zu halten ist unerlässlich, will man die Einheit einer Gruppe gewährleisten; die Erinnerung verleiht ihr Zusammenhalt, gemeinsame Werte und Normvorstellungen. Die gemeinsame Erinnerung ist sozusagen unser Code. Die Verpflichtung zur Erinnerung entstammt der Religion. Oder, wie Serge Bernstein bemerkt: „Alle Systeme, die eine gewisse Stabilität anstreben, bedürfen der Anleihen beim Religiösen.“1 Das Religiöse lässt sich hier gemäß den beiden Bedeutungen seiner ambivalenten Etymologie verstehen. Einmal im Sinne von relegere (Cicero), „die Vergangenheit noch einmal lesen“, und dies auch im Sinne von „neu interpretieren“. Ferner im Sinne von religare, „ein- und verbinden“ (Lukrez). Grund hierfür ist die Gewährleistung des sozialen Zusammenhalts durch die Definition einer gemeinsamen Identität. Eine allen gemeinsame Pflicht zum Erinnern oder zur Pflege einer Erinnerung ist aus Sicht jeder Machtinstitution das denkbar stärkste soziale Bindemittel. Damit es wirkt, muss das kollektive Gedächtnis gleichsam unantastbar sein und sich, soll es seinen funktionalen Charakter nicht einbüßen, aller kritischen Anstrengung enthalten: „Es sucht sich aus dem historischen Material zusammen, was es braucht“, schreibt Mona Ozouf2 , „maßt sich an, aufschlussreiche Episoden herauszugreifen, auf Zeitenwenden größeres Gewicht zu legen und im Gegenzug längere Abschnitte ganz außer Acht zu lassen.“ Es beruht also auch auf der Verpflichtung, etwas zu verschweigen.3 Es nivelliert und sucht den Einzelnen dem Kollektiv einzuverleiben.

Laut Paul Ricoeur nimmt die aus der Vergangenheit erwachsene Schuld uns in die Pflicht; er betont, dass Gottes Ruf an das Volk Israel: „Izkor!“ (Erinnere dich!), eine Aufforderung ist, kein Gebot. Doch aus der Aufforderung, so Ricoeur, ist längst eine auferlegte Pflicht geworden.4 Man hatte uns eingeladen, ein bestimmtes Andenken zu ehren, um Verantwortung zu übernehmen, doch diese Einladung verwandelt sich wie von selbst in ein Gebot, und die Verantwortung in eine Schuld. Sowohl Pierre Nora als auch Henry Rousso haben die jüngsten Verirrungen der Pflicht, zu gedenken, eindringlich und subtil analysiert: „Wenn sich das Gedenken zu einer Ersatzreligion wandelt und beansprucht, das permanente, unbefristete und allumfassende Bewusstsein des begangenen Verbrechens zum Dogma zu erheben, gerät es in eine Sackgasse. [. . .] Die Moral oder besser gesagt der Moralismus verträgt sich nicht besonders gut mit der historischen Wahrheit. Um sich ihre konstituierende Kraft zu bewahren, wird sie letzten Endes die Fakten manipulieren [. . .].“5

Auch wenn einige Intellektuelle die Verdrehung der historischen „Wirklichkeit“ durch das ritualisierte Gedenken anprangern, so verteidigen sie damit im Grunde nur ein nicht minder selektives und ebenso moralisierendes Erinnern. So wird die Verklärung des republikanischen Erbes – die niemand in Abrede stellen will – verurteilt, doch weniger, um sich der Wahrheit anzunähern, als um die Republik prinzipiell in Frage zu stellen. Zwei Beispiele seien genannt: die Pflicht, jener Völker zu gedenken, die durch den Kolonialismus der von Amnesie befallenen französischen Republik unterdrückt wurden; und die Pflicht, jener Volksgruppen zu gedenken, die von der jakobinischen Republik geknebelt wurden.

Das späte Eingeständnis von General Aussaresse, in Algerien gefoltert zu haben, hat zu Recht Empörung ausgelöst. Man kann sein Bekenntnis nicht anders als mit Abscheu aufnehmen, auch wenn es nur bestätigt, was seit langem bekannt und schon damals heftig kritisiert worden war.6 Einige Kommentatoren haben sich dadurch veranlasst gefühlt, eine eingehendere Diskussion über den als das „Ungedachte der französischen Geschichte“ apostrophierten französischen Kolonialismus anzufachen – obwohl es längst eine Flut von Literatur zu dem Thema gibt. Ihre Logik ist schlicht gestrickt: Die Republik hat mit Feuer und Schwert kolonisiert, hat die eigenen Prinzipien mit Füßen getreten, sie muss Buße tun, sie hat sich disqualifiziert. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Der Kolonialismus ist kein originäres Kind der Republik. Und auch wenn Jules Ferry – dessen Regierung über die Kolonialfrage stürzte – ein glühender Verfechter der These war, wonach die vermeintlich „überlegenen“ Rassen das Recht und die Pflicht haben, die vermeintlich „minderwertigen“ Rassen zu zivilisieren – darf man deswegen die gewiss minoritäre, aber durchaus streitlustige Tradition eines durch und durch republikanischen Antikolonialismus aus dem Gedächtnis streichen? Es genügt, an die lange Rede von George Clemenceau vom 30. Juli 1885 zu erinnern: „Nein, es gibt kein Recht der vermeintlich überlegenen gegenüber den vermeintlich minderwertigen Nationen.“ Damit steht der Führer der radikalen Linken in der Tradition der Revolutionäre von 1789: Vom 7. bis 15. Mai 1791 debattierte die Constituante (die verfassunggebende Nationalversammlung) über die Kolonialfrage und gestand allen farbigen, von freien Eltern geborenen Menschen die Bürgerrechte zu. Am 16. Pluviose des Jahres zwei (4. Februar 1794) schaffte der Konvent die Sklaverei ab. Es war Bonaparte, der sie 1802 wieder einführte. Und die republikanische Verfassung von 1848 verkündete: „Die Republik gedenkt, innerhalb der Familie der Menschheit keinerlei Unterschiede mehr zu machen.“

Marc Ferro etwa spricht von einem „Skandal der Kolonisation“. In Indochina wie in Afrika habe die Republik ihre eigenen Werte verraten. „Aber“, fügt er hinzu, „es herrscht heute eine Art Schuldhysterie, die mich deswegen erstaunt, weil ein Teil der Öffentlichkeit so tut, als habe man ihr alles verheimlicht. Das stimmt nicht. In den Schulbüchern meiner Zwischenkriegsgeneration stand schwarz auf weiß, dass Bugeaud in Algerien die Zeltdörfer der Nomaden niederbrannte und Gallieni in Madagaskar ganze Siedlungen über die Klinge springen ließ.“

Wenn auch von einer sozialen Integration nicht die Rede sein kann – so einer der Direktoren von Annales –, haben doch Lehrer, Professoren und Ärzte „eine Arbeit geleistet, für die sie sich nicht zu schämen brauchen“7. Auch Charles-Robert Ageron bemüht sich um eine Dekonstruktion des „irrigen Mythos der Kolonialausstellung von 1931, Erinnerungsort der Republik und Höhepunkt der republikanischen Kolonialideologie. Vergesslichkeit, Ignoranz, Nostalgie, in einigen Fällen sogar politisches Kalkül haben dieser Fabel nach und nach Glaubwürdigkeit verliehen.“8 Demnach wäre die Pflicht zur Erinnerung, die man uns auferlegt, lediglich die Kehrseite der Zelebrierung jenes kolonialen Gedenkens, das ausschließlich die angeblichen Wohltaten der französischen Expansion herausstreicht. Die daraus abgeleitete Moral ist keinen Deut besser.

Nach der außenpolitischen Expansion wird der innere Kolonialismus aufs Korn genommen. Vor allem seit der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution gibt es eine Tendenz, im Namen der Erinnerung an unterdrückte regionale Minderheiten einen bestimmten republikanischen Jakobinismus zu geißeln; einige Historiker wie Pierre Chaunu sprechen sogar, wenn auch gewollt provokativ, vom „Genozid“ an der Bevölkerung der Vendée durch die Republik: „Ein schriftlicher von Hitler unterzeichneter Befehl zur Judenvernichtung ist nie aufgetaucht, im Falle der Vendée besitzen wir aber die Anordnungen von Barère und Carnot“.9

Manche bemühen sich auch, die Erinnerung an die Republik zu diskreditieren, indem sie das republikanische Erbe auf einen militanten Jakobinismus verkürzen, wie er von einigen unverbesserlichen Nostalgikern verteidigt wird – Überlebenden eines ranzig gewordenen Frankreich oder, wie Philippe Sollers es ausdrückt, einer France moisie (eines schimmeligen Frankreich). Dieses alte Frankreich klammere sich an eine verwerfliche Erinnerung. Wie kann man es „im Zeitalter des Internets“ (ein unschlagbares Argument) noch wagen, sich mit der Verteidigung von Begriffen wie „Nation“, „Republik“, „öffentliche Schule“ lächerlich zu machen? Wie es wagen, Körperschaften grosso modo als potenzielle, dem Gleichheitsprinzip zuwiderlaufende Pfründen zu verdächtigen?

Moral lässt sich nicht auf eine eindeutige Erinnerung gründen. Die historische Aufarbeitung zerstört nämlich die Idee von der Eindeutigkeit der Fakten; wenn sich die Erinnerung nicht mit Nuancen belasten will, leidet die Geschichte. Dass das ritualisierte Gedenken zur Vereinfachung neigt, ist ein Plädoyer für die historische Arbeit. Bereits 1865 nahm Edgar Quinet sich vor, „den Geist kritischer Überprüfung an die Geschichte der Revolution heranzutragen, denn viele wollen aus ihr ein Buch mit sieben Siegeln machen, an das man nicht rühren darf“10 . Heute mag man zwar versucht sein, die Geschichte in den Dienst der Erinnerungskultur zu stellen, aber bereits dem Autor von „La Révolution“ (Quinet) war daran gelegen, die Geschichte etwas weniger im Stile einer Gedenkfeier zu präsentieren und die historische Arbeit kritisch zu fundieren. Historische Forschung muss entmythifizieren, entmystifizieren. Im Vergleich zum „religiösen“ Charakter der Erinnerungspflicht muss ihre Aufgabe in der „Verweltlichung“ der Erinnerung liegen, darin, der gemeinsamen Vergangenheit all ihre Relativität zurückzuerstatten.

Solange nicht verstanden wird, dass die kontextuelle Einbettung und kritische Hinterfragung historischer Ereignisse nicht bedeutet, ihre womöglich tragische Dimension zu schmälern, wird man die Pflicht zur Erinnerung unbeirrbar einklagen – auf Kosten einer schwierigen, unermüdlichen und schrittweisen Suche nach Wahrheit. Verstehen bedeutet nicht Rechtfertigen. Jean-Noël Jeanneney meint, es sei „Sache der Historiker, die [politisch] Handelnden gegen die Faszination von Wiederholungen zu feien, indem man sie daran erinnert, dass nichts auf gleiche Weise zweimal beginnt und alles immer einen neuen Verlauf nimmt.“11 Das heißt freilich nicht, dass man aus dem Studium der Geschichte nichts lernen könnte, und sei es ein Instrumentarium gewinnen zur annäherungsweisen Entzifferung der Komplexität der Welt.

dt. Christian Hansen

* Historiker

Fußnoten: 1 Serge Bernstein, „La Republique sur le fil“, Paris (Textuel) 1998. 2 Mona Ozouf, „Le passé recomposé“, entretien avec Jean-François Chanet, in: Magazine littéraire, Nr. 307, Februar 1993. 3 Jean-Noël Jeanneney, „La République a besoin d’Histoire“, Paris (Seuil) 2000. 4 Paul Ricoeur, „La mémoire heureuse“, in: Notre Histoire, September 2000. 5 Henry Rousso, „La hantise du passé“, Paris (Textuel) 1998. Vgl. auch Eric Conan und Henry Rousso, „Vichy, un passé qui ne passe pas“, Paris (Gallimard) 1996. 6 Neben der Wiederveröffentlichung der Artikel von Pierre Vidal-Naquet vgl. auch die Veröffentlichung einiger Briefe von Hubert Beuve-Méry an Robert Lacoste, Ministerpräsident in Algerien, Le Monde, 21. Mai 2001. 7 Marc Ferro, „La République a trahi ses valeurs“, in: Les Collections de l’Histoire, Nr. 11, April 2000. 8 Charles-Robert Ageron, „L’Exposition coloniale de 1931, mythe républicain ou mythe impériale?“, in: Pierre Nora (Hg.), „Les lieux de mémoire“, Paris (Gallimard) 1997. 9 La Croix, 29. Juni 1986. 10 Brief an Edmond de Pressensé vom 23. November 1865, zitiert nach Henri Cordey, „Edmond de Pressensé et son temps (1824–1891)“, Paris (Georges Bridel & Cie éd.) o. J. 11 Jean-Noël Jeanneney, a. a. O., S. 235 f.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von SAMUEL TOMEI